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Bildhauer im Himmel

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Dann kam Iouri Podladtchikov, und sofort erstrahlte der ganze Raum in einem anderen Licht. Iouri Podladtchikov ist ein begnadeter Darsteller seiner selbst, mit seinen Locken und seinem schmalen Bart erinnert er an einen eleganten Musketier, der mit Mut und Florett um die Gunst seiner Betrachter kämpft. Er mag es, wenn die Leute auf ihn schauen, und so ging von seinem Bühnenspiel eine ganz andere Energie aus als zuvor von den beiden jungen Japanern Ayumu Hirano und Taku Hiraoko, die mit dürren japanischen Sätzen ihren Silber-bzw.-Bronze-Gewinn in der olympischen Halfpipe kommentiert hatten. Der Olympiasieger sprach auf Russisch, Englisch und Schweizerdeutsch, Podladtchikov nahm seine Zuhörer mit in seine Welt, er erzählte von der Versöhnung mit dem strengen Vater, von seiner Beziehung zum russischen Geburtsland, von seiner Freude, die sich anfühle, „wie in Ohnmacht zu fallen“. Er war das, was er sein wollte, in diesem Moment. Der Held, der alle Blicke auf sich zieht. Es war, als habe jemand genau die richtige Musik für ihn aufgelegt. Bis ein anderer mit einer Frage die Nadel vom Plattenspieler wischte. Die Frage lautete: „Was hat Shaun White nach dem Wettkampf gesagt?“



Der neue Posterboy im Snowboard: Iouri Podladtchikov auf der Halfpipe von Krasnaja Poljana.

Iouri Podladtchikov, 25, Züricher Charismatiker und Künstler-Athlet, hat am Dienstagabend im Flutlicht von Rosa Chutor seine persönliche Mission vollendet. Er wollte in den Kategorien der Snowboard-Welt etwas Irres schaffen, und er brachte diesen Anspruch ins Ziel. Kein anderer im Feld der besten Halfpipe-Akrobaten hatte sich diesen Olympiasieg so sehr verdient wie er. Und das hatte keineswegs nur mit diesem sauber ausgeführten Trick-Spektakel zu tun, dass er in seinem zweiten Finallauf in den Nachthimmel getanzt hatte. Podladtchikov ist ein Erneuerer seines Sports. Seine Karriere ist wie die Arbeit eines Bildhauers, der über Jahre mit feinen Hieben an seinem Denkmal meißelt, bis es jene Ausdruckskraft ausstrahlt, die er sehen will.

Der Ausgangspunkt seiner olympischen Karriere war Turin 2006. Er war damals ein unscheinbarer Teilnehmer für Russland. Vier Jahre später war er schon ein bekannter Mann. Er war nun Schweizer und startete in Vancouver mit Medaillenaussichten. Er wurde Vierter und nahm den Blech-Rang wie einen Niederschlag: „Das, was mir in Vancouver passiert ist, das kann der mental stärkste Mensch kaum verarbeiten. Das ist so: bumm.“

Und nun also Rosa Chutor, der Gipfelsturm. Im vergangenen März bei den X-Games in Tignes war ihm eine bedeutende Leistung gelungen: Er hatte einen Trick gestanden, den vor ihm noch niemand gezeigt hatte. Cab Double Cork 1440 heißt das Kunststück im Fach-Englisch, Podladtchikov fährt dabei rückwärts auf die Wand zu, lässt sich hoch über die Kante hinausheben und schlägt einen Doppelsalto mit vierfacher Schraube. Mit diesem komplizierten Trick setzte er den Maßstab für Olympia. Podladtchikov nannte ihn Yolo-Flip nach der Lebensregel You only live once (Du lebst nur einmal) und arbeitete weiter daran. Vor drei Wochen bei den X-Games in Aspen versuchte er den Yolo-Flip wieder und scheiterte. In Rosa Chutor fiel er ihm plötzlich ganz leicht. „Seltsam“, sagte Iouri Podladtchikov. Er fühlte sich wie in seinen eigenen Traum versetzt.

