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Therapeutisches Großreinemachen

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Das Rap-Wunderkind Thebe Neruda Kgositsile meldet sich mit seinem Album "Doris" fulminant zurück

Thebe Neruda Kgositsile war schon einmal ein Star, vor drei Jahren. Er hatte gerade ein Musikvideo veröffentlicht, an dessen Beginn er sich einen abenteuerlichen Medikamentencocktail einschenkt und an dessen Ende er zwei Zähne ausspuckt. In den zwei Minuten dazwischen provoziert er mit kindischen Vergewaltigungsphantasien und fährt mit seinen Freunden so irre Skateboard, dass alle irgendwann irgendwo bluten. Mehr als zwölf Millionen Mal wurde das Video auf Youtube aufgerufen. Die dazugehörige Musik, veröffentlicht über die Plattformen Myspace und Tumblr, war ähnlich populär, voll von scheinbar sinnloser Gewalt und technischer Brillanz.



Ruhm Dank Youtube und Co. : Der Rapper Kgositsile aka Earl Sweatshirt

Earl Sweatshirt, wie sich Kgositsile als Künstler nannte, war der erste Rap-Held, der seinen Ruhm ganz dem Internet verdankte. Er inspirierte alte Meister wie Eminem und prägte eine komplett neue Generation von Fans. Honoratioren wie Jay Z und Diddy bereiteten schon die Vertragsunterlagen für ihre jeweiligen Labels vor, wie aufgescheuchte Verwalter von Risikokapital auf einem Start-up-Kongress: Bloß nicht derjenige sein, der verpasst, was die sogenannten Kids so bewegt!

Doch dann verschwand Kgositsile quasi über Nacht von der Bildfläche. Seine Freunde aus dem Musikvideo, die sich als Gruppe Odd Future nannten, gewannen Grammys und Nachahmer auf der ganzen Welt, der Guardian nannte sie "die berüchtigtste Rap-Crew der Welt". Earl Sweatshirt blieb ein Mysterium. Mehr noch: Er wurde zu einer gigantischen Projektionsfläche für Sehnsüchte und Theorien über eine insgesamt ziemlich kaputte Generation, gefangen zwischen Privatschule und Paranoia, Druck und Drogen, einer viel zu kurzen Kindheit und einem Erwachsenengefühl, das sich einfach nicht einstellen mag.

Nun ist er zurück - und tatsächlich so etwas wie erwachsen. Auf seinem dieser Tage erscheinenden Album "Doris", seinem ersten für eine große Plattenfirma, stellt er sich seinem Leben. Vor allem aber stellt er sich dem, was Fans und Kritiker mit jeweils großem Eifer daraus machten. "Doris" klingt reif und reflektiert, auf irritierende Weise selbstsicher und getrieben von Selbstzweifeln zugleich. Schließlich ist Earl Sweatshirt mittlerweile schon unfassbare 19 Jahre alt.

Wer Sweatshirt verstehen will, muss Odd Future kennen, jenen Verbund von Freunden aus der seltsam indifferenten Vororthölle von Los Angeles, der damals so gelobt wurde: als das Faszinierendste, Radikalste, mithin Wichtigste, was die etwas behäbige Ex-Jugendkultur Hip-Hop derzeit zu bieten hat. Odd Future ist mehr loses Künstlerkollektiv als Band, und doch hat jedes Mitglied eine klare Identität. Earl Sweatshirt nimmt in dem Gefüge die Rolle des hochbegabten Problemkindes ein. Und die ist nicht gespielt. Nach seinem vermeintlichen Verschwinden im Jahr 2011 orteten ihn Journalisten auf einem Internat für Schwererziehbare auf Samoa. Seine Mutter, eine studierte Juristin, fand, ein bisschen Ruhe tue dem Jungen ganz gut.

