Eine 32 Jahre alte Frau hat das Grauen des Terroranschlags von Nairobi überlebt. Versteckt zwischen Buchregalen, hat sie die Schüsse gehört und das Wimmern der Sterbenden. Irgendwann fand sie den Weg ins Freie
Sie steht gerade an dem großen Kühlregal voll Joghurt, Käse, Milch, als plötzlich eine Horde Menschen auf sie zustürmt. Was haben die denn, denkt sie sich und nimmt ihr Handy vom Ohr, es ist doch noch genug Milch da; schon einmal hat sie in Kenia erlebt, dass die Leute wie irre auf das Kühlregal zurannten, als die Milch zur Neige ging. Dann sieht sie, dass einer der Männer sich die Hand an die Schulter drückt, sein weißes Hemd ist blutgetränkt. Ein anderer schreit immer wieder "Fuck! Fuck!", dann hört sie Schüsse, rennt den anderen hinterher, in den Korridor des Lieferanteneingangs. Als dann von vorne plötzlich auch Schüsse hallen, wird ihr klar, dass sie gefangen ist.
Ein Opfer des Attentats wird am Sonntag in Nairobi beerdigt.
Sonntagmittag in Nairobi: Shreena Shah, 32, sitzt im Wohnzimmer ihres Apartments in Nairobis Stadtteil Westgate, eine zarte Frau mit langem schwarzen Haar, sie trägt einen Kapuzenpullover und umklammert mit beiden Händen einen Teebecher, während sie erzählt, wie sie das Attentat auf die Westgate-Mall am Vortag um ein Haar überlebt hat. Unten im Garten des Wohnblocks stellen Nachbarn gerade einen Kreis aus Plastikstühlen zusammen, Angehörige versammeln sich, eine Trauer-Zusammenkunft: Der Nachbar aus dem Erdgeschoss ist erschossen worden, er hatte ein kleines Geschäft in dem Einkaufszentrum. Verblutet neben seiner Frau, die länger als eine Stunde da kniete und die Hände in Betstellung vors Gesicht hielt und darauf wartete, dass die Attentäter auch sie ermorden würden. Über dem Haus knattert ein Hubschrauber, die Westgate-Mall ist nicht einmal einen Kilometer entfernt. "Das Ganze geht immer noch weiter", sagt Shreena Shah, "wer weiß, wie viele Leute dort noch gefangen sind."
Sie ist am Vortag, einem sonnigen Samstagmittag, mit dem Auto ins Parkhaus der Westgate-Mall gefahren, einem der luxuriösesten Einkaufszentren in Kenias Hauptstadt. Gut zehn Minuten später flüchtet sie vor den Schüssen am Ende des Lieferanten-Korridors zurück in den Supermarkt, kauert sich in der Buchabteilung auf den Boden, die Schüsse kommen näher und näher, eine Frau neben ihr zuckt bei jeder Salve zusammen, seufzt und schluchzt laut auf, und Shreena Shah versucht, sie zu beruhigen; bloß nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie starrt auf die Buchcover im Regal vor ihr, Kochbücher, Bastelbücher für Kinder, ein Fitness-Ratgeber mit dem seltsamen Titel "Run Fat Bitch Run". "Wenn ich an diesen Moment denke, dann sehe ich die Buchtitel vor mir", sagt sie, "ich habe mir gedacht: Wenn das hier vorbei ist, werde ich mir ein paar schöne neue Bücher für daheim zulegen."
