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Spiele der Wahrheit

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Ein Moment an der Ampel, damit geht alles los. Adèle, siebzehn Jahre alt, träumt in den Tag hinein. Mit offenen Augen und offenem Schmollmund, die Frisur leicht aufgelöst, bereit für das Leben, das man ihr versprochen hat. Und eines Tages sieht sie, auf der anderen Straßenseite, das Mädchen mit den blauen Haaren.

So präsent. So siegessicher. Den Arm voll Besitzerstolz um die Freundin gelegt. Helles Lachen, ein bisschen dreckig. Dann gehen sie aneinander vorbei, ihre Blicke treffen sich, versenken sich ineinander – und Adèle muss stehenbleiben. Autos hupen. Etwas ist mit ihr geschehen.



Der Film "Blau ist eine warme Farbe" von Abdellatif Kechiche startet in den deutschen Kinos. Die Sexszenen fallen in den USA unter Pornoverdacht.

Dieser Moment an der Ampel, damit ging auch der Dreh von „La vie d’Adèle“ los, der nun endlich in unsere Kinos kommt, unter dem Titel „Blau ist eine warme Farbe“. Abdellatif Kechiche, der französisch-tunesische Regisseur, ließ die Szene gleich einhundert Mal drehen, manisch, insistierend, am Ende brüllend. Das weiß man inzwischen, weil seine beiden Hauptdarstellerinnen es erzählt haben, noch immer ein bisschen fassungslos: wie Überlebende einer Expedition ins Innere, die weit über ihre Grenzen hinausging.

Und man kann nicht sagen, dass ihre Qualen umsonst waren, oder dass man diese Intensität nicht spürt. Der Film ist ein Trip, drei Stunden lang und doch beinah atemlos, aufgeladen in jeder Sekunde. Zwei Körper, zwei Seelen im Vollkontakt, die erste große Liebe für Adèle, der erste gewaltige Sex, der erste Verlust, das erste Mal sterben wollen und doch weitergehen, hinein in das endlose Niemandsland, das man Erwachsensein nennt.

Man kann nun nicht sagen, die Teilnehmer dieser Expedition wären nicht belohnt worden. Im Mai in Cannes, wo der Film wie eine Bombe einschlug, haben sie alle drei zusammen die Goldene Palme gewonnen: Adèle Exarchopoulos als Adèle, damals gerade 19 Jahre alt, noch fast unbekannt; Léa Seydoux als Emma, das Mädchen mit den blauen Haaren, schon berühmt und viel erfahrener; und eben Abdel Kechiche, der zuvor etwa „Couscous mit Fisch“ gemacht hat, Immigrantenkino, das zugleich die Kulturnation Frankreich zu feiern wusste. Auch hier ist er wieder geleitet von einem Klassiker, Marivaux’ „La vie de Marianne“. Die Jury um Steven Spielberg vergab den Hauptpreis an ein Trio – bisher einmalig in der Geschichte des Festivals.
Blut, Schweiß, Tränen, Triumph. Und dann die Erleichterung, dass diese unglaubliche Entblößung und Selbstentblößung nicht gleich zurückgewiesen, nicht sofort als spekulativ verdammt, nicht total seziert wurde. Das war das Glück von Cannes. Es sollte nicht halten.

Die beiden Schauspielerinnen, die fünf Monate lang bis zur Totalerschöpfung die Wahrheit ihrer Körper und Seelen erforscht hatten, wollten über diesen harten Prozess dann auch berichten. Wahrheitsgemäß. Auch was die Sexszenen betraf. Was, wenn man die entsprechenden Interviews liest, gar nicht wirklich ein Angriff war – eher ein Staunen darüber, welch weiten Weg sie zurückgelegt hatten. Der Regisseur aber, der für das alles ebenfalls Kopf und Kragen riskiert hatte, von der endlosen Überziehung seiner Drehzeit bis hin zum lebenslangen Hass der Konservativen in Tunesien, seinem Geburtsland, sah sich als Monster hingestellt, seinen Film beschmutzt, seine Ehre verletzt. Nur die Goldene Palme, erklärte er, habe ihn vor dem professionellen Ruin gerettet.

