Dass der Präsidentschaftskandidat Mitt Romney Mormone ist, kam im amerikanischen Wahlkampf kaum zur Sprache. Früher verfolgte man die Mormonen als Häretiker, heute bewundert man ihre Disziplin und sie genießen Elitestatus
Wenn Mitt Romney am Dienstag gegen Obama verliert, dann auch wegen der Sätze, die er vor einem Jahr bei einer Fernsehdebatte sagte. Er schlug damals vor, die Washingtoner Katastrophenhilfebehörde Fema aufzulösen und ihre Aufgaben den Bundesstaaten zu übertragen. 'Und wenn man sie dem Privatsektor überlassen könnte, wäre das noch besser.' Damals erregte Romneys Äußerung kaum Aufsehen. Doch nachdem Millionen Amerikaner durch den Hurrikan Sandy erfahren haben, wie verwundbar sie in ihren Individualismus-Burgen sind, sieht es anders aus. Eilig musste Romney zurückrudern.
Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass er damals nicht nur als Verfechter der republikanischen Anti-Staats-Orthodoxie gesprochen hatte, sondern auch als Mormone. Romneys Kandidatur, das Abend für Abend ausverkaufte Broadwaymusical 'The Book of Mormon', der Erfolg der 'Twilight'-Saga der Mormonin Stephenie Meyer, die Polygamie-Serie 'Big Love', das Engagement der Kirche gegen die Schwulenehe in Kalifornien, ganz zu schweigen vom ungebremsten Wachstum der Kirche, die mit 15 Millionen Mitgliedern nun zahlenmäßig die Juden überrundet hat: Amerika erlebt gerade den 'Mormon Moment' (Newsweek).
Abzulesen ist das auch an der Flut von Büchern und Artikeln, die die exotische Kultur im eigenen Land analysieren. Die Fragen sind dabei immer dieselben: Wie wurde aus einer Rebellensekte die Religion, die heute konformistische Modellamerikaner hervorbringt? Wie sind die frühsozialistischen Experimente der Mormonen mit ihrer heutigen Business-Nähe vereinbar? Und wie ist es möglich, dass sich die religiöse Rechte hinter einem Mann versammelt, dessen Glauben noch vor wenigen Jahren als Häresie gegeißelt wurde?
Die Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage beginnt 1823, als dem Tagelöhner Joseph Smith aus Palmyra, New York der Engel Moroni erschien und von einem auf goldene Tafeln geschriebenen Buch erzählte, das in der Nähe vergraben sei. Smith grub die Tafeln aus, 'übersetzte' sie, ließ sie als 'Buch Mormon' drucken und predigte dessen Lehren einer schnell wachsenden Gemeinde. Smith war nicht der einzige Sektengründer seiner Zeit. Während der 'Zweiten Großen Erweckung' emanzipierten sich die amerikanischen Christen vom europäischen Protestantismus und etablierten ihre unzähligen Splitterkirchen.
Doch was Smith predigte, dass nämlich Gott 'einst wie wir heute' war, und jedermann Göttlichkeit erreichen könne, dass ein Mann mit jeder Frau, die er heirate, der Erlösung näher komme, ging zu weit. Wo immer sie sich niederließen, stießen Smith und seine Jünger auf gewalttätigen Widerstand. 1844 wurde er von einem Mob in Illinois getötet. Es folgte die strapaziöse Flucht nach Westen - nicht nach Kalifornien oder zu den Goldminen, sondern in die Ebene um den Großen Salzsee in Utah, wo die Mormonen ihr Zion errichten wollten. 'Dies ist der Ort', verkündete Smiths Nachfolger Brigham Young, als die Pioniere über die Wasatch-Berge krochen.
