Drei brisante Dokumentationen beim Filmfestival in Venedig gewähren Einblicke und lassen Abgründe erkennen.
Liegt es an der Spätsommerstimmung in der Lagune oder an der Lage des Lido, wo die Cineasten mit den letzten Badegästen allein sind? Jedenfalls ist Venedig unter den großen Filmfestivals das entspannteste. Auch Elend, Gewalt und Sadismus auf der Leinwand ändern daran wenig - gerade im demonstrativen Miserabilismus, der hier gepflegt wird, präsentiert sich das fiktionale Kino doch als sicheres, geschlossenes, weltabgewandtes System.
In diese Stimmung sind nun drei Dokumentarfilme geplatzt, die den Frieden gründlich durcheinanderbringen. Der erste stammt von Alex Gibney, der gerade erst mit einer Wikileaks-Dokumentation Aufsehen erregte. Hier widmet er sich nun dem Phänomen Lance Armstrong. Es war Gibney, von Armstrong ausgewählt, der im Jahr 2009 das Tour-de-France-Comeback des siebenfachen Siegers mit der Kamera begleitete. Dann kamen Doping-Vorwürfe, das Geständnis bei Oprah Winfrey, die Aberkennung aller Titel und die Sperre auf Lebenszeit. "The Armstrong Lie" untersucht nun, unter Mithilfe des Täters, wie diese gigantische Lüge im Herzen des Radsports so lange überleben konnte.
Die Antwort grenzt gerade in ihren Details, die hier sorgsam rekonstruiert werden, an puren Wahnsinn: Einmal täuschte der Champion eine Panne vor, verschwand vor aller Augen im Begleitbus und bekam drinnen eine der verbotenen Bluttransfusionen. Erstaunlich ist nicht nur Armstrongs fast pathologische Kaltschnäuzigkeit. Der Film zeigt ihn auch als meisterhaften Geschichtenerzähler, als Kommunikationsgenie, als Besessenen im Herzen eines Systems, das aber exakt so angelegt war, dass es Gewinner wie ihn produzieren musste.
Weiter geht es mit Errol Morris, dem Altmeister der politischen Dokumentation. Mit seinem patentierten Interview-System, bei dem die Befragten dem Zuschauer am Ende direkt in die Augen sehen, widmet er sich den Pensionären der Weltgeschichte, diesmal ist Donald Rumsfeld dran. "The Unknown Known" heißt der Film, nach einem der philosophischen Sprüche, mit denen sich der US-Verteidigungsminister als Falke im Irak-Krieg profilierte. Hier nun wirkt er aufrichtig, aber nicht einsichtig. Auch wenn er einige Fehler eingesteht. Nach den Folter-Fotos von Abu Ghraib etwa fühlte er sich verantwortlich und wollte zurücktreten, aber Bush ließ ihn nicht. Bezeichnenderweise wurmt Rumsfeld nicht, dass die Folter generell falsch war, dass in seiner Verantwortung Verbotenes und Unmenschliches geschehen ist - sondern dass diese Fotos die Sache des Feindes zu sehr gestärkt haben. Bei allem Unverständnis, das aufblitzt, merkt man, dass Morris seinen Gesprächspartner offenbar für persönlich integer hält. Noch schlagzeilenträchtiger wird es schließlich bei "Ukraina Ne Bordel (Die Ukraine ist kein Bordell)", einer intimen Dokumentation über die Frauen von Femen, die die Welt seit 2008 mit ihren Nacktprotesten in Atem halten. Die 28-jährige australische Filmemacherin Kitty Green war relativ früh mit ihrer Kamera dabei, noch vor der Femen-Reise nach Weißrussland 2011, als die Sache zunehmend gefährlicher wurde. Die schönen, selbstbestimmten, unerschrockenen Amazonen des Feminismus - diese Sichtweise scheint auch Green zunächst mit ihrer Kamera zu feiern, peitscht dazu mit dem Soundtrack die Stimmung auf: "Ra-Ra-Rasputin" grölen Boney M. Dann gibt es sogar Duschszenen mit den Aktivistinnen, schließlich muss die Farbe wieder runter von den Brüsten. Wo soll das hinführen, gerade weil Green sich selbst aller Statements enthält und die Mädchen reden lässt? Es führt geradewegs zu einer wirklich bitteren Wahrheit. Denn nach und nach wird klar, dass all diese Aktivistinnen, die oft erstaunlich naive Statements abgeben, große Angst haben - und zwar vor einem Mann.
