Vielleicht hat es doch etwas mit der Weite der Landschaft zu tun und der Enge des Denkens und Fühlens. Ein unangenehmer Widerspruch, der auf den Zuschauer einen mulmigen Eindruck macht und ihn immer unsicherer werden lässt im Verlauf des Abends. In „Dede Korkut – Die Kunde von Tepegöz“ geht es um Urmythen der Turkvölker, um Vergewaltigung, Monstergeburt, ewigen Fluch, und man schaut in diese wunderbar leeren Landschaften Kasachstans und Usbekistans, die sanft ansteigenden Gebirgsausläufer. Eine Videoleinwand macht das möglich im Berliner Gorki-Theater, wo eine dieser Geschichten aus der Sammlung Dede Korkut – Großvater Korkut – in einer zeitgemäßen theatralen und musikalischen Aufbereitung multimedial und multistilistisch, mit authentischer turkmenischer und moderner Musik, mit Theater und Tanz eine Symbiose eingeht. Die Geschichte gibt reichlich Motive dafür her: Ein oghusischer Hirte schändet eine Nymphe. Die verflucht daraufhin nicht nur ihn, sondern sein ganzes Volk. Sie gebiert das einäugige Monster Pepegöz, das nicht enden wollendes Unheil über die Oghusen bringt.
Ulzhan Baibussynova aus Kasachstan bei den Proben zum Stück "Dede Korkut"
Marc Sinan ist der deutsch-türkisch-armenische Komponist dieses „dokufiktionalen Musiktheaters“, das nach einer langen Reise durch Usbekistan und Kasachstan entstanden ist (SZ vom 3. Januar). Der Begriff sagt lediglich, dass authentische Musikdokumente aus dem Traditionsgebiet des Epos in eine stark assoziativ angelegte zeitgenössische Klang- und Theaterwelt eingebettet wurden. Das sieht so aus, dass an den Seitenwänden Mitglieder der Dresdner Sinfoniker auf ihre Einsätze warten, während vor der Videoleinwand zwei Dombra-Spieler Stellung beziehen. Die Dombra ist eine Art Langhalslaute, hat einen kleineren Resonanzkörper als die türkische Saz und ist mit ihren zwei Saiten ein Wunderwerk an Klangmöglichkeiten und virtuosem Spiel. Gleiches gilt für die Sato, die usbekische Variante. Ihr Spieler, Toir Kuziyev, tourt regelmäßig mit dem Rockmusiker Peter Gabriel um die Welt.
Weder Dombra noch Sato sind aber so durchdringend wie die etwas ordinär klingende Pferdekopfgeige Zhirau, welche die Sängerin Ulzhan Baibussynova, eine Berühmtheit in Kasachstan, zu ihrem Begleitinstrument erkoren hat. Und kaum setzt sie an zu spielen und zu singen, fällt ihr das moderne Orchester krachend ins Wort. Als wollte der Komponist Sinan mit Gewalt verhindern, dass man sich von den exotischen Klängen einlullen lässt. Er hat nämlich, bei allem Respekt für die Musiker aus Kasachstan und Usbekistan, doch ein anderes Anliegen. Er möchte die Sage vom monströsen Tepegöz aktuell erzählen, ohne die künstlerischen Transportmittel der Vergangenheit. Die jahrhundertealten Weisen der Musiker aus Kasachstan und Usbekistan ziehen nur als geisterhafte Zitate vorüber, werden mitunter recht ruppig von Trommel, Xylophon und Trompete unterbrochen. Wie viel sanfter hätte das alles ohne das scharfe Blech und das trockene Holz geschehen können, etwa mit Instrumenten der Renaissance.
Die Dresdner Sinfoniker aber sind kein historisches Ensemble, sie lieben das Experiment, den Zusammenprall der Stile. Eine Subkontrabassflöte darf dann auch als bewegte Riesenskulptur zur Bühnenfigur werden, ebenso wie ein Cello, das sich seinem Spieler auf skurrile Weise zu widersetzen scheint. So viel Spaß muss sein, zumal man diese Aktionen auch ganz ernst nehmen kann, als vergröberte Pantomime des tier- und menschenfressenden Pepegöz, den es nicht nur aus der Gemeinschaft auszustoßen gilt, sondern auszulöschen.