Inmitten der restaurierten Häuschen der ersten Mormonensiedler im 'This Is The Place Heritage Park' wird offensichtlich, wie zentral diese Geschichte für den Erfolg der Religion ist: Sie hat nicht nur kaum übersehbare Parallelen zur Geschichte des Volkes Israel, in ihr wiederholt sich auch die amerikanische Geschichte: Wie die der Intoleranz entfliehenden Europäer, die in Amerika 'God"s Own Country' fanden, ließen auch die Mormonen die alte Ordnung zurück und erfanden ein irdisches Reich Gottes. Für die meisten Mormonen ist die aufgewühlte Frühzeit der Kirche damit beendet. Nun beginnt der Aufstieg Salt Lake Citys zu ihrem Rom und der ihrer Kirche zur Weltreligion. In Wahrheit war es etwas anders. Bei den Mormonen, die auf den Ölschinken der Kirche stets als brave Farmer dargestellt sind, handelte es sich, so John Turner in seiner vor kurzem erschienenen Studie 'Brigham Young: Pioneer Prophet' (2012), um eine wüste Truppe von Fanatikern und Abgebrannten, die der fluchende Westernheld Young nur notdürftig zusammenhielt.
Der Regierung waren Youngs Autonomiebestrebungen zunehmend suspekt. Je mehr die Westexpansion fortschritt, desto weniger passte sein theokratisches 'Deseret' in die amerikanische Landschaft. John Fremont, Präsidentschaftskandidat der Republikaner, machte das 'Ende der beiden Relikte der Barbarei: Polygamie und Sklaverei' 1856 zum Kern seines Wahlprogramms. Als ein Jahr später Bundestruppen nach Salt Lake City geschickt wurden, verkündete Young, eher werde er die Stadt abbrennen, als sich Washington beugen. Doch am Ende blieb Young nichts übrig als das Territorium der Aufsicht Washingtons zu unterstellen. Die langfristige Stärke der Gemeinde ließ sich auch anders sichern. Statt nach außen richtete der begnadete Sozialpolitiker Young nun alle Bemühungen auf die innere Festigung der Gemeinde und ihre wirtschaftliche Stärke. Die Überlebenspraktiken der Pioniere - bis heute hat jede Familie Lebensmittel für ein Jahr zu lagern - kombinierte er mit einem ambitionierten Programm der Umverteilung von Reich zu Arm, ein Gegenmodell zum dank Eisenbahn und Goldrausch grassierenden Materialismus.
Young, so schreibt Turner, 'glaubte, dass der Kapitalismus eine schlimmere Existenz als die Leibeigenschaft hervorbringen könne'. Und sprach das Buch Mormon nicht eine klare Sprache? 'Die Nephiter teilten alle Dinge untereinander. Deshalb gab es keine Reichen und keine Armen, keine Abhängigen und keine Freien. Sie waren alle frei und genossen das himmlische Geschenk.'
Utah war im 19. Jahrhundert, so schreibt der Marxist Mike Davis in seiner Rezension von Turners Buch, die 'einzige real-existierende kommunistische Gesellschaft auf Erden'. Am radikalsten ging es im Städtchen Orderville zu, wo privater Besitz abgeschafft war, in einer öffentlichen Halle gegessen wurde und der Handel mit Nicht-Mormonen verboten war.
Brigham Youngs Warnung vor dem Babylon aus Geld, Minen und Eisenbahnen wirkte nur vorübergehend. Bald nach Youngs Tod 1877 setzten sich die wirtschaftsfreundlichen Kräfte durch. Schließlich gab sich Smiths Lehre ja auch dafür her, und zwar viel eindeutiger als der Protestantismus: Kapitalistische Tüchtigkeit war nicht nur Tugendbeweis, sondern unmittelbare Arbeit an Gottes Reich auf Erden. Und da die meisten Betriebe in Utah - Banken, Bergwerke, Farmen, Kaufhäuser, Zeitungen, Verlage - ohnehin in Kirchenbesitz waren, fielen Profitstreben und kirchliche Arbeit, Beten und Geldverdienen oft in eins. Außerdem partizipiert die Kirche ja am Erfolg ihrer Mitglieder, die ihr bis heute mindestens ein Zehntel ihres Einkommens überlassen.
