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„Ich dominiere das Bild, das ich von mir zeige“

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Das wache, junge Gesicht aus dem Film sieht müde aus. Der Medientrubel, das Reisen, die Kontroversen haben feine Ringe unter ihre haselnussbraunen Augen gezeichnet. Am Montagmorgen nach der Verleihung des Europäischen Filmpreises sitzt Adèle Exarchopoulos im Schneidersitz zwischen halb gepackten Koffern auf dem Boden ihres Berliner Hotelzimmers. Ungeschminkt, weißes Shirt, schwarze Hose. Ihr Frühstück ist eine Zigarette. Mit der freien Hand fährt sie sich durchs nasse Haar, spricht mit einer ungezwungenen Mischung aus Englisch und Französisch – so unverstellt und unmittelbar wie in den unzähligen Nahaufnahmen des Films.



Adèle Exarchopoulos, 20 Jahre alt, Preisträgerin der Goldenen Palme von Cannes.

SZ: Nach drei Stunden des Films „Blau ist eine warme Farbe“ kennt der Zuschauer buchstäblich jede Pore Ihres Körpers. Wie gehen Sie mit dieser ungeheuren Nähe um – jetzt, wo Sie mit dem Film herumreisen und so viele Reaktionen bekommen?
Adèle Exarchopoulos: Alles begann im Mai in Cannes, und das war vollkommen unwirklich für mich. Es ging so rasend schnell, ich hatte gar keine Zeit nachzudenken. Meine Familie war dabei, und eigentlich habe ich meine ganze Nervosität auf die Tatsache übertragen, dass sie mich nackt sehen werden, sich vielleicht schämen würden. Es ist ja nicht so, dass mich Sexszenen überhaupt nicht in Verlegenheit bringen – aber ich hatte vorher ein Jahr Zeit, mich daran zu gewöhnen. Trotzdem ist es eigenartig, was der Film mit den Zuschauern macht. Nach der Vorstellung kamen Fremde auf mich zu und sagten: „Ich habe das Gefühl, dich zu kennen.“ Insofern war es die harte Arbeit wert.

Fühlten Sie sich manchmal ausgestellt, im voyeuristischen Sinn?
Nein. Niemals. Ich bin ja kein Objekt, kein Opfer. Ich dominiere das Bild, das ich von mir zeige. Auch wusste ich von Anfang an, auf was ich mich einlasse: darauf nämlich, alles, wirklich alles zu zeigen, was dieses Mädchen Adèle erlebt und fühlt. Und das alles auch natürlich darzustellen, mit kleinen Gesten. Die einfachen, alltäglichen Handlungen – das fand ich viel schwerer, als etwa vor der Kamera zu weinen.

Und die Liebe zu einer Frau zu spielen?
Das war weniger ein Problem. Ein Mädchen zu spielen, das jungfräulich ist, zerbrechlich, unsicher und ohne jede Erfahrung – das fand ich schwerer. Und auch die ersten, unbeholfenen Versuche, verführerisch zu sein.

Adèle ist das emotionale Zentrum des Films, wandelt sich vom Schulmädchen zur selbstbewussten jungen Lehrerin.
Tatsächlich war das am schwersten, diesen Prozess des Erwachsenwerdens zu spielen, den Adèle selbst ja gar nicht bemerkt. Es geht nicht nur um den Übergang von der Schule ins Leben, es geht ums Lernen ganz allgemein. Wenn man das erste Mal verliebt ist, kennt man noch keine Regeln, keine Grenzen, weiß nicht, wie man sich schützen soll. Man gibt sich voll hin.

Wichtig wird auch der Klassenunterschied zwischen Adèle und ihrer großen Liebe Emma, der letztlich alles überschattet...
Für mich ist der Klassenunterschied gar nicht der wichtigste Grund für das Scheitern dieser Liebe. Es liegt vielmehr daran, dass sie aufhören, miteinander zu reden. Sie sind sich so nah, dass sie es viel zu spät bemerken. Für Abdellatif Kechiche, unseren Regisseur, wiegen die sozialen Unterschiede sicherlich schwerer. Er spielt auch damit: Emma denkt, sie sei Bohème, ein Freigeist, ganz unabhängig. Sie ist es aber nur vermeintlich. Gleichzeitig findet sie Adèles Ambitionen spießig.

