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Tunesien steuert auf politisches Chaos zu

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Die Arbeit an der Verfassung stockt, Neuwahlen stehen infrage. Auf der Straße aber verschärft sich die Konfrontation

In Tunesien verschärft sich die Auseinandersetzung zwischen der von Islamisten geführten Regierung und der Opposition, die aus laizistischen und linken Gruppen sowie verdeckten Anhängern des gestürzten Diktators Zine el-Abidine Ben Ali besteht. Das Land nähert sich einem politischen Chaos. Der Vorsitzende der Verfassunggebenden Versammlung, Mustafa Ben Jaafar, setzte die Arbeit des Gremiums am Dienstag aus, bis ein Dialog zwischen den verfeindeten Kräften beginnt - obgleich seine Ettakatol-Partei zur Regierungskoalition gehört. Premier Ali Larayedh hatte von der Versammlung verlangt, den Verfassungsentwurf bis Oktober fertigzustellen; im Dezember sollte es dann Neuwahlen geben. Dieser Zeitplan steht infrage, wenn die Versammlung nicht weiter tagt. Etwa 70 oppositionelle Abgeordnete hatten sie bereits vorher boykottiert.



Zehntausende Menschen protestieren in Tunis gegen die Regierung.

Auch auf den Straßen hat sich die Konfrontation verschärft. Am Dienstagabend hatte die Opposition die bisher größte Protestversammlung seit Beginn der Krise organisiert. Sie forderte erneut den Rücktritt der Regierung. "Noch heute wird die Regierung stürzen", riefen die Demonstranten. Zugleich verlangten sie sofortige Neuwahlen und die Auflösung der Verfassungsversammlung, deren Mandat bereits vor acht Monaten abgelaufen sei. Die Schätzungen über die Zahl der Teilnehmer schwanken zwischen 40 000 und 120 000.

Zur Opposition gehören die Volksfront (Jibhat Shaabia), ein Bündnis von zehn linken und national-arabischen Formationen, sowie die größere Nida Tounes (Der Ruf Tunesiens), die der nach der Revolution eingesetzte Übergangspremier Béji Caïd Essebsi vor gut einem Jahr lanciert hatte. Sie besteht aus linken, bürgerlichen und laizistischen Kräften, aber auch aus Anhängern des alten Regimes. Eine ihrer Stärken ist der Fernsehkanal El-Hiwar Ettounsi, der dem jetzigen Chef der Nida, Taher Ben Hassine, gehört. Andere wichtige Medien wie Nessma TV, Shems FM und die Zeitung al-Maghreb stehen gleichfalls auf Seiten der Opposition. Auch der Gewerkschafsbund CGTT mit seinen etwa 600 000 Mitgliedern unterstützt sie.

Alle diese Forderungen, besonders der Rücktritt der Regierung, weist die führende Islamisten-Partei Ennahda kategorisch ab. Sie hatte am Samstag 400000 ihrer Anhänger in Tunis mobilisiert, um zu demonstrieren, dass die Opposition nicht allein für "das Volk" spreche, wie sie regelmäßig für sich beanspruche. Ennahda-Führer Rachid Ghannouchi sagte dabei, die Verfassungsversammlung und der Premierminister seien "rote Linien, die man nicht anrühren darf". Die Opposition habe das Recht, eine Änderung zu verlangen, aber sie müsse "durch das große Tor der Wahlen" gehen, nicht auf die Straße.

In der Zeitung La Presse widersprach Ghannouchi der Anschuldigung, die Regierung sei zu nachsichtig gegen radikale Islamisten. "In den Gefängnissen sitzen 500 bis 600 Terrorverdächtige", behauptete er, ohne Einzelheiten zu nennen. Am Wochenende hatten Sicherheitskräfte ein Haus in Ouardia gestürmt, einem Vorort von Tunis. Dabei wurden fünf "Terroristen" gefangen und ein Mann erschossen. In den Bergen im Grenzgebiet zu Algerien, wo Rebellen im Juli acht tunesische Soldaten getötet hatten, setzt die Armee neuerdings auch Flugzeuge ein, um eine salafistische Kampfgruppe zu eliminieren, die dort seit Monaten operiert. Gleichzeitig zirkuliert ein Video, auf dem zu sehen ist, wie die Rebellen von unbekannter Seite neue Waffen erhalten.

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