Doch der Kapitalismus mit Gottes Segen ist in ein System sozialer Absicherung eingebunden, wie es effizienter kein weltlicher Staat errichten könnte. Die wie Großkonzerne arbeitenden Wohlfahrtsorganisationen der Kirche produzieren weltweit Lebensmittel für die Armen; die Frauen sind unermüdlich am Backen und Einmachen für die Nachbarschaft; und alle paar Wochen sehen die 'Bischöfe' bei den Gemeindemitgliedern nach dem Rechten. Was weder mit Steuergeldern noch mit dem Gebot der Nächstenliebe erreicht wird, das gelingt den Mormonen dank der Lehre von der 'eternal progression', von der Erlösung und Gottwerdung, mit der gute Werke belohnt werden. Nicht nur Frömmigkeit zählt, sondern vor allem Disziplin und Effizienz, und der Wille, im Alles-Geben immer perfekter zu werden. Zwei Jahre missionieren auf eigene Kosten, heiraten mit 19, studieren, fünf Kinder, Erfolg im Beruf, abends mit der Familie Hymnen singen, sonntags drei Stunden Messe, und täglich hier helfen und dort anpacken und dabei noch ständig lächeln: so sieht das Leben der Mormonen aus.
Nicht alle halten das durch: Nirgends in den USA wird mehr Prozac verschrieben als in Utah, nirgends ist die Selbstmordrate bei jungen Männern höher. Doch das tut der wachsenden Attraktivität der Kirche ebenso wenig Abbruch wie ihr antiquiertes Frauenbild, die Koffein-, Alkohol- und Nikotinverbote, die Keuschheitsauflagen und der weihevolle Nonsens der Schriften. Die Mormonenkirche ist die einzige, der es gelang, Patriotismus und Pioniergeist in ihre Theologie einzubauen. Da sie keine Priesterkaste kennt, hat jeder die Chance, vom Tellerwäscher zum Apostel zu werden. Auch der fröhliche Engel Moroni, den sich die Kirche statt des traurigen Kreuzes zum Symbol gewählt hat, passt bestens nach Amerika. Think positive!
Nachdem Amerika die Kirche 180 Jahre lang zurechtschliff und modellierte, bis sie für den Mainstream erträglich wurde, strahlt sie nun auf die Mainstream-Kultur zurück. Früher verfolgte man die Mormonen als Häretiker, heute bewundert man ihre Disziplin und konsultiert sie in Managementfragen. Nicht erst seit dem Millionenseller 'Die 7 Wege zur Effektivität' des Mormonen Steven Covey ist die Idee fortwährender Selbstoptimierung aus dem Tugendkatalog der Mormonen in den Alltag aller Ehrgeizigen eingesickert. Während man an der charakterlichen Festigkeit der im liberalen Einerlei Aufgewachsenen zweifelt, genießen junge Mormonen immer öfter Elitestatus. Die einstigen Loser in billigen Anzügen werden von CIA, FBI und Investmentbanken umworben, weil sie nie Drogen nahmen, beim Missionieren Fremdsprachen gelernt haben und mehr Sitzfleisch haben als Harvardabgänger.
Der größte Triumph der Kirche besteht jedoch darin, dass ein Mormone heute die Hälfte der amerikanischen Wählerschaft hinter sich vereinigen kann. Damit, dass das nur möglich war, indem Mitt Romney die Kirche nie erwähnte, kann diese bestens leben. So war in diesem Wahlkampf keine zwanzig Jahre, nachdem die Evangelikalen, die einst schärfsten Feinde der Mormonen, Amerikas mächtigster Wählerblock wurden, von Religion kaum je die Rede. Schwulenehe, Abtreibung, ja, aber Häresie? Wenn kümmern theologische Spitzfindigkeiten?
Präsent ist die Religion allenfalls im Subtext: Wenn Romney dafür eintritt, die staatliche Katastrophenhilfe abzuschaffen, dann spricht da auch einer, der den Staat nicht nur aus vagem Unbehagen hasst wie viele Amerikaner, sondern weil er den Mormonen ihr Zion weggenommen und seinen polygamen Urgroßvater ins mexikanische Exil getrieben hat. Es spricht nicht nur der zynische Multimillionär, der Almosen nie brauchen wird, sondern auch einer, in dessen Welt ein viel effizienteres soziales Netz bereits existiert, und zwar eines, das die Geber geradewegs ins Himmelreich führt.
