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So viele Tote, so wenige Schuldige

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Dreieinhalb Jahre lang haben sie gewartet, diejenigen, die man Hinterbliebene nennt, die trauernd und verzweifelt zurückgeblieben sind, weil ihre Söhne und Töchter sich aus allen Ecken des Landes und auch der Welt auf den Weg gemacht hatten nach Duisburg zur Loveparade, um zu tanzen, zu trinken und zu lachen. Immer wieder sind die Familien aus Spanien und aus China nach Deutschland gekommen und haben gefragt, ob denn die Polizei herausgefunden habe, warum ihre Kinder im Juli 2010 starben, und wie lange das noch dauere. Bald, haben ihre Rechtsanwälte gesagt, bald werde es hoffentlich Klarheit geben.



Blumen an der Gedenkstätte des Loveparade Unglücks

Auf der einen Seite ist es daher ein Erfolg für die Opfer, dass aus dem bald nun ein jetzt geworden ist, und dass die Staatsanwaltschaft Duisburg am Dienstag Anklage erhoben hat. Es ist aber auch eine Art Niederlage für die Opfer, weil nach SZ-Informationen nur noch gegen zehn Beschuldigte Anklage wegen fahrlässiger Tötung von 21 Menschen erhoben wird; offiziell vorgestellt wird die Klageschrift erst am Mittwoch. „Am Ende des Prozesses wird es möglicherweise eine große Enttäuschung geben“, sagt der Opfer-Anwalt Julius Reiter, der mit dem früheren Innenminister Gerhart Baum rund 100 Betroffene vertritt. So viele Opfer, so wenig Beschuldigte.

Gegen sechs Mitarbeiter der Stadt wird es vermutlich zum Prozess kommen und auch gegen vier Angestellte von Lopavent, der Veranstaltungsfirma der Loveparade. Es sind Namen, die außerhalb von Duisburg niemand kennt und bei denen sich manche der Hinterbliebenen wohl die Frage stellen, ob man die Großen laufen lässt und die Kleinen hängt. Die Liste derer, die nicht vor Gericht erscheinen müssen, ist fast länger als die derer, die nichts mehr befürchten müssen, obwohl sie doch die großen Antreiber und Macher der Loveparade waren.

Schon lange ist klar, dass weder Rainer Schaller, der Lopavent-Geschäftsführer und Gründer der Fitnesskette McFit, noch der ehemalige Oberbürgermeister Adolf Sauerland unter den Angeklagten sein werden. In den vergangenen Monaten ist die Zahl der Beschuldigten aber weiter geschrumpft, von 16 auf nur noch zehn. Einer verstarb, das Verfahren gegen vier andere wurde eingestellt. Der sogenannte Crowd-Manager ist nicht unter den Angeklagten, und kein einziger Polizist.

Drei Jahre lang haben die Staatsanwaltschaft und die Polizei 3500 Zeugen gehört, 1000 Stunden Videos angesehen und 404 Terabyte Daten verarbeitet, die Ermittlungsakte umfasst mittlerweile 35000 Seiten. Die Ermittler haben sich in der Organisationsstruktur der Stadt Duisburg und des Veranstalters von unten nach oben gearbeitet und versucht, Verantwortlichkeiten festzustellen: Wer erließ welche Genehmigung? Letztlich sind sie im Mittelbau stecken geblieben, selbst Wolfgang Rabe, der Dezernent für Sicherheit und Recht der Stadt, gehört nicht mehr zu den Angeklagten. Er ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Staatsanwaltschaft eine eher defensive Anklage erhoben hat.

Dabei finden sich in den Ermittlungsakten zahlreiche Hinweise darauf, dass Rabe immer wieder Druck machte. Als in der Verwaltung Bedenken wegen der Fluchtwege geäußert wurden, sagte Rabe laut eines Sitzungsprotokolls: „Herr Rabe stellte in diesem Zusammenhang fest, dass der OB die Veranstaltung wünsche und dass daher hierfür eine Lösung gefunden werden müsse.“ Die wurde dann auch gefunden, Besucherzahlen wurden manipuliert, Rettungswege schöngerechnet. Dass es für Leute wie Rabe, Schaller oder Sauerland dennoch nicht für eine Anklage reicht, zeigt das Dilemma der Ermittler. Sie brauchen, Verantwortlichkeiten, Dienstwege, Befehlsketten. Und Leute wie Sicherheitsdezernent Rabe machten zwar Druck, die Genehmigungen wurden aber im Bauamt unterschrieben, aus dem die nun Angeklagten kommen. Formal gesehen war er also nicht zuständig. Andere waren zu schlau, um irgendwelche Genehmigungen zu unterschreiben; im Büro von Oberbürgermeister Sauerland verschwanden Hunderte Mails.

Auch von der Polizei wird sich niemand auf der Anklagebank finden, das Ermittlungsverfahren gegen den Polizeiführer Kuno S. wurde eingestellt, obwohl auch die Polizei viele Fehler machte, als die Katastrophe ihren Lauf nahm.

Mitte diesen Jahres wird der Prozess dann wohl starten, wahrscheinlich in den Hallen der Düsseldorfer Messe, weil so viele Angehörige erwartet werden. Sie erwarten Aufklärung, wollen wissen, warum ihre Kinder starben. „Wir haben aber Zweifel, dass das Strafverfahren dieses leisten kann“, sagt Opfer-Anwalt Reiter. Der Prozess wird wohl nur einen Teil der Geschichte erzählen.

Steht man heute vor dem Tunnel, durch den sich Hunderttausende auf das Gelände der Loveparade drängten, steht man also vor dem kleinen Denkmal auf der Rampe, dort, wo 21 Menschen im Gedränge erdrückt wurden und erstickten, dann fragt man sich schon, wie dieser Wahnsinn passieren konnte. Warum niemand „Stop“ sagte. Alle hätten durch einfachste Kalkulationen wissen müssen, dass das ganze Gelände viel zu klein war, schreibt ein britischer Gutachter. Aber so genau zählen wollte offenbar niemand in Duisburg.

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