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Wahlen nach Zahlen

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Das Ende der politischen Überzeugungskraft - den US-Wahlkampf haben nicht die Redner, sonder die Rechner gewonnen

Amerika hat gewählt. Es war mit Abstand der teuerste Wahlkampf aller Zeiten: Beide Kandidaten haben zum ersten Mal in der Geschichte je mehr als eine Milliarde Dollar ausgegeben. Der Startschuss für diese Propagandaschlacht fiel im Januar 2010, als der Oberste Gerichtshof in einer Grundsatzentscheidung (Citizens United v. Federal Election Commission) urteilte, künftig besäßen auch Unternehmen volle Redefreiheit - und dürften daher für Politik so viel Geld ausgeben, wie sie eben lustig sind.



Begabter Redner: (Noch-)Präsident Barack Obama

Kritiker hatten dieses Urteil schnell auf zwei Kernsätze reduziert: 1. Auch Unternehmen sind Bürger; 2. Auch Geld ist (freie) Rede. Damit wurde das traditionell heroische Politikverständnis, das noch im Wahlkampf 2008 eine so große Rolle gespielt hatte, fundamental infrage gestellt: die Annahme, dass Präsident wird, wer die besten Reden hält.

'The power of the presidency is the power to persuade', hatte Richard Neustadt, Gründer der Kennedy School of Government an der Harvard University, im Jahr 1960 geschrieben: 'Die Macht des Präsidenten liegt in seiner Überzeugungskraft'. Der Satz ist in der amerikanischen Politikwissenschaft wahrscheinlich auch deshalb so bekannt geworden, weil man sofort die passenden Filmszenen vor Augen hat - etwa den kernig in die Menschenmenge blickenden Kirk Douglas als Spartacus: 'Ich weiß, dass wir Brüder sind - und ich weiß, dass wir frei sind.' Und dann alle so: 'Yay!'

Diese Zeiten sind heute längst vorbei. Um überhaupt gehört werden zu können, müsste Spartacus zunächst ein paar schwerreiche Sandalenfabrikanten davon überzeugen, ihm Milliarden Sesterzen zu geben: Irgendwer muss die Mikrofone, Werbeblöcke, Wahlkampfteams ja bezahlen. Wenn Spartacus das alles organisiert hat, ist es im Anschluss ziemlich unwichtig, was er tatsächlich sagt - so behauptet zumindest eine ganze Menge neuer Forschungen.

Sie zeigen, dass die Bedeutung politischer Reden seit Jahren systematisch überschätzt wird. George Edwards, Direktor am Center for Presidential Studies an der Texas A. & M. University, hat die Ansprachen von Präsidenten auf ihre öffentliche Wirkung jahrelang untersucht. In seinem Buch 'On Deaf Ears: The Limits of the Bully Pulpit' (Yale University 2003) knöpft er sich etwa die Radio-'Kamingespräche' von Franklin Delano Roosevelt vor, die immer wieder als hervorragendes Beispiel für politische Überzeugungskraft angeführt werden. Tatsächlich verbesserten sie Roosevelts Zustimmungsrate um gerade mal ein Prozent.

Oder Bill Clinton. Als der zwischen Januar 1993 und November 1994 mehr als 200 Mal in fast 200 Städten auftrat, um sich, seine Partei und seine Gesundheitsreform zu verkaufen, fielen seine Umfragewerte, die Reform scheiterte und die Republikaner übernahmen zum ersten Mal seit über vierzig Jahren die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Clinton zog daraus die offensichtlich widersinnige Lehre, er hätte 'mehr Zeit investieren sollen, um mit dem amerikanischen Volk zu sprechen.'