Was er in jener Debatte wirklich sagen wollte, war: Kommt doch zu uns und werdet Mormonen! Dann braucht ihr euch vor keiner Katastrophe mehr zu fürchten.
Wenn Mitt Romney am Dienstag gegen Obama verliert, dann auch wegen der Sätze, die er vor einem Jahr bei einer Fernsehdebatte sagte. Er schlug damals vor, die Washingtoner Katastrophenhilfebehörde Fema aufzulösen und ihre Aufgaben den Bundesstaaten zu übertragen. 'Und wenn man sie dem Privatsektor überlassen könnte, wäre das noch besser.' Damals erregte Romneys Äußerung kaum Aufsehen. Doch nachdem Millionen Amerikaner durch den Hurrikan Sandy erfahren haben, wie verwundbar sie in ihren Individualismus-Burgen sind, sieht es anders aus. Eilig musste Romney zurückrudern.
Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass er damals nicht nur als Verfechter der republikanischen Anti-Staats-Orthodoxie gesprochen hatte, sondern auch als Mormone. Romneys Kandidatur, das Abend für Abend ausverkaufte Broadwaymusical 'The Book of Mormon', der Erfolg der 'Twilight'-Saga der Mormonin Stephenie Meyer, die Polygamie-Serie 'Big Love', das Engagement der Kirche gegen die Schwulenehe in Kalifornien, ganz zu schweigen vom ungebremsten Wachstum der Kirche, die mit 15 Millionen Mitgliedern nun zahlenmäßig die Juden überrundet hat: Amerika erlebt gerade den 'Mormon Moment' (Newsweek).
Abzulesen ist das auch an der Flut von Büchern und Artikeln, die die exotische Kultur im eigenen Land analysieren. Die Fragen sind dabei immer dieselben: Wie wurde aus einer Rebellensekte die Religion, die heute konformistische Modellamerikaner hervorbringt? Wie sind die frühsozialistischen Experimente der Mormonen mit ihrer heutigen Business-Nähe vereinbar? Und wie ist es möglich, dass sich die religiöse Rechte hinter einem Mann versammelt, dessen Glauben noch vor wenigen Jahren als Häresie gegeißelt wurde?
Die Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage beginnt 1823, als dem Tagelöhner Joseph Smith aus Palmyra, New York der Engel Moroni erschien und von einem auf goldene Tafeln geschriebenen Buch erzählte, das in der Nähe vergraben sei. Smith grub die Tafeln aus, 'übersetzte' sie, ließ sie als 'Buch Mormon' drucken und predigte dessen Lehren einer schnell wachsenden Gemeinde. Smith war nicht der einzige Sektengründer seiner Zeit. Während der 'Zweiten Großen Erweckung' emanzipierten sich die amerikanischen Christen vom europäischen Protestantismus und etablierten ihre unzähligen Splitterkirchen.
Doch was Smith predigte, dass nämlich Gott 'einst wie wir heute' war, und jedermann Göttlichkeit erreichen könne, dass ein Mann mit jeder Frau, die er heirate, der Erlösung näher komme, ging zu weit. Wo immer sie sich niederließen, stießen Smith und seine Jünger auf gewalttätigen Widerstand. 1844 wurde er von einem Mob in Illinois getötet. Es folgte die strapaziöse Flucht nach Westen - nicht nach Kalifornien oder zu den Goldminen, sondern in die Ebene um den Großen Salzsee in Utah, wo die Mormonen ihr Zion errichten wollten. 'Dies ist der Ort', verkündete Smiths Nachfolger Brigham Young, als die Pioniere über die Wasatch-Berge krochen.
