In unserem Haus haben wir sehr nette Nachbarn. Da ist das ältere Ehepaar neben uns, das wir kennen, weil sie unsere Vermieter sind. Da ist die Familie über uns, die wir kennen, weil sie einen Sohn im Alter unseres Sohnes haben. Da ist die Familie unter uns, die wir kennen, weil wir abends unsere Amazon-Pakete bei ihnen abholen, ohne dass sie sich je beschwert hätten (was nicht selbstverständlich ist, weil wir oft abends klingeln und Amazon ja außerdem auch böse ist). Für alle diese Menschen würde ich meine Hand ins Feuer legen. Außerdem wohnen in unserem Haus noch weitere Parteien, die wir nur ein wenig oder fast gar nicht kennen. Auch ihnen traue ich nichts Böses zu, sie machen einen netten Eindruck, und wenn wir uns im Treppenhaus begegnen, grüßen wir uns. Sollte gerade ein Müllbeutel mit der Silhouette eines Leichnams unter ihrem Arm klemmen, würde es mir nur auffallen, wenn das Blut auf die Stufen schwappt. In einem geistesgegenwärtigen Moment.
Das Leben deiner Nachbarn interessiert dich nicht und sehen tust du sie auch kaum. Was dadurch alles unentdeckt bleibt.
Gerade ist bekannt geworden, dass ein Ehepaar in einem Londoner Wohnhaus drei Frauen 30 Jahre lang als Sklavinnen gehalten hat, und alle schreien sie jetzt wieder: Jesusmaria, wie konnte das passieren? Haben die Nachbarn denn nichts mitgekriegt?! Natürlich, eine dieser Frauen soll einem Nachbarn 200 Hilferufe geschickt haben, und da braucht es schon einen toten Winkel von den Ausmaßen des Wembley-Stadions, um nicht doch mal rüberzugehen oder gleich die Polizei zu rufen. Es gab aber auch die Nachbarn von Josef Fritzl, die nichts vom Keller gewusst hatten. Oder die Nachbarn von Wolfgang Priklopil, denen die Anwesenheit von Natascha Kampusch entgangen war. Es gab die Nachbarn in Tucson, die bis Dienstag keine Ahnung hatten, dass nebenan drei Kinder jahrelang ihr Zimmer nicht verlassen durften. Der öffentliche Reflex war und ist jedesmal der gleiche: Was ist das bloß für eine Welt, in der die Menschen nichts mehr voneinander mitkriegen!
Wie aber hat man sich den Prozess des Mitkriegens konkret vorzustellen? Man kann ja schon deshalb nicht ganztags durch den Türspion glotzen, weil man ganztags im Büro sitzt, um die Miete ranzuschaffen. Soll man abends dann lauschen und Indizien-Protokolle führen? Wenn der Nachbar die Treppen hochsteigt, schnell auf seine Einkäufe spicken und überschlagen: Heute drei Tüten vom Netto, gestern drei Tüten vom Netto, vorgestern vier Sprudelkästen, das kann der Junggeselle aus dem vierten Stock doch unmöglich alleine konsumieren, wenn das nicht mal auf Gefangene hindeutet.
Will man solche Nachbarn haben?
Ich nicht.
Für ihre großartige Glücks-Doku kürzlich in der ARD besuchte Anke Engelke auch die Gemeinschaft Tempelhof. Mehr als hundert Menschen haben unter diesem Namen ihr eigenes Dorf gegründet, sie wohnen, essen, wirtschaften zusammen, sie fühlen sich in diesem Lebensmodell sicher und aufgehoben. Man kann davon ausgehen, dass in Tempelhof wenig verborgen bleibt, erst recht kein Kellerverlies und auch keine Haussklaven. Aber man muss so ein Leben schon wollen. Die wenigsten Menschen wollen das.
Einer der wenigen guten Gründe, in einem großen Haus in einer großen Stadt zu wohnen, ist ja genau der: Man wird in der Regel in Ruhe gelassen. Anonymität hat heute keinen guten Klang, aber sie kann wahnsinnig befreiend sein. Es gibt so etwas wie ein stilles Agreement, eben nicht so genau hinzusehen, wenn der Mann aus der sechsten Etage wieder mal angetrunken nach Hause kommt oder die Frau im Erdgeschoss morgens im Schlafanzug mit verquollenem Gesicht und zerwühlten Haaren die Zeitung von der Schwelle kratzt oder die Kids von gegenüber unten im Hof stehen und rauchen, obwohl die doch bestimmt erst fünfzehn sind. Die Leute, seien wir ehrlich, haben heutzutage selbst genug an der Hacke. Sie schlurfen morgens aus dem Haus und abends mit Tunnelblick wieder herein, sie haben schon kaum Zeit für ihre Kinder, ihre Freunde und die pflegebedürftigen Eltern, da können sie nicht noch auf ihre Nachbarn aufpassen. Sie wollen auch eher nicht, dass die Nachbarn auf sie aufpassen. Und nirgendwo sonst können alle miteinander besser nicht aufeinander aufpassen als in der Anonymität. Wenn die britischen Medien jetzt entsetzt aufjaulen, wie das sein könne, drei Frauen, 30 Jahre lang gefangen, und das mitten in London, dann lautet die Antwort: wo sonst?