Das Verhältnis zu Ihrer Schauspielpartnerin Léa Seydoux wirkt nicht nur im Film sehr eng – bei der Pressekonferenz in Cannes hatte man den Eindruck, Sie sind echte Komplizinnen...
Ja, wir haben uns vom ersten Moment an verstanden. Es war wie eine plötzliche, wilde Schwärmerei, nur eben freundschaftlich. Unsere erste gemeinsame Szene war ja gleich eine der Nacktszenen. Wir mussten das Eis sofort brechen.

Die allererste Szene, in der Sie gemeinsam gespielt haben, war die Sexszene?
Ja. Die allererste!
Das war vom Regisseur so beabsichtigt?
Ja, auf jeden Fall. Trotzdem war die Nähe zwischen uns sehr natürlich, nicht gezwungen. Wir haben während der fünf Monate am Set wirklich alles miteinander geteilt, uns unterstützt und getröstet. Wir waren enge Freunde – und sind es immer noch. Im Sommer haben wir zusammen Urlaub in der Provence gemacht.

Léa Seydoux ist ja schon länger ein Star des französischen Films, hat auch schon mit Quentin Tarantino, Ridley Scott und Woody Allen gearbeitet. Was haben Sie von ihr lernen können?
Sie hat mir nie einen konkreten Ratschlag gegeben, aber ich habe viel beim Beobachten gelernt. Sie kam wirklich unglaublich gut vorbereitet ans Set. Wenn man, wie sie, tatsächlich versucht, seine Figur zu verstehen, schafft man es auch, sie zu bestimmen und sich zu eigen zu machen. Léa hat aber auch natürliches Talent. Ihr Gesicht ist die perfekte Projektionsfläche. Sie kann alles sein, was du willst. Das ist es, was für mich eine Schauspielerin ausmacht.

Ihre zahllosen Nahaufnahmen wirken oft, als seien Sie sich der Kamera gar nicht mehr bewusst gewesen. Wie schafft man das?
Wir haben die Kameras wirklich vergessen, weil sie ständig um uns herum waren. Für Abdellatif war es wichtig, uns niemals räumlich oder zeitlich festzulegen – das war eine seiner Regeln. Manchmal hat er die Kamera eine Stunde laufen lassen, während wir improvisierten. Und manchmal wusste ich noch nicht einmal, wann die Aufnahme begann, oder wo die Kameras standen. In einer Szene filmte mich ein Kameramann vom Ast eines Baumes aus.
Klingt fast nach Überwachung à la Big Brother.
Jedenfalls waren die Kameras nicht fremd, sondern Teil der Erfahrung. Es ist schwer zu erklären. Bei den langen Szenen hat es geholfen, dass Abdellatif die Aufnahme nicht ständig unterbrach. Am Set war ich die ganze Zeit Adèle, die Figur. Es fühlte sich aber nicht unbedingt künstlich an, diese Figur zu spielen – nicht weil wir denselben Namen tragen, sondern weil es so wenig Regieanweisungen gab. Abdellatif will nicht, dass man eingeengt ist. Er würde dir niemals sagen, auf welchen Markierungen du stehen und wie du dich bewegen sollst. Ich denke, dieser Realismus ist der Grund, warum er Filme macht. Er will ganz nah bei der Wahrheit bleiben.

Léa Seydoux und Sie haben in Interviews gesagt, Kechiche wäre auch herrisch, rücksichtslos, gar tyrannisch gewesen – ein „gepeinigtes Genie“, dessen Manipulationen schwer zu ertragen waren. War es wirklich so schrecklich, oder wurde das von den Medien aufgebauscht?
Beides zugleich. Natürlich haben sich alle darauf gestürzt, was wir über die Dreharbeiten gesagt haben, und jeder hat daraus seine eigene Geschichte gemacht. Wir wollten Abdellatif weder denunzieren, noch uns selbst als Opfer darstellen. Aber ja, er ist ein sonderbarer Mann. Er verlangt von dir, alles zu geben – weil er das selbst tut. Er will, dass du wirklich an deine Grenzen gehst, dich völlig in der Geschichte verlierst, auch wenn das heißt, dass ein und dieselbe Szene eine ganze Woche lang wieder und wieder gedreht wird. Es war unendlich anstrengend, nicht zu wissen, wo er dich hinführt, einfach immer weiterzumachen. Aber ich habe auch nach und nach verstanden, dass er niemals eine Einstellung beendet hätte, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, das Beste aus mir herausgeholt zu haben.

