"Die Vermessung der Welt", jetzt verfilmt: Warum die Größe eines Alexander von Humboldt und eines Carl Friedrich Gauß schon im Roman nicht recht darstellbar ist - und erst recht nicht im Kino.
Es musste etwas passieren. Seit Jahren geht es steil bergab mit dem deutschen Vorsprung durch Technik. Während asiatische Tigermütter ihre Kinder in Mathematik und Wissenschaft zu immer neuen Höchstleistungen drillen, schreiben ihre deutschen Altersgenossen Liebesbriefe an Justin Bieber oder verfetten vor ihren Spielekonsolen. Schon heute soll ein Drittel der Deutschen nicht mehr wissen, was '40 Prozent' bedeutet: Ein Viertel vielleicht? Oder doch bloß jeder Vierzigste?
So kann es jedenfalls nicht mehr weitergehen. Doch zum Glück naht Rettung, und zwar von höchster Stelle. Ein mehrfach mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichneter Regisseur macht Mathematik und Wissenschaft jetzt endlich wieder sexy. Dafür hat er sich eines deutschen Weltbestsellers angenommen, der sich um zwei große Deutsche dreht, einen Mathematiker und einen Naturforscher. Alles spielt zu Zeiten, in denen auch hierzulande noch 'chinesische Verhältnisse' herrschten: Damals war alles rauer, brutaler und dreckiger, dafür ging es aber ordentlich voran.
Die Rede ist von Detlev Buck, der Daniel Kehlmanns Erfolgsroman 'Die Vermessung der Welt' verfilmt hat: die Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts spielende Doppelbiografie des Mathematikers Carl Friedrich Gauß und des Naturforschers Alexander von Humboldt. An einem der Höhepunkte des Films sieht man den jungen Gauß (Florian David Fitz) auf einen Balkon klettern und eine hübsche junge Frau (Vicky Krieps) verführen, indem er ihr seine Zahlentheorie erklärt. Am Beispiel einer Wäscheleine! In 3-D!
Reise ins 19. Jahrhundert: "Die Vermessung der Welt" im Kino.
Den tieferen Zusammenhang zwischen Disquisitiones Arithmeticae und Sexualerfolg bleibt der Film allerdings schuldig. Sagen wir, man begegnet in einer schummrigen Bar der Frau seiner Träume. Sollte man dann eher Kettenbrüche oder die Geschlechter quadratischer Formen diskutieren? Man erfährt es nicht. Und genau das ist das zentrale Problem von 'Die Vermessung der Welt'.
Es ist nämlich durchaus nett, Gauß als Kind in der Schulstube, als Landvermesser im Dreck oder mit einer Geliebten im Bett zu sehen, auch wenn die 3-D-Effekte dabei seltsam keusch bleiben. Noch unterhaltsamer ist es, mit Humboldt (Albrecht Abraham Schuch) auf seine amerikanische Forschungsreise zu gehen, gemeinsam Berge zu besteigen, im Urwald durch tiefen Schlamm zu rutschen, Kopfläuse zu zählen und dem französischen Assistenten das Schmusen mit barbusigen Eingeborenen zu verbieten.
Dass Humboldts preußische Zwangsneurose, ständig alles ordnen, vermessen und sammeln zu müssen, ein bisschen überzeichnet ist - geschenkt, der Mann ist eben eine Allegorie. Genau wie Gauß, der mitten in seiner Hochzeitsnacht aus dem Bett springt, um eine wichtige Formel zu notieren. Der eine ist eben ein Weltreisender, der andere ein Stubenhocker, aber ob im Dschungel oder im Fieber, im Dreck oder im Bordell, immer haben beide nur das eine im Kopf: den Erkenntnisfortschritt.
Und das ist ja tatsächlich verblüffend. Oder wäre zumindest verblüffend, wenn die beiden nicht hauptsächlich als Trottel vorgeführt würden. Humboldt als humorloser Klemmi, der die Welt immer nur durch ein Geodreieck betrachtet und dabei das Wichtigste übersieht. Und der alte Gauß als arroganter Choleriker, der ständig einschläft.
Das mag so gewesen sein oder auch nicht. Der historische Humboldt soll jedenfalls fließend Spanisch gesprochen und großes diplomatisches Geschick gezeigt haben, als er den spanischen Hof dazu brachte, ihm für seine Kolonien weitreichende Forscher-Privilegien zu geben. Bei dem unsensiblen Lächerling aus dem Film kann man sich das eher nicht vorstellen. Aber vielleicht waren damals ja auch alle Aristokraten so debil wie der bei Buck karikierte Herzog von Braunschweig.