Das Marktforschungsunternehmen Gallup hat bis 1978 zurückverfolgt, was die 'Ansprache zur Lage der Nation' bewirkt, für die sich jedes Jahr fast ganz Amerika vor den Fernsehern versammelt. Fazit: 'Trotz der großen Aufmerksamkeit haben sie die Wertschätzung des Präsidenten kaum jemals bedeutend beeinflusst.' 2012 waren am Tag der Ansprache 46 Prozent der Leute für Obama - eine Woche später waren es 47 Prozent. Was der Präsident sagt, ist den meisten Leuten also vollkommen egal. Nur ganz wenige hören überhaupt zu - die meisten von ihnen, um danach genau zu wissen, woran sie ganz sicher nicht glauben. In ihrem Buch 'Beyond Ideology' (University of Chicago Press 2009) hat die an der University of Maryland lehrende Politikwissenschaftlerin Frances E. Lee die Daten von mehr als 8000 Abstimmungen im US-Senat untersucht. Ihr Ergebnis: Die Rede eines Präsidenten hat große Überzeugungskraft - aber nur in der eigenen Partei. Die andere dagegen, für die jeder Erfolg des Präsidenten eine Niederlage ist, zwingt die Präsidentenrede sofort in die Opposition. Das passierte etwa Barack Obama, als er sich für seine landesweite Gesundheitsreform an dem Modell orientierte, das Mitt Romney unter lautem Beifall seiner republikanischen Kollegen in Massachusetts durchgesetzt hatte: Romney und die Republikaner waren von da an erbittert dagegen. Ein Präsident, der etwas durchsetzen will, sollte also besser wissen: Schweigen ist Gold.

Worte verhallen also weitgehend ungehört, stattdessen beginnen die Zahlen zu sprechen: Der Journalist Sasha Issenberg hat in seinem im September erschienenen Buch 'The Victory Lab: The Secret Science of Winning Campaigns' (Crown Publishers, New York 2012) beschrieben, wie heute Präsidenten gemacht werden. Sogar mit einer Milliarde Dollar in der Tasche hat man nie genug Geld, Zeit oder Angestellte, um jemanden zu überzeugen, der grundsätzlich anderer Meinung ist. Was dagegen in immer größerem Überfluss zur Verfügung steht, sind Daten - und damit ein immer präziseres Wissen darüber, wer schon jetzt der eigenen Meinung ist.

Anstatt in ein weitgehend wirkungsloses Flächenbombardement investieren die Parteien also lieber in Präzisionswaffen, um Wähler zu mobilisieren: Weil aus den Daten klar wurde, dass Golfspieler eher für Bush sind, schaltete dessen Kampagne 2004 Werbeblöcke auf dem Golf Channel. Die Nachrichten aus dem Bush-Lager variierten damals von Straße zu Straße: Latino-Viertel wurden eher über Bushs 'Ja' zur Einwanderung informiert, christliche Gegenden eher über sein 'Nein' zur Abtreibung. Der Journalist Tobias Moorstedt, der im Oktober dieses Jahres zwei Wochen beim 'Team Obama' mitgearbeitet hat, berichtete jüngst in der Zeitschrift Neon, worin diese Entwicklung gipfelt: Er sei 'bei Hunderten Hausbesuchen und Telefonanrufen (...) kein einziges Mal auf einen Republikaner oder Romney-Fan' getroffen - so genau wusste die Software Votebuilder über Obamas Zielgruppe Bescheid.

Die Politik ist also in einer paradoxen Lage. Einerseits handelt sie selbst immer rationaler: Sie arbeitet mit Methoden - komplexer Datenanalyse, randomisierten Studien - die eher in die Wissenschaft gehören und in der Politik lange unbekannt waren. Die Zeit der Literaturkritik ('Oh, das ist aber ein gutes Argument, und wie schön Sie das gesagt haben!') scheint dabei weitgehend vorbei zu sein. Andererseits werden der Gegenstand und das Ziel der Politik - der Bürger bzw. Wähler - zunehmend zum irrationalen Meerschweinchen, mit dem es sich nicht mehr zu sprechen, geschweige denn zu argumentieren lohnt.

So schreiben die Politikwissenschaftler Alan Gerber und Donald Green in ihrem Buch 'Get Out the Vote: How to Increase Voter Turnout' (The Brookings Institution, Washington D.C. 2008): 'Wir sehen kaum Belege dafür, dass es überhaupt einen Unterschied macht, was jemand sagt.' Um die Leute dazu zu bringen, überhaupt wählen zu gehen, sollte man sie lieber zwingen. Und zwar nicht durch den 'zwanglosen Zwang des besseren Arguments', sondern am besten durch sozialen Druck - etwa indem man per Postkarte damit droht, die Nachbarn zu informieren, ob einer wählen gegangen ist oder nicht. Auf diese Weise explodiert ganz sicher die Wahlbeteiligung. Der rationale Diskurs als Grundlage der Demokratie aber leider irgendwie auch.

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