Inmitten der restaurierten Häuschen der ersten Mormonensiedler im 'This Is The Place Heritage Park' wird offensichtlich, wie zentral diese Geschichte für den Erfolg der Religion ist: Sie hat nicht nur kaum übersehbare Parallelen zur Geschichte des Volkes Israel, in ihr wiederholt sich auch die amerikanische Geschichte: Wie die der Intoleranz entfliehenden Europäer, die in Amerika 'God"s Own Country' fanden, ließen auch die Mormonen die alte Ordnung zurück und erfanden ein irdisches Reich Gottes. Für die meisten Mormonen ist die aufgewühlte Frühzeit der Kirche damit beendet. Nun beginnt der Aufstieg Salt Lake Citys zu ihrem Rom und der ihrer Kirche zur Weltreligion. In Wahrheit war es etwas anders. Bei den Mormonen, die auf den Ölschinken der Kirche stets als brave Farmer dargestellt sind, handelte es sich, so John Turner in seiner vor kurzem erschienenen Studie 'Brigham Young: Pioneer Prophet' (2012), um eine wüste Truppe von Fanatikern und Abgebrannten, die der fluchende Westernheld Young nur notdürftig zusammenhielt.
Der Regierung waren Youngs Autonomiebestrebungen zunehmend suspekt. Je mehr die Westexpansion fortschritt, desto weniger passte sein theokratisches 'Deseret' in die amerikanische Landschaft. John Fremont, Präsidentschaftskandidat der Republikaner, machte das 'Ende der beiden Relikte der Barbarei: Polygamie und Sklaverei' 1856 zum Kern seines Wahlprogramms. Als ein Jahr später Bundestruppen nach Salt Lake City geschickt wurden, verkündete Young, eher werde er die Stadt abbrennen, als sich Washington beugen. Doch am Ende blieb Young nichts übrig als das Territorium der Aufsicht Washingtons zu unterstellen. Die langfristige Stärke der Gemeinde ließ sich auch anders sichern. Statt nach außen richtete der begnadete Sozialpolitiker Young nun alle Bemühungen auf die innere Festigung der Gemeinde und ihre wirtschaftliche Stärke. Die Überlebenspraktiken der Pioniere - bis heute hat jede Familie Lebensmittel für ein Jahr zu lagern - kombinierte er mit einem ambitionierten Programm der Umverteilung von Reich zu Arm, ein Gegenmodell zum dank Eisenbahn und Goldrausch grassierenden Materialismus.
Young, so schreibt Turner, 'glaubte, dass der Kapitalismus eine schlimmere Existenz als die Leibeigenschaft hervorbringen könne'. Und sprach das Buch Mormon nicht eine klare Sprache? 'Die Nephiter teilten alle Dinge untereinander. Deshalb gab es keine Reichen und keine Armen, keine Abhängigen und keine Freien. Sie waren alle frei und genossen das himmlische Geschenk.'
Utah war im 19. Jahrhundert, so schreibt der Marxist Mike Davis in seiner Rezension von Turners Buch, die 'einzige real-existierende kommunistische Gesellschaft auf Erden'. Am radikalsten ging es im Städtchen Orderville zu, wo privater Besitz abgeschafft war, in einer öffentlichen Halle gegessen wurde und der Handel mit Nicht-Mormonen verboten war.
Brigham Youngs Warnung vor dem Babylon aus Geld, Minen und Eisenbahnen wirkte nur vorübergehend. Bald nach Youngs Tod 1877 setzten sich die wirtschaftsfreundlichen Kräfte durch. Schließlich gab sich Smiths Lehre ja auch dafür her, und zwar viel eindeutiger als der Protestantismus: Kapitalistische Tüchtigkeit war nicht nur Tugendbeweis, sondern unmittelbare Arbeit an Gottes Reich auf Erden. Und da die meisten Betriebe in Utah - Banken, Bergwerke, Farmen, Kaufhäuser, Zeitungen, Verlage - ohnehin in Kirchenbesitz waren, fielen Profitstreben und kirchliche Arbeit, Beten und Geldverdienen oft in eins. Außerdem partizipiert die Kirche ja am Erfolg ihrer Mitglieder, die ihr bis heute mindestens ein Zehntel ihres Einkommens überlassen.