Marc Sinan verweist beim Podiumsgespräch am nächsten Tag auf die Urfassung der Geschichte, in der nicht irgendein fremdes Monster, sondern der erzählende Urvater selbst das Monster war. Die Verdrängung der eigenen Bosheit und Projektion auf eine Randfigur finde sich erst in den späteren Fassungen, von denen die vollständigste in Dresden liegt. Sinan legt auch diese Ebenen bloß, er will mit den alten Geschichten auch die Volkspsyche der heutigen Völker und Nationen in Vorder- und Zentralasien auf die Probe stellen. Das in allzu beamtenhafter Sprache formulierte Interview mit der türkischen Autorin Sema Kaygusuz, das am Ende eingefügt ist und eine Beziehung herstellt zum türkischen Völkermord an den Armeniern, führte denn prompt zu Verstörungen in den Botschaften der Türkei, die ihr Sponsoring kündigte, und Aserbeidschans. Weder Marc Sinan noch Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker und Projektleiter, wollten aber dieses Thema zum zentralen Punkt ihrer Produktion aufblasen. Dazu ist das Berliner Dede-Korkut-Projekt auch viel zu musiktheatralisch-künstlerisch angelegt – somit auch leicht angreifbar.
Die Balance zwischen konkreter Erzählung, Deutung und assoziativem Ungefähr ist ständig in Gefahr. Sinan verschärft mit seiner punktuell explodierenden Klangbegleitung diesen Zustand eher, als dass er ihn abmilderte durch klare Strukturen und begriffliche Leitplanken. Er will die eigentliche Idee des Mythos, vieles konkret zu machen und doch selber kaum greifbar zu sein, im heutigen Informationsterror der Eindeutigkeiten aufrechterhalten oder wiederbeleben. Insofern ist die konkrete musikalische Umsetzung für sich genommen kaum von Belang, vielmehr ihre Funktion im multimedialen Ganzen. Die disparaten Klangwölkchen und Gewitterdonner schwirren selber wie kleine Monster durch den Abend und bilden doch insgesamt eine vage Leitgestalt, eine Art Schwarmintelligenz im Dschungel des fremden Kehlkopfgesangs, der Dombras und Satos.
Wie schnell solch eine musikalische Begegnung in die Hose gehen kann, zeigte sich auf der Premierenparty im Lokal „Jazz-Debakel“ bei der Kulturbrauerei. Askar Soltangazin spielte auf seiner Dombra, Toir Kuziyev auf der Sato, und irgendwann juckte es den Saxophonisten der Jazzband, die zuvor aufgetreten war, mitzuspielen. Es eilten in rascher Folge herbei: der E-Gitarrist, der den Sound mit rhythmischen Plopps aufmotzte, ein Bongo-Virtuose und ein Keyboarder. Askar hatte schon beim ersten Angriff seine Dombra eingepackt, die dem Schalldruck des E-Basses nichts entgegenzusetzen hatte. Stattdessen holte er eine Maultrommel hervor und zog ein Mikro zu sich heran. Aber es war zu spät, längst hatten die technisch hochgerüsteten Westmusiker ihre zentralasiatischen Kollegen in aller Eitelkeit niedergerockt.
Wenn man erlebt hat, mit welcher Demut und welch tiefem Ernst die kasachischen Musiker in ihrem Heimatland ihre Kunst pflegen, ohne deshalb tiefzustapeln oder auf publikumswirksame Virtuoseneffekte zu verzichten, dann kann so ein gutgemeintes Aufeinandertreffen der Kulturen wie in dieser infernalischen Jam-Session schmerzhaft sein. Da war man amGorki-Theater glücklicherweise andere Wege gegangen. Und weiter gekommen.
Ulzhan Baibussynova aus Kasachstan bei den Proben zum Stück "Dede Korkut"
Marc Sinan ist der deutsch-türkisch-armenische Komponist dieses „dokufiktionalen Musiktheaters“, das nach einer langen Reise durch Usbekistan und Kasachstan entstanden ist (SZ vom 3. Januar). Der Begriff sagt lediglich, dass authentische Musikdokumente aus dem Traditionsgebiet des Epos in eine stark assoziativ angelegte zeitgenössische Klang- und Theaterwelt eingebettet wurden. Das sieht so aus, dass an den Seitenwänden Mitglieder der Dresdner Sinfoniker auf ihre Einsätze warten, während vor der Videoleinwand zwei Dombra-Spieler Stellung beziehen. Die Dombra ist eine Art Langhalslaute, hat einen kleineren Resonanzkörper als die türkische Saz und ist mit ihren zwei Saiten ein Wunderwerk an Klangmöglichkeiten und virtuosem Spiel. Gleiches gilt für die Sato, die usbekische Variante. Ihr Spieler, Toir Kuziyev, tourt regelmäßig mit dem Rockmusiker Peter Gabriel um die Welt.
Weder Dombra noch Sato sind aber so durchdringend wie die etwas ordinär klingende Pferdekopfgeige Zhirau, welche die Sängerin Ulzhan Baibussynova, eine Berühmtheit in Kasachstan, zu ihrem Begleitinstrument erkoren hat. Und kaum setzt sie an zu spielen und zu singen, fällt ihr das moderne Orchester krachend ins Wort. Als wollte der Komponist Sinan mit Gewalt verhindern, dass man sich von den exotischen Klängen einlullen lässt. Er hat nämlich, bei allem Respekt für die Musiker aus Kasachstan und Usbekistan, doch ein anderes Anliegen. Er möchte die Sage vom monströsen Tepegöz aktuell erzählen, ohne die künstlerischen Transportmittel der Vergangenheit. Die jahrhundertealten Weisen der Musiker aus Kasachstan und Usbekistan ziehen nur als geisterhafte Zitate vorüber, werden mitunter recht ruppig von Trommel, Xylophon und Trompete unterbrochen. Wie viel sanfter hätte das alles ohne das scharfe Blech und das trockene Holz geschehen können, etwa mit Instrumenten der Renaissance.
