Trip von Israel nach Warschau: Rutu Modans Graphic Novel "Das Erbe"
Ja, auch in Israel gibt es eine Comic-Szene. Sie ist klein, aber aufregend. An erster Stelle stand lange "Actus Tragicus", eine Gruppe von drei Zeichnerinnen und zwei Zeichnern, die 1995 zusammenkam und sich 2010 auflöste. In dem deutsch-schweizerischen Comic-Magazin Strapazin sind einige ihrer kurzen Arbeiten veröffentlicht worden. Zu den "Actus"-Mitgliedern zählte auch Rutu Modan. Im Jahr 2006 erschien ihre vorzügliche Graphic Novel "Blutspuren", in der ein junger Taxifahrer sich auf die Suche nach seinem unsteten, schürzenjägerischen Vater macht, der angeblich bei einem palästinensischen Selbstmordanschlag ums Leben gekommen ist.
Rutu Modans Graphic Novel "Das Erbe"
In "Das Erbe" reist nun Mika, eine junge Frau, mit Regina, ihrer fast 90-jährigen Großmutter, nach Warschau. Hier ist Regina in behüteten Verhältnissen aufgewachsen, bevor sie noch vor dem Krieg nach Israel auswanderte und nie mehr zurückkehrte. Allerdings verfügt sie über ein Dokument, das sie als rechtmäßige Eigentümerin der schönen Wohnung ausweist, die ihre Eltern in der Zeit der Verfolgung verloren haben. Diesen Besitz will Regina, bevor sie stirbt, einklagen. So scheint es zumindest: Denn nach und nach begreift Mika, dass die alte Dame mit dem Trip nach Polen noch ganz andere, sorgfältig verborgene Ziele verfolgt.
Wie "Blutspuren" dreht sich "Das Erbe" um ein Familiengeheimnis, genauer gesagt, um die auch für ein längst erwachsenes Kind schockierende Erfahrung, dass Liebe und Sexualität für Eltern und Großeltern genauso ein Thema sein können wie für die jungen Nachgeborenen. Anders als in der vorherigen Graphic Novel greift Rutu Modan hier aber überwiegend zu den Mitteln der Komödie. Regina ist die jüdische Version der komischen Alten, eine Über-Oma von großem Charme und damenhafter Würde, zugleich aber dominant, zickig und stur bis zum Anschlag.
Schon ihr erster Auftritt am Flughafen von Tel Aviv macht das klar: Weil sie die Flasche Wasser, die sie mitschleppt, nicht an Bord nehmen darf, zettelt Regina einen Riesenaufstand an; dass sie alle anderen Reisenden damit aufhält, ist ihr herzlich egal. Klamaukig ist "Das Erbe" dennoch nicht; die komischen Effekte gehen nicht auf Kosten einer differenzierten Konstruktion der Figuren. Hierzu tragen auch die Zeichnungen Modans bei, die stark der Ligne claire verpflichtet sind, diese oft aber realistischer auslegen, als es bei Hergé und seinen Nachfolgern der Fall ist.
Überaus anrührend ist es etwa, wenn Regina sich für einen wichtigen Ausflug in die Stadt herrichtet, mit Schminke, Ohrringen, einer feinen Bluse - und wenn sie dann vor dem Spiegel traurig, zweifelnd das Ergebnis betrachtet: Sie ist eben nicht mehr die junge Frau, die sie in diesem Moment so gerne wieder wäre.
Sehr geschickt verbindet Modan zudem die individuellen Schicksale mit der Zeitgeschichte. Auch hier verschränken sich Komik und Ernst in durchaus waghalsiger Weise. Da bemerkt ein Lehrer, der neben Regina im Flugzeug sitzt, nahezu kennerisch: "Majdanek steckt Auschwitz in die Tasche. Ist viel grausiger." Und in Warschau begegnet Mika einer aufgedrehten Dame, die Touren veranstaltet, auf denen junge Touristen aus aller Welt sich einen gelben Stern anstecken und von als Nazis verkleideten Polen auf Lkws "deportieren" lassen: Irgendwie muss man die Event-Generation ja erreichen!
Der Titel dieser ebenso amüsanten wie klugen und feinfühligen Graphic Novel erweist sich somit als doppeldeutig: Das Erbe, um das es hier geht, das sind auch die Geschichte der europäischen Juden und der Holocaust - und die Frage, wie heute in angemessener Weise an beides zu erinnern ist.
Rutu Modan (Text und Zeichnungen): Das Erbe. Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. Carlsen Verlag, Hamburg 2013. 224 Seiten, 24,90 Euro.
