Langsam gleitet die Kamera durch den dunklen Hinterhof, in dem zart prasselndes Regenwasser an Dachziegeln und Regenrinnen entlangfließt, an einem Belüftungsrad vorbei, das sich quietschend an der Wand dreht. Weiter unten: ein schwarzes, schlundartiges Loch. Vorsichtig dringt die Kamera ein. Dann, urplötzlich, zerreißt die brachiale Musik von Rammstein die Stille, und eine aus dem Boden gestanzte Totale kappt abrupt das Gleiten der Kamera. Da liegt eine Frau auf dem Boden, reglos, Blut im Gesicht. Der Film ist entjungfert.
In Flagranti - Charlotte Gainsbourg und Shia LaBeouf
Es ist dies die erste Sexszene in Lars von Triers „Nymphomaniac: Volume 1“. Genauer gesagt eine Szene, die von Anfang an klarmacht, was wir im Folgenden unter „Sex“ zu verstehen haben werden – etwas anderes nämlich als das, was gemeinhin mit den Hardcore-Sexszenen in diesem Film über eine männerverschlingende, sich selbst als nymphoman bezeichnende Heldin assoziiert wird. Stattdessen ist es die Sinnlichkeit des Regens, das Transpirat einer feuchten, atmenden, das Gemäuer aufweichenden Natur, nachgezeichnet von einer meditativen Kamera, die den starken Einfluss Andrej Tarkowskijs erkennen lässt – eine Erotik also, die wesentlich weiter gefasst werden muss.
Es sollte vorangestellt werden, dass Gegenstand dieses Textes nicht das ganze „Nymphomaniac“-Werk ist, bestehend aus Volume 1 & 2, wie es in einer insgesamt viereinhalbstündigen Fassung bereits im Dezember in Dänemark in die Kinos kam und in dieser Form auch hier schon rezensiert wurde (SZ vom 27. Dezember 2013). Diesmal geht es nur um Teil eins, der für sich steht. Denn wie in vielen Ländern kommen auch in Deutschland beide Teile separat ins Kino, Volume 2 startet mit einiger Verzögerung erst Anfang April. Dass der Verleih anscheinend Angst vor der enormen Länge der Gesamtfassung hat, ist natürlich bitter. Dennoch eröffnet das dem Rezensenten, der den zweiten Teil ebenso wenig kennt wie die Zuschauer, die jetzt ihre Reise ins „Nymphomaniac“-Reich antreten, eine spannende Perspektive.
Die Frau in der Gasse, erfährt man also, heißt Joe. Ein Mann (Stellan Skarsgård) findet sie, sein Name ist Seligman. Er wird sie auflesen und mit zu sich nach Hause nehmen. Er macht ihr Tee, steckt sie ins Bett. Auf die Frage, was ihr zugestoßen sei, antwortet sie, das sei eine längere Geschichte, und als sie zu erzählen beginnt, geht sie weit in die Kindheit zurück: „I discovered my cunt at the age of two.“ Charlotte Gainsbourg verkörpert diese Frau – in den Rückblenden, die dann ihr Leben und ihre Gier nach Sex aufrollen, wird sie von der jüngeren Stacy Martin gespielt.
Der Film, das ist nach diesen ersten Minuten klar, wird sich seinem Gegenstand nicht direkt nähern, sondern über lustvolle Abschweifungen. Für jedes Kapitel ihrer Erzählung lässt sich Joe von einem anderen Gegenstand in Seligmans Zimmer inspirieren – zunächst zum Beispiel von einem kleinen Angelköder an der Wand. Das führt sie zu einer Wette, die sie als Teenager mit einer Freundin abgeschlossen hat: Wer auf einer Zugfahrt mit mehr Männern schläft, bekommt eine Tüte mit Schokobonbons.
Ihre Erzählung wird Seligman nun mit Details aus der Welt des Angels kommentieren, was auf bildlicher Ebene durch einmontiertes Archivmaterial und Found Footage fortgesetzt wird. Schlingpflanzen in einem Teich überlagern eine Kamerafahrt im Zug (eine wunderbare Reminiszenz an Tarkowskijs „Solaris“) – und als Joe mit einem raffiniert ergatterten Blowjob die Wette für sich entscheidet, zieht ein Hobbyangler einen dicken Fisch aus dem Wasser.