Die Leistungen, die Gauß und Humboldt allerdings tatsächlich zu großen Menschen gemacht haben - ihre Messungen und Berechnungen, und mehr noch die Formeln und Beweise - haben allerdings das Problem, dass sie sich leider kaum als Anekdoten kolportieren lassen, auch wenn das manchmal kurz versucht wird. Die radikale Abstraktion ist weder unterhaltungsromanfähig noch verspielfilmbar. Schon Kehlmann brachte einen darum immer wieder in die etwas peinliche Lage, süffisant über Nebensachen zu spotten. Denn verblüffend ist ja nicht, wie in einer zentralen Szene behauptet, dass auch ein Immanuel Kant senil wird - verblüffend ist eher, dass einer, der genauso kurz vor der Senilität steht wie alle anderen, vorher noch die 'Kritik der reinen Vernunft' schreibt.
Warum also die ganze Trottelei? Die angeblich so feine Ironie, die immer wieder unfeiner Spott wird? Sind Kehlmann und Buck am Ende bloß Tauben, die neidisch gurrend auf zwei Bronzestandbilder kacken? Nein. Eher geht es hier um eine grundsätzliche Differenz: Sex und Arithmetik, Mathematik und Justin Bieber, Wissenschaft und Daniel Kehlmann können einander zwar beschreiben - aber eben nie wirklich verstehen. Zwar lassen sich Fortpflanzungswahrscheinlichkeiten berechnen, aber beides zugleich - Mathematik treiben und dabei Orgasmen haben -, das wäre nun wirklich eine interessante Perversion.
Romanautoren und Spielfilmregisseure, die ihren Job nicht an den Nagel hängen und Wissenschaftler werden wollen, sind also dazu verdammt, die Vermessung der Welt am Sonntag zu beschreiben: Das Drumherum der Erkenntnis, die Liebschaften und Abenteuer, Feiertage und Feierabende. Alles eben außer der Erkenntnis selbst, die am elegantesten als reine, nicht illustrierte Formel dasteht.
Werden sie nicht von ihren Mathelehrern gezwungen, entscheiden sich die meisten Schüler an der Kinokasse dann aber doch lieber für Justin Bieber.
Die Vermessung der Welt, D/Österreich 2012 - Regie: Detlev Buck. Buch: Detlev Buck, Daniel Kehlmann, Daniel Nocke. Kamera: Slawomir Idziak. Schnitt: Dirk Grau. Musik: Enis Rotthoff. Mit Florian David Fitz, Albrecht Schuch, Vicky Krieps, Katharina Thalbach. Verleih: Warner, 123 Minuten.
Es musste etwas passieren. Seit Jahren geht es steil bergab mit dem deutschen Vorsprung durch Technik. Während asiatische Tigermütter ihre Kinder in Mathematik und Wissenschaft zu immer neuen Höchstleistungen drillen, schreiben ihre deutschen Altersgenossen Liebesbriefe an Justin Bieber oder verfetten vor ihren Spielekonsolen. Schon heute soll ein Drittel der Deutschen nicht mehr wissen, was '40 Prozent' bedeutet: Ein Viertel vielleicht? Oder doch bloß jeder Vierzigste?
So kann es jedenfalls nicht mehr weitergehen. Doch zum Glück naht Rettung, und zwar von höchster Stelle. Ein mehrfach mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichneter Regisseur macht Mathematik und Wissenschaft jetzt endlich wieder sexy. Dafür hat er sich eines deutschen Weltbestsellers angenommen, der sich um zwei große Deutsche dreht, einen Mathematiker und einen Naturforscher. Alles spielt zu Zeiten, in denen auch hierzulande noch 'chinesische Verhältnisse' herrschten: Damals war alles rauer, brutaler und dreckiger, dafür ging es aber ordentlich voran.
Die Rede ist von Detlev Buck, der Daniel Kehlmanns Erfolgsroman 'Die Vermessung der Welt' verfilmt hat: die Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts spielende Doppelbiografie des Mathematikers Carl Friedrich Gauß und des Naturforschers Alexander von Humboldt. An einem der Höhepunkte des Films sieht man den jungen Gauß (Florian David Fitz) auf einen Balkon klettern und eine hübsche junge Frau (Vicky Krieps) verführen, indem er ihr seine Zahlentheorie erklärt. Am Beispiel einer Wäscheleine! In 3-D!
Reise ins 19. Jahrhundert: "Die Vermessung der Welt" im Kino.
Den tieferen Zusammenhang zwischen Disquisitiones Arithmeticae und Sexualerfolg bleibt der Film allerdings schuldig. Sagen wir, man begegnet in einer schummrigen Bar der Frau seiner Träume. Sollte man dann eher Kettenbrüche oder die Geschlechter quadratischer Formen diskutieren? Man erfährt es nicht. Und genau das ist das zentrale Problem von 'Die Vermessung der Welt'.