Durch die Regalbretter hindurch sieht sie Menschen hin und her rennen, hört immer neue Schusssalven, manchmal zwei, drei Minuten lang ununterbrochen. Ein Mann wimmert, offenbar liegt er im Sterben. Dann ist etwa fünf Minuten lang Ruhe, und plötzlich geht es wieder los, noch näher als zuvor. Neben ihr taucht ein Mann in roter Jacke auf, "los, los, lauft", zischt er, sie und die anderen aber bleiben sitzen, wer weiß, ob er nicht auch einer der Attentäter ist, ob er sie entführen will? "Los, kommt, wir sind hier, um euch zu helfen", raunt der Mann, und dann läuft sie schließlich doch los, durch den Lieferantenausgang, und diesmal scheint der Weg frei zu sein, draußen stehen zwei Männer, einer davon in Armee-Uniform, "rennt!", rufen sie, und von oben, vielleicht vom Dach des Gebäudes, hört Shreena Shah wieder Salven. Dann sieht sie in der Menschenmenge, die draußen am Rand des Parkplatzes wartet, ihren Mann, der wie wild ihren Namen schreit. Später, zu Hause, erfährt sie dann, dass sich die islamistische Al-Shabaab-Miliz aus dem Nachbarland Somalia zu dem Attentat bekannt hat - als Vergeltung, weil kenianische Soldaten dort gegen die Islamisten kämpfen. Dass die Attentäter, es sollen bis zu 18 sein, durch zwei Eingänge in die Mall eingedrungen sind, Handgranaten gezündet und Menschen wahllos niedergeschossen haben und noch viele weitere als Geiseln halten.
Sonntagnachmittag, zweihundert Meter von der Westgate-Mall entfernt, die inzwischen großräumig abgeriegelt ist: In einem hinduistischen Gemeindezentrum haben Armee, Rotes Kreuz, Polizei und Presse ein Katastrophenzentrum eingerichtet, Krankenwagen rücken durch das Tor aus, Soldaten mit Helmen und schusssicheren Westen stärken sich mit indischen Süßspeisen, die eigentlich für ein großes religiöses Fest an dem Tag vorbereitet waren. Die offizielle Zahl der Todesopfer ist auf 59 gestiegen, mindestens 175 sind verletzt, und die Helfer bereiten sich auf noch Größeres vor. Samuel Wanbugu, Generalsekretär des kenianischen Psychologenverbandes, ist hier, um Trauma-Psychologen für die Überlebenden und Angehörige abzustellen. Gerade habe er gehört, dass noch mehr als hundert Menschen in der Mall als Geiseln gehalten würden, sagt er. Inzwischen, heißt es, seien israelische Spezialkräfte zusammen mit kenianischen Soldaten ins Westgate vorgedrungen, um die Geiselnahme zu beenden. "Etwas Vergleichbares haben wir noch nie erlebt", sagt Wanbugu. "Was diese Menschen erleben, ist eine fortdauernde Traumatisierung. Viele von ihnen werden langfristige psychologische Hilfe brauchen. Wenn sie überleben."
Sie steht gerade an dem großen Kühlregal voll Joghurt, Käse, Milch, als plötzlich eine Horde Menschen auf sie zustürmt. Was haben die denn, denkt sie sich und nimmt ihr Handy vom Ohr, es ist doch noch genug Milch da; schon einmal hat sie in Kenia erlebt, dass die Leute wie irre auf das Kühlregal zurannten, als die Milch zur Neige ging. Dann sieht sie, dass einer der Männer sich die Hand an die Schulter drückt, sein weißes Hemd ist blutgetränkt. Ein anderer schreit immer wieder "Fuck! Fuck!", dann hört sie Schüsse, rennt den anderen hinterher, in den Korridor des Lieferanteneingangs. Als dann von vorne plötzlich auch Schüsse hallen, wird ihr klar, dass sie gefangen ist.
Ein Opfer des Attentats wird am Sonntag in Nairobi beerdigt.
Sonntagmittag in Nairobi: Shreena Shah, 32, sitzt im Wohnzimmer ihres Apartments in Nairobis Stadtteil Westgate, eine zarte Frau mit langem schwarzen Haar, sie trägt einen Kapuzenpullover und umklammert mit beiden Händen einen Teebecher, während sie erzählt, wie sie das Attentat auf die Westgate-Mall am Vortag um ein Haar überlebt hat. Unten im Garten des Wohnblocks stellen Nachbarn gerade einen Kreis aus Plastikstühlen zusammen, Angehörige versammeln sich, eine Trauer-Zusammenkunft: Der Nachbar aus dem Erdgeschoss ist erschossen worden, er hatte ein kleines Geschäft in dem Einkaufszentrum. Verblutet neben seiner Frau, die länger als eine Stunde da kniete und die Hände in Betstellung vors Gesicht hielt und darauf wartete, dass die Attentäter auch sie ermorden würden. Über dem Haus knattert ein Hubschrauber, die Westgate-Mall ist nicht einmal einen Kilometer entfernt. "Das Ganze geht immer noch weiter", sagt Shreena Shah, "wer weiß, wie viele Leute dort noch gefangen sind."