Sicher: Das Angeln der Nymphe nach Männern im Tümpel des Zugabteils mag als simple Metapher verstanden werden. In dem Fall aber hätte ein kurzer, pointierter Vergleich genügt. Seligman aber insistiert auf diesen Vergleich, wie er auch im Folgenden auf alle möglichen Parallelen von Joes Geschichte zu Natur, Musik oder Religion insistieren wird, als würde er, eine wandelnde Enzyklopädie, jede von Joes Geschichten noch einmal anders erzählen. Was sehr komisch ist. Und dazu sucht Trier ständig neue Bilder, die Joes Geschichte illustrieren und kommentieren: eine Katze, um einen Liebhaber zu charakterisieren, die Weltenesche aus der Edda-Mythologie, und so fort. Wer auch nur eine Sache verstehen will, muss alles mit ihr in Verbindung setzen, vor allem wenn es sich um Polygamie par excellence handelt.
Und so besteht der Film aus lauter Exkursen, die zu Miniaturkritiken im Film werden und die die Erzählungen und Szenen, in denen es um Penetration geht, selbst penetrieren: Wenn in Joes Geschichte eine frühe Liebschaft plötzlich wie eine romantische Epiphanie im Wald auftaucht, unterbricht Seligman – das sei doch jetzt völlig unglaubwürdig.
Die diversen Auslöser, die Joes mehr oder weniger zuverlässige Erinnerung wiederbringen, lassen dabei an Proust denken: ein Hörnchen etwa, das mit Gabel gegessen wird, ein Gemälde, eine Erzählung von Edgar Allan Poe, ein Bachchoral. An diesen Variationen kann man sich nicht genug erfreuen, ebenso wie an der eklektischen Gestaltung der einzelnen Kapitel, in die der Film unterteilt ist, und die zwischen verschiedenen Bildformaten, Farbe und Schwarz-Weiß, Handkamera und genauer Komposition changieren.
Außerdem kommentieren immer wieder Grafiken die Bilder: eine Kurvenfunktion, um den optimalen Winkel zum Einparken anzuzeigen, die Anzahl der Stöße, mit denen Joe entjungfert wird, die Zwischenstände beim Männerwettangeln im Zug. Die vielen Männer, mit denen Joe schläft, werden oft nur anonym mit Buchstaben benannt, und einmal masturbiert sie in einer leicht überhöhten Schulmädchenszene mit Geodreieck und Zirkel: Die abstrakten Notationssysteme der Mathematik und Musik skelettieren Joes Libido, um sie auf anderer Ebene zu reaktivieren. Da werden die Liebhaber angeschlagen wie Töne im Akkord eines Bachstücks: als Unterstimme, Oberstimme und Cantus firmus, was im Bild zum Triptychon angeordnet wird und der Dreiheit aus Mund, Vagina und Anus entspricht.
In der Mitte ist Jérôme (Shia LaBeouf), in den Joe sich verliebt hat – um dann später doch wieder nichts für ihn zu empfinden. Dass sie „nichts“ empfunden hätte, behauptet Joe sogar von dem Moment, in dem ihr Vater ziemlich grauenvoll stirbt: Sie sei einfach nur feucht geworden. Aber was heißt das? Trier filmt das Totenbett durch ihre Schenkel, an denen ein Tropfen ihrer Feuchtigkeit herunterrinnt – um auf die konkreteste Art zu zeigen, wie die so gerahmte Szene sie doch überwältigt: durch die Abwesenheit einer „anderen“, nicht-sexuellen Empfindung. Eine sublime Einstellung.
Dass sie stets gefühllos und egoistisch gehandelt habe und folglich „schlecht“ sei, davon will Joe nun Seligman überzeugen, der aber dagegenhält. In Triers vorangegangenen beiden Filmen, „Antichrist“ und „Melancholia“, gab es keine Erlösung für die Frauenfiguren, verdammt durch Hexen-Mythen oder Depressionen. In „Nymphomaniac“ gibt es dagegen keine Mythologisierungen oder Pathologisierungen mehr. Denn „Schuld“ ist nur ein uneinholbares Phantasma in Joes eigener Erzählung, ausgespart schon zwischen den leeren Klammern auf dem Filmplakat, die das „o“ in „Nymphomaniac“ ersetzen. Dass Lars von Trier den Zuschauern jede „Schuld“ – also jeden „Grund“ für Joes Nymphomanie – schuldig bleibt, ist der eigentliche Motor dieses Films: Aus „mea maxima culpa“ wird „mea maxima vulva“, wie in dem satanischen Gesang, den Joe schon als junge Frau anstimmt. So gleicht der Film selbst einer Maxima Vulva, besteht er doch selbst aus lauter Eingängen ohne Ende, durch die man zu immer neuen Geschichten und Bildern gelangt.
„Nymphomaniac: Volume 1“, der ebenso viele Facetten kennt wie Joe Männer, ist weniger ein Film über eine Nymphomanin als nymphomanisches Kino. Es ist Kino für jene, die sich in Raupe-Nimmersatt-Manier in die tiefsten Schlünde sich gegenseitig penetrierender Erzählungen fressen wollen, um die labyrinthische Enzyklopädie unserer zunehmend bilderreichen und also entkleideten Welt zu erforschen. Und die ahnen, dass dabei die Pornografie im Kino keine skandalöse Ausnahme, sondern ein Kompass sein wird. Vielleicht ja sogar für den zweiten Teil.