Er schlug öffentlich zurück, nannte vor allem Léa Seydoux privilegiert, mimosenhaft, karrierebesessen. Nun herrscht erbitterte Feindschaft. Und im Fokus der Welt stehen die ziemlich langen, ziemlich expliziten lesbischen Bettszenen, die auch die amerikanische Filmkritik – Pornoverdacht ! – umtreiben wie schon lange nichts mehr. Julie Maroh, die lesbische Autorin der Comicbuch-Vorlage, heizte die Debatte noch an, als sie berechtigte Repräsentationswünsche ihrer Minderheit ins Spiel brachte: „Was am Set offenbar fehlte, waren Lesben“, schrieb sie in ihrem Blog.

Obwohl es ein böser Fehler wäre, diesen dreistündigen Film auf zehn Minuten Sex zu reduzieren, soll doch kurz gesagt werden, dass all diese Debatten ganz folgerichtig sind. Es gibt eben nicht, wie gern behauptet wird, eine Art unüberwindliche Firewall zwischen Kino und Pornografie. Hier wie dort geht es, mitten in einer Wüste aus gefälschten Gefühlen, die beide Industrien am Laufen halten, um die seltenen Goldnuggets einer möglichen Wahrheit. Die suchen wir eben überall – im verstörend realen Zusammenbruch vor der Filmkamera genauso wie in der raren Pornoszene, in der wir echtes Begehren entdecken. Hier wie dort können wir uns täuschen – aber um genau diese Spiele der Wahrheit geht es ja.

„Blau ist eine warme Farbe“ ist nun ein Film mit gewaltigem Wahrheitsanspruch – wer 100 Takes für eine Szene dreht, gibt sich mit weniger gar nicht zufrieden. Auch die Sexszenen wollen dem standhalten, egal ob mit lesbischem, schwulen oder Heteroblick betrachtet – und wenn sie doch ein wenig abfallen, dann nur, weil alles andere eben noch überzeugender ist.

Sensationell zum Beispiel der Moment, wenn Léa Seydoux überlegt, ihre neue Bekanntschaft Adèle auf den Mund zu küssen, und dann doch auf die Wange ausweicht – was da alles in ihrem Blick passiert, zwischen Angriffslust und Entsagung, ist toll. Oder wenn Adèle Exarchopoulos eine Szene spielt, in der sie ihre große Liebe anlügen muss – während die Angst in ihrem Blick sie schon erschütternd verrät; schließlich die Sequenz, wo sie ohne rechten Grund, aus einer Eingeschnapptheit der Jugend heraus, mit einem Mann fremdgegangen ist und von Emma verstoßen wird – wie da die Tränen laufen und der Rotz aus der Nase fließt, das hat eine wirklich erschütternde Wucht. Am Ende des Films, der chronologisch gedreht wurde, sind die Gesichter von Emma und Adèle dann härter und illusionsloser geworden, als habe sich ein Stück Leben darin eingegraben – auch wenn es in Wahrheit wohl nur die Strapazen der Dreharbeiten gewesen sind.

Weil schon diese unmittelbarste Ebene des Films so packend ist, könnte man ihn nun leicht für eine naive, etwas brachiale Wahrheitssuche halten. Das Gegenteil ist der Fall: Wie schon sein „Vénus Noire“ bewiesen hat, ist der Männerblick, den Abdel Kechiche auf die Frauen wirft, höchst reflektiert, die Fallstricke sind ihm nur allzu bewusst. Es gibt wissende, vielleicht sogar höhnische zitierte Diskurse über Kunst, Voyeurismus und weibliche Lust. Zwischen den beiden Liebenden tut sich ein ganzer Abgrund an unterschiedlichen Ambitionen und Klassengegensätzen auf, den sie am Ende nicht überwinden können, und eine fast komische „Sexpolizei“ unter Adèles Mitschülerinnen reflektiert den sozialen Geständniszwang der Gegenwart genauso wie die noch immer politische Dimension des Lesbischseins.

Doch so interessant und klug das alles sein mag – man wird doch immer wieder fast magisch zu Emma und Adèle hingezogen, die diesen Film in zahllosen Großaufnahmen dominieren. Diskurse kann man schließlich überall haben. Aber solche Gesichter – die gehören dem Kino allein.

La vie d'Adèle, Chapitre 1 & 2 – Regie: Abdellatif Kechiche. Buch: Kechiche, Ghalia Lacroix. Kamera: Sofian El Fani. Mit Léa Seydoux, Adèle Exarchopoulos, Salim Kechiouche. Alamode, 180 Min.

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