Sie ist am Vortag, einem sonnigen Samstagmittag, mit dem Auto ins Parkhaus der Westgate-Mall gefahren, einem der luxuriösesten Einkaufszentren in Kenias Hauptstadt. Gut zehn Minuten später flüchtet sie vor den Schüssen am Ende des Lieferanten-Korridors zurück in den Supermarkt, kauert sich in der Buchabteilung auf den Boden, die Schüsse kommen näher und näher, eine Frau neben ihr zuckt bei jeder Salve zusammen, seufzt und schluchzt laut auf, und Shreena Shah versucht, sie zu beruhigen; bloß nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie starrt auf die Buchcover im Regal vor ihr, Kochbücher, Bastelbücher für Kinder, ein Fitness-Ratgeber mit dem seltsamen Titel "Run Fat Bitch Run". "Wenn ich an diesen Moment denke, dann sehe ich die Buchtitel vor mir", sagt sie, "ich habe mir gedacht: Wenn das hier vorbei ist, werde ich mir ein paar schöne neue Bücher für daheim zulegen."
Durch die Regalbretter hindurch sieht sie Menschen hin und her rennen, hört immer neue Schusssalven, manchmal zwei, drei Minuten lang ununterbrochen. Ein Mann wimmert, offenbar liegt er im Sterben. Dann ist etwa fünf Minuten lang Ruhe, und plötzlich geht es wieder los, noch näher als zuvor. Neben ihr taucht ein Mann in roter Jacke auf, "los, los, lauft", zischt er, sie und die anderen aber bleiben sitzen, wer weiß, ob er nicht auch einer der Attentäter ist, ob er sie entführen will? "Los, kommt, wir sind hier, um euch zu helfen", raunt der Mann, und dann läuft sie schließlich doch los, durch den Lieferantenausgang, und diesmal scheint der Weg frei zu sein, draußen stehen zwei Männer, einer davon in Armee-Uniform, "rennt!", rufen sie, und von oben, vielleicht vom Dach des Gebäudes, hört Shreena Shah wieder Salven. Dann sieht sie in der Menschenmenge, die draußen am Rand des Parkplatzes wartet, ihren Mann, der wie wild ihren Namen schreit. Später, zu Hause, erfährt sie dann, dass sich die islamistische Al-Shabaab-Miliz aus dem Nachbarland Somalia zu dem Attentat bekannt hat - als Vergeltung, weil kenianische Soldaten dort gegen die Islamisten kämpfen. Dass die Attentäter, es sollen bis zu 18 sein, durch zwei Eingänge in die Mall eingedrungen sind, Handgranaten gezündet und Menschen wahllos niedergeschossen haben und noch viele weitere als Geiseln halten.
Sonntagnachmittag, zweihundert Meter von der Westgate-Mall entfernt, die inzwischen großräumig abgeriegelt ist: In einem hinduistischen Gemeindezentrum haben Armee, Rotes Kreuz, Polizei und Presse ein Katastrophenzentrum eingerichtet, Krankenwagen rücken durch das Tor aus, Soldaten mit Helmen und schusssicheren Westen stärken sich mit indischen Süßspeisen, die eigentlich für ein großes religiöses Fest an dem Tag vorbereitet waren. Die offizielle Zahl der Todesopfer ist auf 59 gestiegen, mindestens 175 sind verletzt, und die Helfer bereiten sich auf noch Größeres vor. Samuel Wanbugu, Generalsekretär des kenianischen Psychologenverbandes, ist hier, um Trauma-Psychologen für die Überlebenden und Angehörige abzustellen. Gerade habe er gehört, dass noch mehr als hundert Menschen in der Mall als Geiseln gehalten würden, sagt er. Inzwischen, heißt es, seien israelische Spezialkräfte zusammen mit kenianischen Soldaten ins Westgate vorgedrungen, um die Geiselnahme zu beenden. "Etwas Vergleichbares haben wir noch nie erlebt", sagt Wanbugu. "Was diese Menschen erleben, ist eine fortdauernde Traumatisierung. Viele von ihnen werden langfristige psychologische Hilfe brauchen. Wenn sie überleben."