Es ist niemand anders als Viktor Swjazkij, der in der Presse bisher gern als "Femen-Berater", manchmal auch als "Ideologe im Hintergrund" auftaucht. Dies wird nach diesem Film nun nicht mehr möglich sein - Green nimmt das offizielle Bild der Gruppe nicht nur auseinander, sie zerstört es komplett.
Denn bald sieht man Filmdokumente, in denen dieser Viktor nicht nur detaillierte Anweisungen für Aktionen gibt, jeden einzelnen Schritt, jedes Statement fast militärisch diktiert. Er brüllt herum, erniedrigt seine Aktivistinnen, beschimpft sie für ihre Feigheit, erinnert sie an die Dollarzahlungen, die sie bekommen haben. Und die Frauen geben schließlich vor der Kamera zu, wie abhängig und verängstigt sie sind, wie absurd die interne Machtstruktur der Gruppe der offiziellen Ideologie widerspricht. Eine verwendet sogar die Worte "Sklavin" und "Stockholm-Syndrom". Es ist erschütternd.
So muss nun alles, was Femen betrifft, völlig neu bewertet werden. Etwa die kürzlich berichtete Flucht von drei Aktivistinnen aus der Ukraine, oder die Nachricht, dass Viktor Swjazkij im Zentrum von Kiew von Unbekannten angegriffen und schwer verletzt worden ist - da haben sich die Gegner gleich den Chef selbst gegriffen. Nur eines darf man nicht vergessen: Wie seltsam verdreht und verlogen dieser Kampf gegen Putin, Lukaschenko und andere Machthaber jetzt auch erscheinen mag - alle Beteiligten riskieren immer noch, ganz wörtlich, ihre Haut dafür.
Liegt es an der Spätsommerstimmung in der Lagune oder an der Lage des Lido, wo die Cineasten mit den letzten Badegästen allein sind? Jedenfalls ist Venedig unter den großen Filmfestivals das entspannteste. Auch Elend, Gewalt und Sadismus auf der Leinwand ändern daran wenig - gerade im demonstrativen Miserabilismus, der hier gepflegt wird, präsentiert sich das fiktionale Kino doch als sicheres, geschlossenes, weltabgewandtes System.
In diese Stimmung sind nun drei Dokumentarfilme geplatzt, die den Frieden gründlich durcheinanderbringen. Der erste stammt von Alex Gibney, der gerade erst mit einer Wikileaks-Dokumentation Aufsehen erregte. Hier widmet er sich nun dem Phänomen Lance Armstrong. Es war Gibney, von Armstrong ausgewählt, der im Jahr 2009 das Tour-de-France-Comeback des siebenfachen Siegers mit der Kamera begleitete. Dann kamen Doping-Vorwürfe, das Geständnis bei Oprah Winfrey, die Aberkennung aller Titel und die Sperre auf Lebenszeit. "The Armstrong Lie" untersucht nun, unter Mithilfe des Täters, wie diese gigantische Lüge im Herzen des Radsports so lange überleben konnte.
Die Antwort grenzt gerade in ihren Details, die hier sorgsam rekonstruiert werden, an puren Wahnsinn: Einmal täuschte der Champion eine Panne vor, verschwand vor aller Augen im Begleitbus und bekam drinnen eine der verbotenen Bluttransfusionen. Erstaunlich ist nicht nur Armstrongs fast pathologische Kaltschnäuzigkeit. Der Film zeigt ihn auch als meisterhaften Geschichtenerzähler, als Kommunikationsgenie, als Besessenen im Herzen eines Systems, das aber exakt so angelegt war, dass es Gewinner wie ihn produzieren musste.
