Hans-Olaf Henkel, der frühere BDI-Präsident, wird für das Europaparlament kandidieren - viele Delegierte der AfD sind stolz darauf.
Um 9.40 Uhr gibt es die erste Kampfabstimmung; es geht um den Posten des stellvertretenden Versammlungsleiters. Und kurz nach elf entscheiden 334 Delegierte per Kartenzeichen über den Sitzplatz des Parteivorsitzenden – ob er vorne auf der Bühne bleiben darf. Die Alternative für Deutschland (AfD) will anders sein als die „Altparteien“, so hatte es Bernd Lucke zur Begrüßung gesagt; bitte schön, das kann er haben.
Offenbar ist so etwas unvermeidlich, wenn eine neue Partei anfängt. Sie speist sich ja nicht nur daraus, dass ihre Mitglieder der bisherigen Politik grundsätzlich widersprechen, sondern auch aus der Ablehnung, die sie deren Abläufen entgegenbringen. Die AfD hat in eine Sporthalle nach Aschaffenburg geladen, um ihre Kandidaten für die Europawahl am 25. Mai aufzustellen. Diese Wahl wird entscheiden, ob die Partei mittelfristig von Belang sein oder bald wieder vergessen wird: Wegen des neuen Wahlrechts dort muss sie bloß drei Prozent schaffen, um ins Parlament zu kommen; und Unbehagen an der EU ist schließlich ihr Kernthema. Das soll gelingen, jedoch keinesfalls, indem man sich die Usancen der anderen zu eigen macht: „Bitte entscheiden Sie nach Kompetenz, nicht nach Landsmannschaft“, ruft Lucke, der Vorsitzende, gleich am Morgen in die Halle, nachdem ihm von Absprachen berichtet worden war: „Wählst du meinen, wähl’ ich deinen.“ Buh-Rufe und Pfiffe; eine neue Partei will immer unbedingt basisdemokratisch sein. So war es bei den Grünen, so ist es bei den Piraten und der AfD.
Das Spannende ist, wie lange sie das jeweils aushalten. In Aschaffenburg darf Bernd Lucke seinen Bühnenplatz behalten, er wird ohne Konkurrenten zum Spitzenmann gekürt, mit 85,6 Prozent. Auch Platz zwei wird relativ zügig besetzt. Hans-Olaf Henkel, 73, war in einem früheren Leben der Deutschland-Chef von IBM sowie Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Wenn er von Lucke vorgestellt wird, wenn er selber etwas sagt: Immer stehen viele Delegierte zum Klatschen auf, sie strahlen ihn an. „Dass solch ein Mann uns für würdig erachtet ...“, so sagt es zwar keiner, aber in den Augen steht es geschrieben. Zwei Männer wagen eine Gegenkandidatur. Henkel siegt mit 78Prozent.
Aber dann. Für Platz drei gibt es sieben Bewerber, für Platz vier: 15. Insgesamt haben 100 Mitglieder ihre Kandidatur hinterlegt; hinzu kommen solche, die sich erst in der Halle dazu entschließen. Jeder Bewerber bekommt fünf Minuten Redezeit, plus die Chance, auf zwei Fragen zu antworten. Macht 500 Minuten Vorstellungszeit, ohne die Fragen. Also acht Stunden und 20 Minuten. Hans-Olaf Henkel, der in den vergangenen Jahren in Talkshows und Büchern von Beruf Hans-Olaf Henkel sein durfte, schaut sich dies aus Reihe eins des Gästeblocks an; äußerlich ohne Zeichen von Ungeduld, nur sein Grinsen bekommt er nicht unterdrückt. Um 16:04Uhr, nach sechseinhalb Stunden, erklärt ein abgeschlagener Bewerber für Platz drei seinen Verzicht auf die Stichwahl – „um es zu beschleunigen“. Dafür erhält er mehr Beifall als nach seiner Vorstellungsrede.
Um Inhalte geht es an dem Tag weniger, dafür ist ein Parteitag im März vorgesehen. Aber natürlich wird die Partei beäugt, was sie will, wer in sie drängt und ob sie dies geschehen lässt. Der Vorsitzende Lucke argumentiert diesmal nicht ausdrücklich gegen den Euro. Er verlangt auch nicht den Austritt Griechenlands aus der Währungsunion. Stattdessen lobt er, was er die „Errungenschaften“ der EU nennt: Binnenmarkt, keine Grenzkontrollen mehr, Freundschaft der Nationen. Über den Euro redet er allenfalls indirekt, er spricht von „Entwicklungen zum Nachteil unseres Landes und seiner Bürger“, es mündet in den Satz: „Deshalb prüfet alles, und das Gute behaltet!“ In der neuen Emnid-Umfrage kommt die AfD auf sieben Prozent.
Bei den anderen Rednern gibt es die übliche Verteilung: Bedenkenswerte, Schwätzer, Ungeschliffene. Eine sagt, dass es in Europa nun mal kein EU-Volk gebe, und wer darauf hinweise, sei deshalb noch lange kein Nationalist. Der nächste empfiehlt sich mit dem Hinweis, er sei heterosexuell („weil es in diesen Tagen etwas Besonderes zu sein scheint“); vielleicht ein paar zu viele fragen die Kandidaten, wie sie es mit „den Asylanten“ hielten. Ihre Diktion verrät in der Regel den Engherzigen, weniger den verkappten Nazi. Bis 21Uhr sind die ersten sechs Plätze auf der Liste besetzt, vier Männer, zwei Frauen. „20 bis 30“ Kandidaten sollen es aber sein; zu deren Kür wird nun für Samstag eine Halle in Berlin gesucht. Aus der in Aschaffenburg müssen sie raus. Sie ist anderntags für einen Ringkampf gebucht.