In Flagranti - Charlotte Gainsbourg und Shia LaBeouf
Es ist dies die erste Sexszene in Lars von Triers „Nymphomaniac: Volume 1“. Genauer gesagt eine Szene, die von Anfang an klarmacht, was wir im Folgenden unter „Sex“ zu verstehen haben werden – etwas anderes nämlich als das, was gemeinhin mit den Hardcore-Sexszenen in diesem Film über eine männerverschlingende, sich selbst als nymphoman bezeichnende Heldin assoziiert wird. Stattdessen ist es die Sinnlichkeit des Regens, das Transpirat einer feuchten, atmenden, das Gemäuer aufweichenden Natur, nachgezeichnet von einer meditativen Kamera, die den starken Einfluss Andrej Tarkowskijs erkennen lässt – eine Erotik also, die wesentlich weiter gefasst werden muss.
Es sollte vorangestellt werden, dass Gegenstand dieses Textes nicht das ganze „Nymphomaniac“-Werk ist, bestehend aus Volume 1 & 2, wie es in einer insgesamt viereinhalbstündigen Fassung bereits im Dezember in Dänemark in die Kinos kam und in dieser Form auch hier schon rezensiert wurde (SZ vom 27. Dezember 2013). Diesmal geht es nur um Teil eins, der für sich steht. Denn wie in vielen Ländern kommen auch in Deutschland beide Teile separat ins Kino, Volume 2 startet mit einiger Verzögerung erst Anfang April. Dass der Verleih anscheinend Angst vor der enormen Länge der Gesamtfassung hat, ist natürlich bitter. Dennoch eröffnet das dem Rezensenten, der den zweiten Teil ebenso wenig kennt wie die Zuschauer, die jetzt ihre Reise ins „Nymphomaniac“-Reich antreten, eine spannende Perspektive.
Die Frau in der Gasse, erfährt man also, heißt Joe. Ein Mann (Stellan Skarsgård) findet sie, sein Name ist Seligman. Er wird sie auflesen und mit zu sich nach Hause nehmen. Er macht ihr Tee, steckt sie ins Bett. Auf die Frage, was ihr zugestoßen sei, antwortet sie, das sei eine längere Geschichte, und als sie zu erzählen beginnt, geht sie weit in die Kindheit zurück: „I discovered my cunt at the age of two.“ Charlotte Gainsbourg verkörpert diese Frau – in den Rückblenden, die dann ihr Leben und ihre Gier nach Sex aufrollen, wird sie von der jüngeren Stacy Martin gespielt.
Der Film, das ist nach diesen ersten Minuten klar, wird sich seinem Gegenstand nicht direkt nähern, sondern über lustvolle Abschweifungen. Für jedes Kapitel ihrer Erzählung lässt sich Joe von einem anderen Gegenstand in Seligmans Zimmer inspirieren – zunächst zum Beispiel von einem kleinen Angelköder an der Wand. Das führt sie zu einer Wette, die sie als Teenager mit einer Freundin abgeschlossen hat: Wer auf einer Zugfahrt mit mehr Männern schläft, bekommt eine Tüte mit Schokobonbons.
Ihre Erzählung wird Seligman nun mit Details aus der Welt des Angels kommentieren, was auf bildlicher Ebene durch einmontiertes Archivmaterial und Found Footage fortgesetzt wird. Schlingpflanzen in einem Teich überlagern eine Kamerafahrt im Zug (eine wunderbare Reminiszenz an Tarkowskijs „Solaris“) – und als Joe mit einem raffiniert ergatterten Blowjob die Wette für sich entscheidet, zieht ein Hobbyangler einen dicken Fisch aus dem Wasser.
Sicher: Das Angeln der Nymphe nach Männern im Tümpel des Zugabteils mag als simple Metapher verstanden werden. In dem Fall aber hätte ein kurzer, pointierter Vergleich genügt. Seligman aber insistiert auf diesen Vergleich, wie er auch im Folgenden auf alle möglichen Parallelen von Joes Geschichte zu Natur, Musik oder Religion insistieren wird, als würde er, eine wandelnde Enzyklopädie, jede von Joes Geschichten noch einmal anders erzählen. Was sehr komisch ist. Und dazu sucht Trier ständig neue Bilder, die Joes Geschichte illustrieren und kommentieren: eine Katze, um einen Liebhaber zu charakterisieren, die Weltenesche aus der Edda-Mythologie, und so fort. Wer auch nur eine Sache verstehen will, muss alles mit ihr in Verbindung setzen, vor allem wenn es sich um Polygamie par excellence handelt.