Es ist nämlich durchaus nett, Gauß als Kind in der Schulstube, als Landvermesser im Dreck oder mit einer Geliebten im Bett zu sehen, auch wenn die 3-D-Effekte dabei seltsam keusch bleiben. Noch unterhaltsamer ist es, mit Humboldt (Albrecht Abraham Schuch) auf seine amerikanische Forschungsreise zu gehen, gemeinsam Berge zu besteigen, im Urwald durch tiefen Schlamm zu rutschen, Kopfläuse zu zählen und dem französischen Assistenten das Schmusen mit barbusigen Eingeborenen zu verbieten.
Dass Humboldts preußische Zwangsneurose, ständig alles ordnen, vermessen und sammeln zu müssen, ein bisschen überzeichnet ist - geschenkt, der Mann ist eben eine Allegorie. Genau wie Gauß, der mitten in seiner Hochzeitsnacht aus dem Bett springt, um eine wichtige Formel zu notieren. Der eine ist eben ein Weltreisender, der andere ein Stubenhocker, aber ob im Dschungel oder im Fieber, im Dreck oder im Bordell, immer haben beide nur das eine im Kopf: den Erkenntnisfortschritt.
Und das ist ja tatsächlich verblüffend. Oder wäre zumindest verblüffend, wenn die beiden nicht hauptsächlich als Trottel vorgeführt würden. Humboldt als humorloser Klemmi, der die Welt immer nur durch ein Geodreieck betrachtet und dabei das Wichtigste übersieht. Und der alte Gauß als arroganter Choleriker, der ständig einschläft.
Das mag so gewesen sein oder auch nicht. Der historische Humboldt soll jedenfalls fließend Spanisch gesprochen und großes diplomatisches Geschick gezeigt haben, als er den spanischen Hof dazu brachte, ihm für seine Kolonien weitreichende Forscher-Privilegien zu geben. Bei dem unsensiblen Lächerling aus dem Film kann man sich das eher nicht vorstellen. Aber vielleicht waren damals ja auch alle Aristokraten so debil wie der bei Buck karikierte Herzog von Braunschweig.
Die Leistungen, die Gauß und Humboldt allerdings tatsächlich zu großen Menschen gemacht haben - ihre Messungen und Berechnungen, und mehr noch die Formeln und Beweise - haben allerdings das Problem, dass sie sich leider kaum als Anekdoten kolportieren lassen, auch wenn das manchmal kurz versucht wird. Die radikale Abstraktion ist weder unterhaltungsromanfähig noch verspielfilmbar. Schon Kehlmann brachte einen darum immer wieder in die etwas peinliche Lage, süffisant über Nebensachen zu spotten. Denn verblüffend ist ja nicht, wie in einer zentralen Szene behauptet, dass auch ein Immanuel Kant senil wird - verblüffend ist eher, dass einer, der genauso kurz vor der Senilität steht wie alle anderen, vorher noch die 'Kritik der reinen Vernunft' schreibt.
Warum also die ganze Trottelei? Die angeblich so feine Ironie, die immer wieder unfeiner Spott wird? Sind Kehlmann und Buck am Ende bloß Tauben, die neidisch gurrend auf zwei Bronzestandbilder kacken? Nein. Eher geht es hier um eine grundsätzliche Differenz: Sex und Arithmetik, Mathematik und Justin Bieber, Wissenschaft und Daniel Kehlmann können einander zwar beschreiben - aber eben nie wirklich verstehen. Zwar lassen sich Fortpflanzungswahrscheinlichkeiten berechnen, aber beides zugleich - Mathematik treiben und dabei Orgasmen haben -, das wäre nun wirklich eine interessante Perversion.
Romanautoren und Spielfilmregisseure, die ihren Job nicht an den Nagel hängen und Wissenschaftler werden wollen, sind also dazu verdammt, die Vermessung der Welt am Sonntag zu beschreiben: Das Drumherum der Erkenntnis, die Liebschaften und Abenteuer, Feiertage und Feierabende. Alles eben außer der Erkenntnis selbst, die am elegantesten als reine, nicht illustrierte Formel dasteht.
Werden sie nicht von ihren Mathelehrern gezwungen, entscheiden sich die meisten Schüler an der Kinokasse dann aber doch lieber für Justin Bieber.
Die Vermessung der Welt, D/Österreich 2012 - Regie: Detlev Buck. Buch: Detlev Buck, Daniel Kehlmann, Daniel Nocke. Kamera: Slawomir Idziak. Schnitt: Dirk Grau. Musik: Enis Rotthoff. Mit Florian David Fitz, Albrecht Schuch, Vicky Krieps, Katharina Thalbach. Verleih: Warner, 123 Minuten.