Sweatshirt verarbeitete die Geschehnisse in dem Stück "Chum", das auf "Doris" den Schlüsselmoment markiert. Darauf erklärt er, keineswegs gegen seinen Willen auf Samoa festgehalten worden zu sein, und stellt sich entschieden gegen die Lesart als ultimativer Teenie-Rebell. Auch auf seinen Vater, den südafrikanischen Schriftsteller und Friedensaktivisten Keorapetse Kgositsile, scheint er keinen Groll zu hegen. Der sei zwar nie für ihn da gewesen, aber eigentlich habe er ihn auch nie gehasst, sondern stets nur wahnsinnig vermisst. Überhaupt hat "Doris", bei aller immer noch vorhandenen Schrille und Selbstironie, den Charakter eines therapeutischen Großreinemachens. Es geht um Sweatshirts kranke Großmutter, sein verzerrtes Beziehungsbild und immer wieder um die Versagensängste eines Quasi-Promis, der nie die Chance hatte, sich der Welt vorzustellen, weil ihn sich die Welt in seiner Abwesenheit genau so vorstellte, wie sie das für richtig hielt.

Dem zuzuhören, ist nicht immer angenehm. Earl Sweatshirts Stimme ist tief, aber nicht bauchig, eher so, dass einem seine Worte schwer im Magen liegen bleiben - und sich dort im Takt der störrischen, quälend langsamen Beats wieder und wieder schmerzhaft umdrehen. In manchen Momenten ist "Doris" auch einfach nur wahnsinnig albern. Seiner Rap-Doktrin jedenfalls bleibt Sweatshirt bei alldem treu. In allererster Linie geht es immer noch darum, so viele Binnenreime und Wortverdrehungen in eine Verszeile zu packen wie irgendwie möglich. Die Funktion hat der Form zu folgen, und weil der neue Earl tatsächlich ganz der Alte, also in Topform ist, mag man ihm das nicht übel nehmen.

Auch musikalisch greifen die Räder ineinander. Für das Album hat Earl Sweatshirt unter anderem mit RZA und den Neptunes zusammengearbeitet, beides Helden seiner, nun ja, Jugend. RZA ist der Vordenker des Wu-Tang Clan und als solcher der radikalste Hip-Hop-Produzent der 90er-Jahre, einer produktionstechnischen Ära der obskuren Klangquellen, die die Neptunes wiederum beendeten, indem sie selbst satte Synthiemelodien einspielten und Rap endgültig zu Pop machten. Lange waren diese beiden Welten im Hip-Hop unvereinbare Gegensätze, Sinnbilder für Gut und Böse und dafür, dass es nichts dazwischen geben darf. In der Welt der Odd-Future-Leute sind diese Frontlinien längst verschwommen. Sweatshirt findet sie bestenfalls albern. Seine Inspiration liegt dort, wo historischer Kontext sich permanent neu bildet und schon mit dem nächsten Klick in ADHS-Geschwindigkeit wieder auflöst. So klingt "Doris" manchmal wütend und wild, manchmal auf beklemmende Weise benebelt, als hätten ein paar kalifornische Skate-Kids ihre Sonnenuntergangsfotos mit dem falschen Instagram-Filter bearbeitet.

Earl Sweatshirt hat einmal gerappt: "I"m half-privileged, think white and have nigger lips / A tad different: mad smart, act ignorant." Mit Widersprüchen und zweifelhaften Zwischenwelten kennt er sich aus wie der ihm in vieler Hinsicht so ähnliche - und dennoch grundverschiedene - Eminem. Dem plakativen Pubertätsgestus, zu dem Eminem dieser Tage mit seiner neuen Single "Berzerk" zurückgekehrt ist, scheint Earl mit seinen 19 Jahren entwachsen. Wenn er auf "Doris" die Friedensangebote seiner Mutter mit einem Joint in der Hand und einem Grinsen im Gesicht ausschlägt, dann ist das nicht Trotz, sondern schlicht Unfähigkeit, irgendetwas ernst zu nehmen, sich selbst eingeschlossen. Er ist gewiss nicht stolz darauf, sondern vermutlich einfach nur ehrlich. Stolz ist er auf seine Reime und auf die Erkenntnis, dass das Aufschreiben manchmal wichtiger ist als das Lesen der anderen. Das alleine macht "Doris" zu einem ganz und gar außergewöhnlichen Album.

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