Doch der Kapitalismus mit Gottes Segen ist in ein System sozialer Absicherung eingebunden, wie es effizienter kein weltlicher Staat errichten könnte. Die wie Großkonzerne arbeitenden Wohlfahrtsorganisationen der Kirche produzieren weltweit Lebensmittel für die Armen; die Frauen sind unermüdlich am Backen und Einmachen für die Nachbarschaft; und alle paar Wochen sehen die 'Bischöfe' bei den Gemeindemitgliedern nach dem Rechten. Was weder mit Steuergeldern noch mit dem Gebot der Nächstenliebe erreicht wird, das gelingt den Mormonen dank der Lehre von der 'eternal progression', von der Erlösung und Gottwerdung, mit der gute Werke belohnt werden. Nicht nur Frömmigkeit zählt, sondern vor allem Disziplin und Effizienz, und der Wille, im Alles-Geben immer perfekter zu werden. Zwei Jahre missionieren auf eigene Kosten, heiraten mit 19, studieren, fünf Kinder, Erfolg im Beruf, abends mit der Familie Hymnen singen, sonntags drei Stunden Messe, und täglich hier helfen und dort anpacken und dabei noch ständig lächeln: so sieht das Leben der Mormonen aus.
Nicht alle halten das durch: Nirgends in den USA wird mehr Prozac verschrieben als in Utah, nirgends ist die Selbstmordrate bei jungen Männern höher. Doch das tut der wachsenden Attraktivität der Kirche ebenso wenig Abbruch wie ihr antiquiertes Frauenbild, die Koffein-, Alkohol- und Nikotinverbote, die Keuschheitsauflagen und der weihevolle Nonsens der Schriften. Die Mormonenkirche ist die einzige, der es gelang, Patriotismus und Pioniergeist in ihre Theologie einzubauen. Da sie keine Priesterkaste kennt, hat jeder die Chance, vom Tellerwäscher zum Apostel zu werden. Auch der fröhliche Engel Moroni, den sich die Kirche statt des traurigen Kreuzes zum Symbol gewählt hat, passt bestens nach Amerika. Think positive!
Nachdem Amerika die Kirche 180 Jahre lang zurechtschliff und modellierte, bis sie für den Mainstream erträglich wurde, strahlt sie nun auf die Mainstream-Kultur zurück. Früher verfolgte man die Mormonen als Häretiker, heute bewundert man ihre Disziplin und konsultiert sie in Managementfragen. Nicht erst seit dem Millionenseller 'Die 7 Wege zur Effektivität' des Mormonen Steven Covey ist die Idee fortwährender Selbstoptimierung aus dem Tugendkatalog der Mormonen in den Alltag aller Ehrgeizigen eingesickert. Während man an der charakterlichen Festigkeit der im liberalen Einerlei Aufgewachsenen zweifelt, genießen junge Mormonen immer öfter Elitestatus. Die einstigen Loser in billigen Anzügen werden von CIA, FBI und Investmentbanken umworben, weil sie nie Drogen nahmen, beim Missionieren Fremdsprachen gelernt haben und mehr Sitzfleisch haben als Harvardabgänger.
Der größte Triumph der Kirche besteht jedoch darin, dass ein Mormone heute die Hälfte der amerikanischen Wählerschaft hinter sich vereinigen kann. Damit, dass das nur möglich war, indem Mitt Romney die Kirche nie erwähnte, kann diese bestens leben. So war in diesem Wahlkampf keine zwanzig Jahre, nachdem die Evangelikalen, die einst schärfsten Feinde der Mormonen, Amerikas mächtigster Wählerblock wurden, von Religion kaum je die Rede. Schwulenehe, Abtreibung, ja, aber Häresie? Wenn kümmern theologische Spitzfindigkeiten?
Präsent ist die Religion allenfalls im Subtext: Wenn Romney dafür eintritt, die staatliche Katastrophenhilfe abzuschaffen, dann spricht da auch einer, der den Staat nicht nur aus vagem Unbehagen hasst wie viele Amerikaner, sondern weil er den Mormonen ihr Zion weggenommen und seinen polygamen Urgroßvater ins mexikanische Exil getrieben hat. Es spricht nicht nur der zynische Multimillionär, der Almosen nie brauchen wird, sondern auch einer, in dessen Welt ein viel effizienteres soziales Netz bereits existiert, und zwar eines, das die Geber geradewegs ins Himmelreich führt.
Was er in jener Debatte wirklich sagen wollte, war: Kommt doch zu uns und werdet Mormonen! Dann braucht ihr euch vor keiner Katastrophe mehr zu fürchten.