In den meisten Fällen ist das reflexhafte Gezeter über die Nachbarn, die im Angesicht des Bösen mal wieder die Augen verschlossen haben, eine Hilfsbehauptung. Sie verschleiert die Tatsache, dass sehr viele von uns heute einfach nicht mehr in einer Gemeinschaft leben, in der man noch groß was voneinander mitbekäme. Offiziell finden wir das ein bisschen traurig. In Wahrheit haben wir uns das so ausgesucht.
Das Leben deiner Nachbarn interessiert dich nicht und sehen tust du sie auch kaum. Was dadurch alles unentdeckt bleibt.
Gerade ist bekannt geworden, dass ein Ehepaar in einem Londoner Wohnhaus drei Frauen 30 Jahre lang als Sklavinnen gehalten hat, und alle schreien sie jetzt wieder: Jesusmaria, wie konnte das passieren? Haben die Nachbarn denn nichts mitgekriegt?! Natürlich, eine dieser Frauen soll einem Nachbarn 200 Hilferufe geschickt haben, und da braucht es schon einen toten Winkel von den Ausmaßen des Wembley-Stadions, um nicht doch mal rüberzugehen oder gleich die Polizei zu rufen. Es gab aber auch die Nachbarn von Josef Fritzl, die nichts vom Keller gewusst hatten. Oder die Nachbarn von Wolfgang Priklopil, denen die Anwesenheit von Natascha Kampusch entgangen war. Es gab die Nachbarn in Tucson, die bis Dienstag keine Ahnung hatten, dass nebenan drei Kinder jahrelang ihr Zimmer nicht verlassen durften. Der öffentliche Reflex war und ist jedesmal der gleiche: Was ist das bloß für eine Welt, in der die Menschen nichts mehr voneinander mitkriegen!
Wie aber hat man sich den Prozess des Mitkriegens konkret vorzustellen? Man kann ja schon deshalb nicht ganztags durch den Türspion glotzen, weil man ganztags im Büro sitzt, um die Miete ranzuschaffen. Soll man abends dann lauschen und Indizien-Protokolle führen? Wenn der Nachbar die Treppen hochsteigt, schnell auf seine Einkäufe spicken und überschlagen: Heute drei Tüten vom Netto, gestern drei Tüten vom Netto, vorgestern vier Sprudelkästen, das kann der Junggeselle aus dem vierten Stock doch unmöglich alleine konsumieren, wenn das nicht mal auf Gefangene hindeutet.
Will man solche Nachbarn haben?
Ich nicht.
Für ihre großartige Glücks-Doku kürzlich in der ARD besuchte Anke Engelke auch die Gemeinschaft Tempelhof. Mehr als hundert Menschen haben unter diesem Namen ihr eigenes Dorf gegründet, sie wohnen, essen, wirtschaften zusammen, sie fühlen sich in diesem Lebensmodell sicher und aufgehoben. Man kann davon ausgehen, dass in Tempelhof wenig verborgen bleibt, erst recht kein Kellerverlies und auch keine Haussklaven. Aber man muss so ein Leben schon wollen. Die wenigsten Menschen wollen das.
Einer der wenigen guten Gründe, in einem großen Haus in einer großen Stadt zu wohnen, ist ja genau der: Man wird in der Regel in Ruhe gelassen. Anonymität hat heute keinen guten Klang, aber sie kann wahnsinnig befreiend sein. Es gibt so etwas wie ein stilles Agreement, eben nicht so genau hinzusehen, wenn der Mann aus der sechsten Etage wieder mal angetrunken nach Hause kommt oder die Frau im Erdgeschoss morgens im Schlafanzug mit verquollenem Gesicht und zerwühlten Haaren die Zeitung von der Schwelle kratzt oder die Kids von gegenüber unten im Hof stehen und rauchen, obwohl die doch bestimmt erst fünfzehn sind. Die Leute, seien wir ehrlich, haben heutzutage selbst genug an der Hacke. Sie schlurfen morgens aus dem Haus und abends mit Tunnelblick wieder herein, sie haben schon kaum Zeit für ihre Kinder, ihre Freunde und die pflegebedürftigen Eltern, da können sie nicht noch auf ihre Nachbarn aufpassen. Sie wollen auch eher nicht, dass die Nachbarn auf sie aufpassen. Und nirgendwo sonst können alle miteinander besser nicht aufeinander aufpassen als in der Anonymität. Wenn die britischen Medien jetzt entsetzt aufjaulen, wie das sein könne, drei Frauen, 30 Jahre lang gefangen, und das mitten in London, dann lautet die Antwort: wo sonst?
In den meisten Fällen ist das reflexhafte Gezeter über die Nachbarn, die im Angesicht des Bösen mal wieder die Augen verschlossen haben, eine Hilfsbehauptung. Sie verschleiert die Tatsache, dass sehr viele von uns heute einfach nicht mehr in einer Gemeinschaft leben, in der man noch groß was voneinander mitbekäme. Offiziell finden wir das ein bisschen traurig. In Wahrheit haben wir uns das so ausgesucht.