Allerdings hatte er auch Shaun White bezwungen, den zweimaligen Olympiasieger und Actionsport-Großmeister aus dem Snowboard-Geburtsland USA, und das bedeutete, dass dieser große Abend ihm nicht allein gehören konnte.

Iouri Podladtchikov war längst weg, als Shaun White die Bühne betrat. Fünf Fragen seien erlaubt, das war die Ansage. White setzte sich und lächelte.

Mit dem komplizierten Yolo-Flip hatte er bei den X-Games den Maßstab für Olympia gesetzt

Shaun White ist längst nicht mehr nur Snowboardprofi. Er hat seine eigene Firma, er hat auch als Skateboarder schon die X-Games gewonnen, und sehr wichtig ist ihm seine Rock-Band Bad Things, der er als Gitarrist dient. Und genauso trat er jetzt auch auf. Wie einer, der es nicht mehr nötig hat, Niederlagen zu groß zu spielen, auch wenn der Sieg immer noch sein sportlicher Anspruch ist. Er hatte den Yolo-Flip mit viel Aufwand einstudiert. Er hatte die ganze umfassende Qualifikationsmühle des US-Ski- und Snowboard-Verbandes auf sich genommen. Und er war mit einem klaren Plan nach Krasnaja Poljana gekommen, dem er auch seinen Versuch unterordnete, in der Premieren-Disziplin Slopestyle Gold zu gewinnen; aus einer „strategischen Überlegung“ heraus hatte er seinen Start dort kurzfristig abgesagt. Er wollte wie immer verfahren: Das Feld beobachten und es dann mit seinem unnachahmlichen Repertoire überflügeln. Er sagte, er hätte noch viel zu zeigen gehabt, er sprach von der Halfpipe-Weltneuheit Triple-Cork. Aber an diesem Abend ging nichts für ihn. White stürzte in seinem ersten Finallauf durch die Halfpipe wie ein ganz normaler Hochbegabter. Und im zweiten fehlte seinen Landungen der Zauber. Er beklagte sich nicht, er entschuldigte auch nichts damit, dass kein gescheites Training möglich war, weil die Halfpipe vor dem Wettkampf nicht fit zum Fahren war. Er war nicht gut, zumindest nicht Shaun-White-gut. „Ich habe es nicht hingekriegt“, sagte er, „das ist das Frustrierendste für mich.“

Ein bisschen Sorge scheint Shaun White schon zu haben, dass ihm andere seine Wunderkind-Geschichte streitig machen. Mit 13 wurde er Profi, mit 15 scheiterte er um drei Zehntelpunkte an der Olympia-Qualifikation für die Spiele 2002 in Salt Lake City. Letzteres erwähnt er immer wieder, und nun hat der 15-jährige Ayumu Hirano Olympia-Silber. Es schien White nicht leicht zu fallen, den jungen Japaner zu loben, natürlich tat er es trotzdem, und lenkte dann mit Humor von seinen Befindlichkeiten ab. „15 ist der erst“, staunte Shaun White. „Eigentlich ist er 15 Jahre und 74 Tage alt“, sagte die Pressekonferenz-Moderatorin. „Okay“, sagte Shaun White, „dann steht er kurz vor der Rente.“

Aber im Grunde wirkte er im Reinen mit sich. „Dies hier ist nur ein Teil von dem, was ich bin“, sagte er, „aber das ist nicht alles von mir.“ Eine Snowboard-Pause wird er jetzt machen, mit seiner Band spielen, und irgendwann wird er dann wieder da sein. „Ich nehme es als das, was es ist“, sagte Shaun White, „ich schaue nach vorne und fahre weiter.“ Für manchen Snowboard-Marketender dürfte diese Ansage eine große Erleichterung gewesen sein.

Und was hat er zu Podladtchikov gesagt? „Das ist wie die Frage, wo ist die Party“, antwortete dieser und sagte trotzdem was. „Ich glaube, er hat sich für mich gefreut. Wir gönnen uns gegenseitig den Sieg. Weil wir andere Dinge versuchen als die anderen.“ Mit dem gestürzten Idol teilte er gerne die Aufmerksamkeit.

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