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'Schön sind andere Plätze'

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Hier treffen sich die Fixer und die Obdachlosen, hier wird hart gefeiert und hart gesoffen - über allem schwebt der Dunst von Bratenfett. Hier wurde Jonny K. totgeschlagen. Eine Samstagnacht am Berliner Alexanderplatz


Als die Ärzte die Maschinen ausstellen, die Jonny K. am Leben halten, ist seine Schwester Tina bei ihm. 'Ich war der letzte Mensch, der seine Hand gehalten hat', erzählte Tina K., 28 Jahre alt, vergangene Woche in einem Gespräch im Fernsehen. Sie habe ein Gefühl gehabt, 'als hätte ich gesehen, wie seine Seele aus dem Körper gegangen ist'. Wovon Jonny geträumt habe? 'Fußball. Mädchen. Er wollte einfach nur Party machen, eine gute Zeit haben.'

Rathausstraße, Samstagnacht. Es hat geregnet, ein eisiger Wind fegt über den 775 Jahre alten Alexanderplatz. Vor dem Eiscafé Lampe stehen in gelben Eimern weiße Rosen, Lilien, Nelken. Manche sind schon verwelkt. Vor vier Wochen wollte Jonny K. hier, am Fuße des Fernsehturms, im Mio-Club eine gute Zeit haben. Ein muskulöser Wachmann steht jetzt vor dem Club. Er sagt, er dürfe nichts sagen.




Jonny K., Sohn einer thailändischen Mutter und eines deutschen Vaters, lebt nicht mehr. Fünf türkischstämmige Männer haben ihm in der Nacht zum 14. Oktober so sehr auf den Kopf getreten, dass er starb, an Hirnblutungen. Eine Freundin von Jonny hat einen Brief ins Blumenmeer gelegt: 'Erst beim Abschied wird klar, wie wertvoll jeder Moment mit Dir war. Jonny, wer lacht denn jetzt mit mir über unseren Bibel-Komparsen? Und wer kauft mir jetzt Nachos mit Jalapeno? Ich danke Dir für jeden Moment mit Dir. Manna.' Neben ihren Namen hat Manna ein rotes Herz gemalt.

Das Blumenmeer liegt zwischen dem 'Mio' und dem Restaurant 'Cancun', aus dem die mutmaßlichen Totprügler kamen. Es sind Restaurants, die mit violettem Licht, weißen Sofas und Hitparadenhits gegen die Trostlosigkeit des Alexanderplatzes anbrüllen. Die Küchentür des Mio-Lokals steht offen. Eine Küchenhilfe steht draußen und raucht. Der Mann schnippt die Zigarette weg und sagt: 'Der Alex ist ein hartes Pflaster.'

Der Mond scheint unter einer Decke aus Wolken hervor. Ein Feuerwerk ist von Weitem zu hören. Über den Alex staksen Frauen in pinkfarbenen High Heels und verschwinden in der 'Alex Oase'. Im Park zwischen Fernsehturm und 'Cancun' stehen fünf junge Leute aus Jena mit Bierflaschen in der Hand, den Abend wollen sie in Friedrichshain fortsetzen. 'Auf keinen Fall hier, am Alex, viel zu unwirtlich', sagt einer. Er findet es 'echt krass, was da mit dem Thailänder passiert ist'. Dann sammeln sie die Flaschen ein, für das Pfand.

Vor dem Blumenmeer stehen jetzt Volkan, 18, sein bester Freund Shahinon, 17, und dessen Freundin Michelle, 16. Sie sind öfter auf dem Alex, sagen sie. Der Platz liege zentral, das, sagt Volkan, 'ist sein einziger Vorteil'. Heute Abend sind sie gekommen, um sich die Briefe anzuschauen. Shahinon kennt Thailänder, die Jonny K. kannten. 'Die sind alle geschockt', sagt er. Ihn selbst treffe der Tod von Jonny K. 'besonders', denn seine Mutter ist Thailänderin, sein Vater Türke. 'Ich bin beides', sagt er. Volkan, Shahinons türkischer Freund, sagt: 'Das ist doch total feige, zu fünft auf einen einzutreten, der am Boden liegt!' Und Michelle wundert sich: 'Ich kann mir nicht vorstellen, dass niemand das gesehen und eingegriffen hat. Die Menschen haben keine Zivilcourage.'

Seinen Namen erhielt der Platz am 2. November 1805. Anlass war der Berlin-Besuch des russischen Zaren Alexander I., der eine Allianz gegen Napoleon schmieden wollte. Der Zar wurde auf dem Platz vor dem Königstor empfangen. Der Platz hieß zuvor Ochsenplatz, weil hier mit Vieh gehandelt wurde. Dass der Platz nicht vornehm war, beschrieb schon Alfred Döblin in seinem Roman 'Berlin, Alexanderplatz', eine Milieustudie, in der viel von Verbrechern und Prostituierten die Rede ist und das Leitmotiv herrscht: 'Verflucht ist der Mensch, der sich auf Menschen verlässt.' Im Krieg wurde der Platz massiv zerstört. Die SED ließ furchterregende Plattenbauten errichten. Die DDR-Einheitspartei sah in dem 80000-Quadratmeter-Areal einen Vorzeigeplatz des Sozialismus.

