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Zur Volksbelustigung

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Pofalla beendet Dinge, Christian Ude hält Dinge - Spott über Politiker erreicht mit neuem Werkzeug ungeahnte Dimensionen im Wahlkampf

Jetzt also Sigmund Gottlieb. Der Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens erlangte nach dem Wahlabend am vergangenen Sonntag Aufmerksamkeit über die Grenzen seines Senders hinaus, weil eine seiner Moderationen durchs Netz gereicht wurde. Gottlieb unterbricht darin die Live-Schaltung zu SPD-Chef Sigmar Gabriel mit dem Hinweis, dass die 'Äußerungen zum Teil ja alle auch sehr erwartbar' seien, 'an einem solchen Abend'. Deshalb wolle er jetzt 'ein bisschen für Abwechslung' sorgen und kündigt ein Porträt 'des Mannes' an, 'der der CSU so etwas wie ihren Stolz zurückgeben konnte'. Es folgt ein Film über Horst Seehofer.



Sigmund Gottlieb hat jetzt seinen eigenen Tumblr


Die Sequenz verbreitet sich rasant durchs Netz - und wird zur Vorlage für einen sogenannten Tumblr zu Ehren des Chefredakteurs: sigmundwillabwechslung.tumblr.com montiert die Szene vom Wahlabend in neue Kontexte. So unterbricht Gottlieb in Montagen jetzt die Rücktrittsrede von Karl-Theodor zu Guttenberg, die Mondlandung und die Ausführungen von NSA-Enthüller Snowden. Stets folgt ein Schnitt, dann grinst der BR-Journalist und erklärt 'Diese Äußerungen sind zum Teil ja alle sehr erwartbar an einem solchen Abend.' Das Netz lacht. Sigmund Gottlieb wurde getumblrt.

Mit diesem Satz wird - in holpriger Übersetzung - die nach der US-amerikanischen Blogplattform Tumblr benannte ironische Behandlung einer Meldung oder Person beschrieben. Eine besonders beliebte Form des Netzspottes im laufenden Bundestagswahlkampf. Kanzleramtsminister Pofalla (beendet Dinge), Innenminister Friedrich (tut alles für unsere Sicherheit) und der bayerische SPD-Kandidat Ude (hält Dinge) haben dies bereits erlebt: Ihre Fotos wurden aus dem Kontext genommen und in neue Zusammenhänge montiert. Zahlreiche deutsche Spitzenpolitiker wurden in den vergangenen Wochen auf diese Weise Ziel der Netzironie: Brüderle, Merkel, Steinbrück - sie alle wurden schon getumblrt.

Das weltweit erste Beispiel dieser Art lieferte bereits 2010 der Tumblr kimjongilllookingatthings.tumblr.com, der den vormaligen nordkoreanischen Diktator beim Betrachten von Dingen zeigt. Seitdem sah man Menschen unterschiedlicher politischer Ausrichtung bei zahlreichen plötzlich satirischen Tätigkeiten. Unlängst die US-Politikerin Hillary Clinton, die fotografiert wurde, wie sie grimmig SMS schrieb: textsfromhillary.tumblr.com zeigt Clinton in allerlei unmöglichen Situationen beim Handy-Tippen. Das Erstaunliche an all diesen Bilder-Blogs: Sie setzen ein hohes Kenntnisniveau voraus. Es sind Witze für diejenigen, die sie verstehen.

Beinahe täglich sind in den vergangenen Wochen in Deutschland neue Politiker-Tumblr erstellt worden, und sie sind zu einem Wahlkampfinstrument geworden. Meist dauert es kaum ein paar Stunden, bis beispielsweise aus dem Titelbild des SZ-Magazins aus der vergangener Woche ein Tumblr mit Peer Steinbrücks Mittelfinger wird, den er dort gezeigt hatte. Im Falle der Kanzlerkandidatenpose gab es sogar erstmals mehrere konkurrierende Seiten, die das Thema aufbereiteten, die Fotoserien hießen wopeerseinefingerdrinhat und peersfinger.

Meist bleiben die Initiatoren dieser Webseiten unbekannt. Sie nutzen die einfache Bedienbarkeit der Plattform, die Anfang des Jahres von Yahoo für eine Milliarde Dollar übernommen wurde. Tumblr ist ein soziales Netzwerk, das vor allem bei jungen Amerikanern sehr beliebt ist und für sich selber mit der Aussage wirbt, die einfachste Art zu bieten, um zu bloggen. Gar nicht so einfach ist hingegen die Rechtslage bei der Verwendung von Bildern in den Politiker-Blogs. Die genutzten Fotos werden meist aus dem Kontext gerissen und ohne Nutzungsrecht veröffentlicht. Durch das so genannte Rebloggen können Tumblr-Nutzer sie per Mausklick im eigenen Blog weiterverbreiten. Einer der Gründe, wegen dem die Darstellungsform beliebt ist.

Wie bei den meisten der so genannten Internet-Meme sorgt deren plötzliche Popularität für eine gewisse Ablehnung bei denen, die schon länger mit dem Thema betraut sind. Die Popularisierung dieser Form der Netzsatire ist für sie gleichbedeutend mit einer Verflachung des Humorniveaus. Dabei zeigen die amerikanischen Beispiele, dass die Aufmerksamkeitsökonomie des Netzes hier nach einem anderen Prinzip funktioniert: Weil es mehr Menschen gibt, die vermeintlich witzige Tumblr-Blogs anlegen, steigt die Konkurrenz, und nur noch die besseren Ideen erlangen größere Aufmerksamkeit.

Insofern ist das Beispiel von Sigmund Gottlieb nicht nur der vorläufige Höhepunkt der Tumblr-Inflation in diesem Wahlkampf, es fasst auch das ganze Prinzip recht treffend zusammen: 'ein bisschen Abwechslung'. Erwartungen zu unterlaufen, macht den besonderen Humor der Tumblr-Blogs aus. Im Falle von Gottlieb gelingt dies erstmals durch die Verwendung von Videos statt von Fotos. Es ist sehr wahrscheinlich, dass mindestens einer der Akteure des politischen Berlin spätestens am Wahlabend noch 'getumblrt' wird - und damit den Schlusspunkt setzt unter einen Wahlkampf, der zumindest im Netz geprägt war von dieser neuen Form des digitalen Humors.

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