Ja, auch in Israel gibt es eine Comic-Szene. Sie ist klein, aber aufregend. An erster Stelle stand lange "Actus Tragicus", eine Gruppe von drei Zeichnerinnen und zwei Zeichnern, die 1995 zusammenkam und sich 2010 auflöste. In dem deutsch-schweizerischen Comic-Magazin Strapazin sind einige ihrer kurzen Arbeiten veröffentlicht worden. Zu den "Actus"-Mitgliedern zählte auch Rutu Modan. Im Jahr 2006 erschien ihre vorzügliche Graphic Novel "Blutspuren", in der ein junger Taxifahrer sich auf die Suche nach seinem unsteten, schürzenjägerischen Vater macht, der angeblich bei einem palästinensischen Selbstmordanschlag ums Leben gekommen ist.
Rutu Modans Graphic Novel "Das Erbe"
In "Das Erbe" reist nun Mika, eine junge Frau, mit Regina, ihrer fast 90-jährigen Großmutter, nach Warschau. Hier ist Regina in behüteten Verhältnissen aufgewachsen, bevor sie noch vor dem Krieg nach Israel auswanderte und nie mehr zurückkehrte. Allerdings verfügt sie über ein Dokument, das sie als rechtmäßige Eigentümerin der schönen Wohnung ausweist, die ihre Eltern in der Zeit der Verfolgung verloren haben. Diesen Besitz will Regina, bevor sie stirbt, einklagen. So scheint es zumindest: Denn nach und nach begreift Mika, dass die alte Dame mit dem Trip nach Polen noch ganz andere, sorgfältig verborgene Ziele verfolgt.
Wie "Blutspuren" dreht sich "Das Erbe" um ein Familiengeheimnis, genauer gesagt, um die auch für ein längst erwachsenes Kind schockierende Erfahrung, dass Liebe und Sexualität für Eltern und Großeltern genauso ein Thema sein können wie für die jungen Nachgeborenen. Anders als in der vorherigen Graphic Novel greift Rutu Modan hier aber überwiegend zu den Mitteln der Komödie. Regina ist die jüdische Version der komischen Alten, eine Über-Oma von großem Charme und damenhafter Würde, zugleich aber dominant, zickig und stur bis zum Anschlag.
Schon ihr erster Auftritt am Flughafen von Tel Aviv macht das klar: Weil sie die Flasche Wasser, die sie mitschleppt, nicht an Bord nehmen darf, zettelt Regina einen Riesenaufstand an; dass sie alle anderen Reisenden damit aufhält, ist ihr herzlich egal. Klamaukig ist "Das Erbe" dennoch nicht; die komischen Effekte gehen nicht auf Kosten einer differenzierten Konstruktion der Figuren. Hierzu tragen auch die Zeichnungen Modans bei, die stark der Ligne claire verpflichtet sind, diese oft aber realistischer auslegen, als es bei Hergé und seinen Nachfolgern der Fall ist.
Überaus anrührend ist es etwa, wenn Regina sich für einen wichtigen Ausflug in die Stadt herrichtet, mit Schminke, Ohrringen, einer feinen Bluse - und wenn sie dann vor dem Spiegel traurig, zweifelnd das Ergebnis betrachtet: Sie ist eben nicht mehr die junge Frau, die sie in diesem Moment so gerne wieder wäre.
Sehr geschickt verbindet Modan zudem die individuellen Schicksale mit der Zeitgeschichte. Auch hier verschränken sich Komik und Ernst in durchaus waghalsiger Weise. Da bemerkt ein Lehrer, der neben Regina im Flugzeug sitzt, nahezu kennerisch: "Majdanek steckt Auschwitz in die Tasche. Ist viel grausiger." Und in Warschau begegnet Mika einer aufgedrehten Dame, die Touren veranstaltet, auf denen junge Touristen aus aller Welt sich einen gelben Stern anstecken und von als Nazis verkleideten Polen auf Lkws "deportieren" lassen: Irgendwie muss man die Event-Generation ja erreichen!
Der Titel dieser ebenso amüsanten wie klugen und feinfühligen Graphic Novel erweist sich somit als doppeldeutig: Das Erbe, um das es hier geht, das sind auch die Geschichte der europäischen Juden und der Holocaust - und die Frage, wie heute in angemessener Weise an beides zu erinnern ist.
Rutu Modan (Text und Zeichnungen): Das Erbe. Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. Carlsen Verlag, Hamburg 2013. 224 Seiten, 24,90 Euro.