Seit dem Tod von Jonny K. fährt die Polizei öfter als sonst Streife auf dem Alexanderplatz. In dieser Nacht hat André Aue Dienst, 44 Jahre alt, freundliches Gemüt. Ein Passant stoppt seinen Wagen. Der Passant will wissen: 'Sagen Sie mal, seit wann ist der Alexanderplatz denn so ein gefährlicher Ort geworden, dass man hier totgeprügelt wird?' Herr Aue findet die Frage berechtigt, antwortet allerdings erst mal mit einem kleinen Witz: 'Wenn Sie im Grunewald wohnen, passiert Ihnen das nicht.'

Der Alexanderplatz sei eben ein Groß-stadtplatz, hier träfen 'alle möglichen Menschen aufeinander', vor allem aber auch: alkoholisierte Menschen. Sein Kollege, der noch bis sechs Uhr morgens auf dem Alex patrouillieren muss, sagt: 'Der Alkohol enthemmt die Menschen. Früher hat man aufgehört, wenn einer am Boden lag, heute gibt es eine Verrohung unter den Menschen, da tritt man noch fester zu.' Was das für ein Platz sei, der Alexanderplatz? 'Schön sind andere Plätze', sagt Herr Aue. Ein Kollege fragt: 'Es ist mir schleierhaft, was die Leute hier verloren haben. Wieso muss man unbedingt hier sein?'

Hier, am unwirtlichsten Platz in ganz Berlin. Beton, baumlose Häuserzeilen wie Lego-Riegel, 200000 Fahrgäste, die in dem Labyrinth aus U-Bahn- und S-Bahnlinien und Interregiozügen verloren gehen. Und über allem schwebt: eine Wolke aus Bratfett. Weil Berlin gerade 775 Jahre alt geworden ist, hat die Stadtverwaltung Info-Splitter auf die Trottoirs gedruckt. Ein paar Meter neben dem Ort, an dem Jonny K. zu Tode geprügelt worden ist, steht: 'Zwischen 1391 und 1448 wurden in Berlin 46 Menschen gehenkt, 22 enthauptet, 20 verbrannt, 17 gerädert und 9 lebendig begraben.'

Der Alexanderplatz ist ein architektonischer Wühltisch. Eine Kirche steht hier und ein Bahnhofsgebäude, ein mausgrauer Fernsehturm und eine Weltzeituhr, die die Zeit in Westgrönland anzeigt. Unter ihr wartet in dieser Nacht Oliver auf seine Freunde Tom aus Bratislava und Koldo aus San Sebastian. Oliver kommt aus London, er ist 21 Jahre alt. Nur langsam kommt er voran, weil er an Krücken geht, er ist behindert. Wenn er von Berlin erzählt, strahlt er übers ganze Gesicht. Er studiert hier gerade. Sein Strahlen erlischt, als er erzählt, was in Berlin anders ist im Vergleich zu London: 'In London registrieren die Menschen meine Behinderung und stehen in der U-Bahn sofort auf. In Berlin bleiben alle sitzen, als würden sie mich nicht sehen.'

Der Wind treibt die Menschen in dieser Nacht vor sich her. Sie kommen aus dem Kino, verschwinden in der 'Besenkammer'-Bar und in der 'Alex-Oase', wobei unklar bleibt, was dort die Oase ausmacht. Keine einzige Videokamera überwacht den Platz, hat Herr Aue erzählt. Plötzlich erschallt Musik über den Platz. Ein Straßenmusiker aus den USA mit Gitarre und Verstärker und Kompagnon spielt unter der Bahnhofsbrücke, es geht auf Mitternacht zu. Sein Publikum, das sind die, die kein Geld für die 'Alex-Oase' haben: Heroinabhängige, die sich gerade einen Schuss gesetzt haben, Obdachlose mit Lidl-Tüten, eine aufgekratzte junge schwarze Frau im Trainingsanzug und Plateauschuhen, ein sturzbetrunkenes schwules Paar, rastalockentragende Hippies.

Der Musiker spielt und spielt, und alle klatschen, wenn ein Song ausklingt, froh über das Gratiskonzert, sogar eine Streifenwagenbesatzung hört mit zu. Als der Musiker Leonard Cohens 'Hallelujah' anstimmt, singen alle im Kanon mit, als stünde man jetzt nicht in Taubendreck und Notdurftdunst, sondern im Wohnzimmer von Berlin.

Einer der Polizisten hat gesagt: 'Man kann hier auch eine gute Zeit haben.'

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