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Mit souveräner Schlampigkeit

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Keith Jarrett hat in seinen Schränken herumgekramt und ein paar alte Bänder gefunden. Darauf sind Aufnahmen, die er 1986 bei sich zu Hause mit zwei Kassettenrekordern im altmodischen Overdub-Verfahren gemacht hat. Das heißt, dass er mit E-Gitarren, Fender-Bass, Schlagzeug, Tabla und Klavier, Spur um Spur aufgenommen und dabei immer wieder die Kassetten gewechselt hat, bis er so viele Spuren übereinandergeschichtet hatte, dass sie einen Song ergaben. Mit solchen Puzzeleien hat man früher gerne viel Zeit im Hobbykeller verbracht, bevor Laptops schon ab Fabrik mit semiprofessionellen Studioprogrammen für Mehrspuraufnahmen ausgestattet waren.

Das Ergebnis war meistens etwas ungelenk, weil man nach dem Zusammenfügen der ersten beiden Spuren nichts mehr korrigieren konnte. Das ist bei Keith Jarrett nicht anders. Abgesehen vom Klavier beherrschte er all diese Instrumente ja auch nicht besonders gut. Man ahnt, was er meinte mit den Beats, Bassläufen und Riffs. Immerhin hat er für Miles Davis in genau der Zeit Orgel und E-Piano gespielt, als der gerade den Aufbruch des Jazz in den Rock und den Funk wagte. Aber man ahnt es eben nur.



Das ist Kunst: US-Pianist Keith Jarret wurde auf einem Ausstellungsstück im Museum verewigt.

Weil Keith Jarrett Besuchern aber gerne seine eigenen Aufnahmen vorspielt, bekamen vor nicht allzu langer Zeit ein paar Freunde diese Bänder zu hören. Die freuten sich so sehr darüber, dass der manisch-perfektionistische Überpianist wirklich mal solche ungelenken Hobbykelleraufnahmen gemacht hat, dass sie nun unter dem Titel "No End" (ECM) als Doppel-CD herausgekommen sind.

Das wirkt beim ersten Anhören ein wenig wie das Betrachten von Mugshots von Hollywoodstars, die kurz nach ihrer Verhaftung in meist trunkenem Zustand ungewohnt derangiert wirken. Das Eigenartige an diesem Album aber ist, dass es sich in verschiedenen Kontexten vollkommen unterschiedlich anhört. Es landete beispielsweise am selben Tag auf dem Schreibtisch wie die Deluxe-Version von Velvet Undergrounds "White Light/White Heat". Das hatte die Band 1968 innerhalb von zwei Tagen aufgenommen, nachdem sie gerade ihren Mentor Andy Warhol als Manager und die Eiskönigin Nico als Sängerin gefeuert hatten. Die sechs Songs bestehen zu einem guten Teil aus groben Akkorden, Rückkoppelungseffekten und lapidar dahingesungenen Transvestitensex- und Drogen-Phantasien. Heute gilt das Album als Protoplasma des Punk. Damals war die Platte ein Affront. Sie war aber vor allem einer der ersten Triumphe der Haltung über die Musikalität, die den Pop von den Ansprüchen der bürgerlichen Musiktraditionen befreite.

So gesehen war auch "No End" ein Befreiungsschlag. Keith Jarrett brach mit dem Dogma des Jazz, dass jede Form der Radikalität damit legitimiert werden muss, dass die virtuose Beherrschung des Handwerks ja zwingende Voraussetzung ist, wenn sich der Musiker von Formen und Ästhetik befreit. Was Jarrett da auf den elektrischen Instrumenten und dem Schlagzeug herumexperimentierte, ist mit einer souveränen Schlampigkeit dahingespielt, dass sich sein überlebensgroßes Ego erstmals ohne die Filter seiner Virtuosität und perfekten Akustik der Konzerthallen und Aufnahmestudios manifestiert.

Da stellt sich allerdings gleich die Frage: War er damit 1986 nicht viel zu spät dran, genauso wie The Velvet Underground zu früh kamen? Dave Martino vom amerikanischen Rolling Stone hörte "No End" deswegen im Kontext der Platten, die Steve Fisk für das Label Sub Pop produzierte, als seine Schützlinge Nirvana längst in die Stadien abgewandert waren. Da kompensierten die ersten Bands ihre Erschöpfung der Grunge-Jahre mit Instrumental-Experimenten, denen sie technisch eigentlich nicht gewachsen waren. So gesehen wäre Jarrett in seinem Heimstudio seiner Zeit sogar voraus gewesen.

Man kann "No End" allerdings auch im Kontext seines "Köln Concert"-Albums hören, das er elf Jahre zuvor aufnahm. Die Geschichte der Aufnahme ist Legende - Jarrett war übernächtigt, die Konzertveranstalter hatten ihm einen verstimmten Stutzflügel mit hakenden Pedalen und klemmenden Tasten hingestellt. Jarrett spielte deswegen kaum in den höheren Lagen, vereinfachte seine Kadenzen bis zum Ostinato. Doch genau mit diesem Doppelalbum eroberte er die Herzen des progressiven Bürgertums. Das stand dann neben Dylan, Beatles und Santana in den Regalen von Millionen.

Als Jazzfan gibt einem "The Köln Concert" bis heute Rätsel auf. Was war der Funke, der da aus dem halbinspirierten Geplänkel auf die Massen übersprang? Hört man da gleich im Anschluss "No End", verhärten sich die Zweifel am musikalischen Verständnis dieser Bildungsbürgermassen, die in den ebenfalls römisch durchnummerierten Plattenseiten offenbar Eingebung hörten, wo vielleicht nur egomanische Versenkung war.

Dann sollte man sich "No End" aber auch noch im Kontext von Charles Lloyds "Forest Flower" anhören, jenem Live-Album, auf dem Keith Jarrett im Zusammenspiel mit dem Saxofonisten Lloyd, dem Bassisten Cecil McBee und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette jene übersinnlichen musikalischen Fähigkeiten bewies, die seine Trio-Arbeit mit DeJohnette und dem Bassisten Gary Peacock bis heute in Sphären treibt, die keine andere Jazzformation in dieser Konsequenz über so viele Jahre erreicht hat. Da reduziert sich "No End" zur "Novelty Record". Das waren diese Scherzartikelplatten, wie sie in den Sechzigern in Mode waren, wenn Comic-Backenhörnchen Weihnachtslieder quietschten, die Frau mit der singenden Säge aufspielte oder Filmstars einen Schlager aufnahmen.

Nun ist Keith Jarrett weder für Ironie noch Humor bekannt. Vielleicht bleibt man also am besten dabei, Haltung in das Album hineinzuinterpretieren. Und sei es nur die Haltung, sich selbst in jeder nur erdenklichen Form sehr ernst zu nehmen und dann ein Publikum zu finden, welches das auch tut. Das ist ja durchaus im aktuellen Zeitgeist.

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