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Das Gesicht der Krise

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Wie keine andere Figur verkörpert Angela Merkel für viele Griechen die Misere ihres Landes. Halten also alle zur SPD? Mitnichten. In Athen erwartet niemand, dass es in Berlin zu einem Politikwechsel kommt

Wenn Griechen die Bundestagswahl entscheiden dürften, dann bekäme die Linke die meisten Stimmen. 29 Prozent genau. Angela Merkel und die CDU müssten sich mit fünf Prozent begnügen. Das sagt keine repräsentative Umfrage, kein Meinungsforscher hat die Griechen befragt. Theatermacher taten es. Am Freitag werden sie in Athen auf einer Bühne den deutschen Wahlkampf nachspielen - in 50Minuten. Redezeiten für die "Parteien" werden entsprechend der letzten Bundestagswahl verteilt: 17,5 Minuten für die CDU, 5,75 für die Linke.



Angela Merkel auf einem Wahlkampfauftritt


Noch kein deutscher Wahlkampf hat in Griechenland so viel Aufmerksamkeit erregt. In der Zeitung Kathimerini gibt es einen Countdown bis zum Sonntag. Bayern-Wahl, Steinbrücks Stinkefinger im SZ-Magazin, die Euro-Verächter von der AfD - all das waren Themen in Athen. Eine dritte Amtszeit für Merkel? Für viele Griechen hat die Krise das Gesicht der Kanzlerin. Boulevardblätter haben die CDU-Politikerin zeitweise nur in Nazikluft auf den Titel gehoben. Der Furor ist zuletzt Ernüchterung gewichen. Das sorgt - trotz des Medien-Hypes - für einen eher illusionslosen Blick.

Adriana Prokopi, 30, Lehrerin an einer Grundschule im Athener Arbeiterbezirk Tavros sagt: "Das ist wie bei uns, ein Auswechseln der Köpfe ändert gar nichts. Nur ein Politikwechsel könnte uns helfen." Am Donnerstag haben wieder Tausende Lehrer gestreikt. "Wir haben alle Angst", sagt Prokopi. Bis Jahresende sollen auf Druck der Kreditgeber aus der EU 25000 Beamte in eine Reserve versetzt werden, eine Vorstufe für eine mögliche Entlassung. Prokopi sagt über ihre Schüler: "Die Armut ist sichtbar, in jeder Familie gibt es einen Arbeitslosen, oft sind beide Eltern arbeitslos. Viele Kinder essen nur einen Sesamkringel den ganzen Schultag über."

Schon einmal haben die Griechen gehofft, eine Wahl in Europa könnte etwas an den Sparauflagen ändern, als im Mai 2012 in Paris der Sozialist François Hollande auf Nicolas Sarkozy folgte. Danach blieb alles wie es war. Nun schreibt Griechenland das vierte Jahr der Krise, und das Gefühl, dass das ganze Darben nichts bringt, frisst sich durchs Land, auch wenn Premier Antonis Samaras - gerade während des deutschen Wahlkampfes - auffällig viel Optimismus versprühte. Am Donnerstag sagte Finanzminister Giannis Stournaras: "Die Wirtschaft geht in Richtung Erholung." Nur davon merken viele Griechen nichts, bei 27Prozent Arbeitslosigkeit. In den Rentenkasse klaffen abgrundtiefe Löcher, viele Griechen arbeiten auch ohne Gehalt, in der Hoffnung, ihren Job behalten zu können - für bessere Zeiten. Die Zahl der Geburten im Land ist seit 2009 um zehn Prozent gesunken. Aber es gibt immer noch Betuchte, die in anderen Sphären schweben. Der Chef der Privatisierungsbehörde musste gehen, nachdem er im Privatjet eines griechischen Öl-Milliardärs mitflog, der vom Staat gerade Europas größte Wettfirma gekauft hatte. "Ich bin kein Mönch", sagte der Geschasste dem TV-Sender Skai und betonte, "ich bedauere nichts".

Michalis Tasoulas ist Busfahrer. Aber manchmal hat er keinen Bus, um zu fahren. "Es gibt kein Geld für Ersatzteile", erzählt der 47-Jährige. Wenn ein Bus kaputt geht, schlachten sie ihn aus, um damit andere Busse zu reparieren. Erst Ende Juli wurden wiederum gleich vier neue lichtdurchflutete Stationen der eleganten Athener Metro eröffnet. Die wird 2013 Gewinn machen, es waren Verluste erwartet worden. Aber es wurden Löhne gekürzt und Personal gestrichen. Licht und Schatten sind bisweilen nah beieinander in Griechenland.

Der Busfahrer Tasoulas nimmt auch die Metro, wenn er zur Demonstration der öffentlichen Bediensteten in die Innenstadt fährt. Er billigt den Protest der Lehrer, obwohl er Chef der Elternvereine in seinem Viertel Ilioupoli ist, einem Mittelschichtbezirk. "Wir haben auch Eltern, die gegen den Streik sind", sagt Tasoulas. Anhänger der Regierung aus Konservativen und Sozialisten (Pasok) fühlten sich verpflichtet, die Sparmaßnahmen zu unterstützen. Die Spaltung des Landes geht durch alle Schichten.

Tasoulas klagt, ausgerechnet in Berufsschulen fielen viele Zweige weg. "Schüler haben Ausbildungen angefangen, die sie jetzt nicht beenden können." Ja, Auswüchse habe es gegeben, gibt er zu. Lehrer, die lieber in privaten Paukschulen dazu verdienten, als sich im Unterricht anzustrengen. Angesichts von stark reduzierten Gehältern treibe es die Pädagogen nun aber erst recht in den Nebenverdienst. Und sein eigener Lohn als Busfahrer? "Um 55 Prozent reduziert." 1070 Euro netto habe er noch im Monat, mit drei Kindern.

Nikos Megrelis, 56, hatte einen Direktorenjob beim öffentlichen Fernsehsender ERT, der von der Regierung im Juni über Nacht abgeschaltet wurde. Der Journalist wirft der Regierung vor, "sie macht, was Merkel sagt", solange das "nicht den inneren Zirkel der Macht berührt". Nicht weniger kritisch geht Megrelis mit der Kanzlerin ins Gericht. "Merkels größte Sünde ist ihre Besessenheit, dass Athen die Sparmaßnahmen auf Punkt und Komma erfüllt." Ohne die Krise, meint er, müsste sich sein Land nun nicht mit den Neofaschisten von Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) abplagen. Ein Mitglied der Neonazi-Partei hat in der Nacht zum Mittwoch den 34-jährigen Hip-Hop-Sänger Pavlos Fyssas erstochen und damit das ganze Land geschockt. In einem Song von Fyssas heißt es: "Ich bin Grieche, mit allem, was dazugehört - aber ich trage keine Fahne vor mir her."

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