Weiter geht es mit Errol Morris, dem Altmeister der politischen Dokumentation. Mit seinem patentierten Interview-System, bei dem die Befragten dem Zuschauer am Ende direkt in die Augen sehen, widmet er sich den Pensionären der Weltgeschichte, diesmal ist Donald Rumsfeld dran. "The Unknown Known" heißt der Film, nach einem der philosophischen Sprüche, mit denen sich der US-Verteidigungsminister als Falke im Irak-Krieg profilierte. Hier nun wirkt er aufrichtig, aber nicht einsichtig. Auch wenn er einige Fehler eingesteht. Nach den Folter-Fotos von Abu Ghraib etwa fühlte er sich verantwortlich und wollte zurücktreten, aber Bush ließ ihn nicht. Bezeichnenderweise wurmt Rumsfeld nicht, dass die Folter generell falsch war, dass in seiner Verantwortung Verbotenes und Unmenschliches geschehen ist - sondern dass diese Fotos die Sache des Feindes zu sehr gestärkt haben. Bei allem Unverständnis, das aufblitzt, merkt man, dass Morris seinen Gesprächspartner offenbar für persönlich integer hält. Noch schlagzeilenträchtiger wird es schließlich bei "Ukraina Ne Bordel (Die Ukraine ist kein Bordell)", einer intimen Dokumentation über die Frauen von Femen, die die Welt seit 2008 mit ihren Nacktprotesten in Atem halten. Die 28-jährige australische Filmemacherin Kitty Green war relativ früh mit ihrer Kamera dabei, noch vor der Femen-Reise nach Weißrussland 2011, als die Sache zunehmend gefährlicher wurde. Die schönen, selbstbestimmten, unerschrockenen Amazonen des Feminismus - diese Sichtweise scheint auch Green zunächst mit ihrer Kamera zu feiern, peitscht dazu mit dem Soundtrack die Stimmung auf: "Ra-Ra-Rasputin" grölen Boney M. Dann gibt es sogar Duschszenen mit den Aktivistinnen, schließlich muss die Farbe wieder runter von den Brüsten. Wo soll das hinführen, gerade weil Green sich selbst aller Statements enthält und die Mädchen reden lässt? Es führt geradewegs zu einer wirklich bitteren Wahrheit. Denn nach und nach wird klar, dass all diese Aktivistinnen, die oft erstaunlich naive Statements abgeben, große Angst haben - und zwar vor einem Mann.
Es ist niemand anders als Viktor Swjazkij, der in der Presse bisher gern als "Femen-Berater", manchmal auch als "Ideologe im Hintergrund" auftaucht. Dies wird nach diesem Film nun nicht mehr möglich sein - Green nimmt das offizielle Bild der Gruppe nicht nur auseinander, sie zerstört es komplett.
Denn bald sieht man Filmdokumente, in denen dieser Viktor nicht nur detaillierte Anweisungen für Aktionen gibt, jeden einzelnen Schritt, jedes Statement fast militärisch diktiert. Er brüllt herum, erniedrigt seine Aktivistinnen, beschimpft sie für ihre Feigheit, erinnert sie an die Dollarzahlungen, die sie bekommen haben. Und die Frauen geben schließlich vor der Kamera zu, wie abhängig und verängstigt sie sind, wie absurd die interne Machtstruktur der Gruppe der offiziellen Ideologie widerspricht. Eine verwendet sogar die Worte "Sklavin" und "Stockholm-Syndrom". Es ist erschütternd.
So muss nun alles, was Femen betrifft, völlig neu bewertet werden. Etwa die kürzlich berichtete Flucht von drei Aktivistinnen aus der Ukraine, oder die Nachricht, dass Viktor Swjazkij im Zentrum von Kiew von Unbekannten angegriffen und schwer verletzt worden ist - da haben sich die Gegner gleich den Chef selbst gegriffen. Nur eines darf man nicht vergessen: Wie seltsam verdreht und verlogen dieser Kampf gegen Putin, Lukaschenko und andere Machthaber jetzt auch erscheinen mag - alle Beteiligten riskieren immer noch, ganz wörtlich, ihre Haut dafür.