Könnte es sein, dass große Kunst immer auch etwas mit Leiden zu tun hat?
Vielleicht bin ich noch zu jung, um das zu beantworten. Natürlich findet da eine Art der Manipulation statt zwischen Regisseur und Darsteller. Ich meine das aber überhaupt nicht negativ. Ich halte das für etwas sehr Menschliches. Genauso wie Selbstzweifel. Es gehört dazu.

Diese seltsame Abhängigkeit ist also auch Teil der Faszination für Sie?

Ich muss dem Regisseur blind vertrauen, ja. Und ich mag diese Art von Zusammenspiel auch – es ist Teamarbeit. Natürlich ist es erniedrigend, wenn du von drei Kameras gefilmt wirst, während du stundenlang Orgasmen vortäuschst. Aber er hat uns keine Befehle gegeben. Er ist nicht wie Hitchcock, sieht seine Schauspielerinnen nicht als bloße Objekte. Es geht ihm um die ehrliche Darstellung intimer Momente.

Würden Sie noch einmal mit ihm zusammenarbeiten?

Nicht in nächster Zeit. Aber ja! Er ist einer der besten Regisseure des französischen Kinos. Es wäre merkwürdig, Nein zu sagen.

Julie Maroh, die Zeichnerin der Graphic Novel, die dem Film zugrunde liegt, kritisierte die Sexszenen als „lächerlich“. So hätten Frauen keinen Sex miteinander. Was sagen Sie dazu?
Ich hatte leider nie die Gelegenheit, sie zu treffen. Ich finde ihre Graphic Novel toll, verstehe den Sinn dieser Diskussion aber nicht. Ich bin sogar ein bisschen enttäuscht über ihre Kritik. Man muss doch nicht lesbisch sein, um zu wissen, wie man mit einer Frau schläft. Hieße das nicht, dass jede Frau ohne Erfahrung es erst einmal nicht richtig macht? Das würde ja dann auch für Heterosexuelle gelten. Auch ist es gar kein Film über Homosexualität.
Sondern?
Über die Liebe zwischen zwei Menschen. Ich finde, es kann einem vieles an der Szene missfallen: die Lichtsetzung, die schauspielerische Leistung oder die vielen Nahaufnahmen. Aber du kannst doch nicht sagen, dass Lesben so keinen Sex haben. Wer bist du denn, um das zu wissen? Dafür ist Sex zu individuell. Ich finde solche Aussagen sehr gefährlich, weil sie Menschen in Schubladen stecken. Genauso wie es zu einfach ist, den Film darauf zu reduzieren, dass ein alter Regisseur zwei junge Darstellerinnen vor seiner Kamera Sexszenen spielen lässt. Für mich ist das eine viel zu eingeschränkte Sichtweise – auf Sex, auf Kino, auf die Dinge im Allgemeinen.

Sie sind gerade erst zwanzig Jahre alt geworden und haben bereits eine Goldene Palme gewonnen – mit Seydoux und Kechiche zusammen. Jetzt sind Sie eine von nur drei Frauen, die den prestigeträchtigen Preis je erhalten haben. Wie fühlt sich das an?
Ich denke, so richtig habe ich das noch gar nicht begriffen. Am Anfang habe ich einfach gedacht: „Cool, ich werde mit dem Film auf Weltreise gehen.“ Ohne zu verstehen, was das bedeutet. Selbstverständlich spüre ich Druck von außen. Es wird viel von mir erwartet, dabei weiß ich noch nicht mal selbst genau, wozu ich fähig bin. Deutschland ist eines der letzten Länder, das ich für „Blau ist eine warme Farbe“ besuche. Es ist gleichzeitig traurig und aufregend, von hier aus weiterzumachen. Ich freue mich auf die neuen Projekte. In Sara Forestiers „Qui vive“ spiele ich eine Stotterin. Beruhigend ist es auf jeden Fall zu wissen, dass ich eben so schnell wieder aus dem Licht in den Schatten zurückkehren kann, wenn ich mal eine falsche Rollenentscheidung treffe. Es ist wichtig, zu scheitern. Perfektion ist langweilig.

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