Und so besteht der Film aus lauter Exkursen, die zu Miniaturkritiken im Film werden und die die Erzählungen und Szenen, in denen es um Penetration geht, selbst penetrieren: Wenn in Joes Geschichte eine frühe Liebschaft plötzlich wie eine romantische Epiphanie im Wald auftaucht, unterbricht Seligman – das sei doch jetzt völlig unglaubwürdig.
Die diversen Auslöser, die Joes mehr oder weniger zuverlässige Erinnerung wiederbringen, lassen dabei an Proust denken: ein Hörnchen etwa, das mit Gabel gegessen wird, ein Gemälde, eine Erzählung von Edgar Allan Poe, ein Bachchoral. An diesen Variationen kann man sich nicht genug erfreuen, ebenso wie an der eklektischen Gestaltung der einzelnen Kapitel, in die der Film unterteilt ist, und die zwischen verschiedenen Bildformaten, Farbe und Schwarz-Weiß, Handkamera und genauer Komposition changieren.
Außerdem kommentieren immer wieder Grafiken die Bilder: eine Kurvenfunktion, um den optimalen Winkel zum Einparken anzuzeigen, die Anzahl der Stöße, mit denen Joe entjungfert wird, die Zwischenstände beim Männerwettangeln im Zug. Die vielen Männer, mit denen Joe schläft, werden oft nur anonym mit Buchstaben benannt, und einmal masturbiert sie in einer leicht überhöhten Schulmädchenszene mit Geodreieck und Zirkel: Die abstrakten Notationssysteme der Mathematik und Musik skelettieren Joes Libido, um sie auf anderer Ebene zu reaktivieren. Da werden die Liebhaber angeschlagen wie Töne im Akkord eines Bachstücks: als Unterstimme, Oberstimme und Cantus firmus, was im Bild zum Triptychon angeordnet wird und der Dreiheit aus Mund, Vagina und Anus entspricht.
In der Mitte ist Jérôme (Shia LaBeouf), in den Joe sich verliebt hat – um dann später doch wieder nichts für ihn zu empfinden. Dass sie „nichts“ empfunden hätte, behauptet Joe sogar von dem Moment, in dem ihr Vater ziemlich grauenvoll stirbt: Sie sei einfach nur feucht geworden. Aber was heißt das? Trier filmt das Totenbett durch ihre Schenkel, an denen ein Tropfen ihrer Feuchtigkeit herunterrinnt – um auf die konkreteste Art zu zeigen, wie die so gerahmte Szene sie doch überwältigt: durch die Abwesenheit einer „anderen“, nicht-sexuellen Empfindung. Eine sublime Einstellung.
Dass sie stets gefühllos und egoistisch gehandelt habe und folglich „schlecht“ sei, davon will Joe nun Seligman überzeugen, der aber dagegenhält. In Triers vorangegangenen beiden Filmen, „Antichrist“ und „Melancholia“, gab es keine Erlösung für die Frauenfiguren, verdammt durch Hexen-Mythen oder Depressionen. In „Nymphomaniac“ gibt es dagegen keine Mythologisierungen oder Pathologisierungen mehr. Denn „Schuld“ ist nur ein uneinholbares Phantasma in Joes eigener Erzählung, ausgespart schon zwischen den leeren Klammern auf dem Filmplakat, die das „o“ in „Nymphomaniac“ ersetzen. Dass Lars von Trier den Zuschauern jede „Schuld“ – also jeden „Grund“ für Joes Nymphomanie – schuldig bleibt, ist der eigentliche Motor dieses Films: Aus „mea maxima culpa“ wird „mea maxima vulva“, wie in dem satanischen Gesang, den Joe schon als junge Frau anstimmt. So gleicht der Film selbst einer Maxima Vulva, besteht er doch selbst aus lauter Eingängen ohne Ende, durch die man zu immer neuen Geschichten und Bildern gelangt.
„Nymphomaniac: Volume 1“, der ebenso viele Facetten kennt wie Joe Männer, ist weniger ein Film über eine Nymphomanin als nymphomanisches Kino. Es ist Kino für jene, die sich in Raupe-Nimmersatt-Manier in die tiefsten Schlünde sich gegenseitig penetrierender Erzählungen fressen wollen, um die labyrinthische Enzyklopädie unserer zunehmend bilderreichen und also entkleideten Welt zu erforschen. Und die ahnen, dass dabei die Pornografie im Kino keine skandalöse Ausnahme, sondern ein Kompass sein wird. Vielleicht ja sogar für den zweiten Teil.