Die Dresdner Sinfoniker aber sind kein historisches Ensemble, sie lieben das Experiment, den Zusammenprall der Stile. Eine Subkontrabassflöte darf dann auch als bewegte Riesenskulptur zur Bühnenfigur werden, ebenso wie ein Cello, das sich seinem Spieler auf skurrile Weise zu widersetzen scheint. So viel Spaß muss sein, zumal man diese Aktionen auch ganz ernst nehmen kann, als vergröberte Pantomime des tier- und menschenfressenden Pepegöz, den es nicht nur aus der Gemeinschaft auszustoßen gilt, sondern auszulöschen.
Marc Sinan verweist beim Podiumsgespräch am nächsten Tag auf die Urfassung der Geschichte, in der nicht irgendein fremdes Monster, sondern der erzählende Urvater selbst das Monster war. Die Verdrängung der eigenen Bosheit und Projektion auf eine Randfigur finde sich erst in den späteren Fassungen, von denen die vollständigste in Dresden liegt. Sinan legt auch diese Ebenen bloß, er will mit den alten Geschichten auch die Volkspsyche der heutigen Völker und Nationen in Vorder- und Zentralasien auf die Probe stellen. Das in allzu beamtenhafter Sprache formulierte Interview mit der türkischen Autorin Sema Kaygusuz, das am Ende eingefügt ist und eine Beziehung herstellt zum türkischen Völkermord an den Armeniern, führte denn prompt zu Verstörungen in den Botschaften der Türkei, die ihr Sponsoring kündigte, und Aserbeidschans. Weder Marc Sinan noch Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker und Projektleiter, wollten aber dieses Thema zum zentralen Punkt ihrer Produktion aufblasen. Dazu ist das Berliner Dede-Korkut-Projekt auch viel zu musiktheatralisch-künstlerisch angelegt – somit auch leicht angreifbar.
Die Balance zwischen konkreter Erzählung, Deutung und assoziativem Ungefähr ist ständig in Gefahr. Sinan verschärft mit seiner punktuell explodierenden Klangbegleitung diesen Zustand eher, als dass er ihn abmilderte durch klare Strukturen und begriffliche Leitplanken. Er will die eigentliche Idee des Mythos, vieles konkret zu machen und doch selber kaum greifbar zu sein, im heutigen Informationsterror der Eindeutigkeiten aufrechterhalten oder wiederbeleben. Insofern ist die konkrete musikalische Umsetzung für sich genommen kaum von Belang, vielmehr ihre Funktion im multimedialen Ganzen. Die disparaten Klangwölkchen und Gewitterdonner schwirren selber wie kleine Monster durch den Abend und bilden doch insgesamt eine vage Leitgestalt, eine Art Schwarmintelligenz im Dschungel des fremden Kehlkopfgesangs, der Dombras und Satos.
Wie schnell solch eine musikalische Begegnung in die Hose gehen kann, zeigte sich auf der Premierenparty im Lokal „Jazz-Debakel“ bei der Kulturbrauerei. Askar Soltangazin spielte auf seiner Dombra, Toir Kuziyev auf der Sato, und irgendwann juckte es den Saxophonisten der Jazzband, die zuvor aufgetreten war, mitzuspielen. Es eilten in rascher Folge herbei: der E-Gitarrist, der den Sound mit rhythmischen Plopps aufmotzte, ein Bongo-Virtuose und ein Keyboarder. Askar hatte schon beim ersten Angriff seine Dombra eingepackt, die dem Schalldruck des E-Basses nichts entgegenzusetzen hatte. Stattdessen holte er eine Maultrommel hervor und zog ein Mikro zu sich heran. Aber es war zu spät, längst hatten die technisch hochgerüsteten Westmusiker ihre zentralasiatischen Kollegen in aller Eitelkeit niedergerockt.
Wenn man erlebt hat, mit welcher Demut und welch tiefem Ernst die kasachischen Musiker in ihrem Heimatland ihre Kunst pflegen, ohne deshalb tiefzustapeln oder auf publikumswirksame Virtuoseneffekte zu verzichten, dann kann so ein gutgemeintes Aufeinandertreffen der Kulturen wie in dieser infernalischen Jam-Session schmerzhaft sein. Da war man amGorki-Theater glücklicherweise andere Wege gegangen. Und weiter gekommen.