Ein nicht ganz unwesentlicher, bislang aber eher missachteter Aspekt der Skandal-Rede, die die Büchnerpreis-Trägerin Sybille Lewitscharoff am vorvergangenen Sonntag im Dresdner Staatsschauspiel gehalten hat, ist das Onanieverbot. Sie hat auch ihre Aussage, ein solches sei im Hinblick auf die Reproduktionsmedizin „weise“, mittlerweile zähneknirschend relativiert – aber sie begab sich damit in eine Gesellschaft, die auch im Jahr 2014 gar nicht so klein ist. Mitunter sogar illuster. Zu den Zeitgenossen, die Onanie als schädlich für Leib und Seele, sogar widernatürlich halten, gehört immerhin auch 50 Cent.
Ist nicht für jeden Spaß zu haben: Büchner-Preisträgerin Sybille Lewitscharoff
Der New Yorker Gangster-Rapper und Multimillionär, in dessen Videos Frauen meist halb nackt auftreten, ließ vor etwas mehr als einem Jahr seine Fans über Twitter wissen, dass Onanie eine Sünde sei, die man sofort zu beenden habe, um bewusster zu leben. 50, also „Fifty“, wie ihn Freunde und Verehrer nennen, veröffentlichte zur Botschaft einen Vier-Punkte-Plan, der dabei helfen soll, der Selbstliebe-Falle zu entkommen: keine Pornos, nicht den Frauen auf der Straße hinterherschauen, keine Strip-Club-Besuche, keine Magazine mit anzüglichen Fotos mehr – ganz einfach nur Gangster sein.
Er ist damit der berühmteste Vertreter der Fapstronauts-Bewegung (Fapping ist ein englischer Slangausdruck für Selbstbefriedigung). Deren Mitglieder fühlen sich durch Pornokonsum und Onanie abgestumpft und energielos. Auf der Webseite de.reddit.com/r/NoFap huldigen die etwa 100000 Mitglieder der Onanie-Abstinenz. Ihre Erlebnisse lesen sich wie Trip-Berichte oder religiöse Erweckungen („Ich habe 90 Tage geschafft, ich bin ein neuer Mensch!“). Die Welt ohne die öde Wichserei sei wieder bunt. Das Leben habe wieder einen Sinn, sei stress- und suchtfrei, es regne Erfolge in Liebe, Job und Sport.
Für die Fapstronauts ist die Onanie Ausdruck und Endpunkt eines kranken Systems, das den Menschen mit einem Übermaß an schädlichen Verlockungen überfordere. Für Sybille Lewitscharoff ist die Onanie der Startpunkt des ihrer Meinung nach kranken Systems der Reproduktionsmedizin. Sie selbst sei „im Übrigen froh, nicht der Onanie und der darauf folgenden komplexen medizinischen Machinationen meine Existenz zu verdanken“, sagte sie in ihrer Rede. Aber es stellt sich schon die Frage, warum sie hier den Begriff Onanie wählt, es hätte ja auch einfach Künstliche Befruchtung sein können. Wahrscheinlich um den Ekel vor den „Machinationen“ noch zu steigern. Denn der wahre, der gute, vitale, gottgefällige Sex kann nicht der mit sich allein sein, sondern nur der zwischen zwischen Mann und Frau.
Wie so oft in der Geschichte dient die Verdammung der Onanie ideologischen Zwecken. Einen Höhepunkt erreichte das in der Aufklärung. 1712 erschien in England ein Buch mit dem Namen „Onania“ und schuf ein „nahezu universelles Vehikel zur Erzeugung von Schuld, Scham und Angst“, schreibt der Historiker Thomas Laqueur in seiner Kulturgeschichte der Selbstbefriedigung „Die einsame Lust“. „Onania“ machte mit pseudowissenschaftlichem Furor Selbstbefriedigung zur Selbstbefleckung, zu einer Sünde, die alle möglichen Krankheiten auslösen konnte. Kopfschmerzen zum Beispiel und lähmende Lethargie. „Onania“ taugte als Bibel der Fapstronauts.
Natürlich wurde die Onanie auch vorher schon für unmoralisch gehalten, die Kirche verbot sie, aber es gab weitaus schlimmere Sünden. In der Antike machte man sich über sie lustig, für einen römischen Ehrenmann ziemte sie sich nicht. Später, im Mittelalter empfahlen sie Mediziner als therapeutisches Mittel, um überschüssiges Sperma loszuwerden. Doch erst mit „Onania“ wurde sie zum Übel schlechthin, denn das Buch stellte die ablehnende Haltung der Kirche auf eine vermeintlich vernünftige Basis, indem es die moralische Verwerflichkeit um von der Onanie hervorgerufene körperliche Schäden erweiterte.
„Onania“ verkaufte sich gut. Detaillierte Fallgeschichten bedienten den Voyeurismus der Leser und mit dem Pamphlet wurden Heilmittel für die Onanie-Malaise verkauft. Pharmakologen wussten schon immer, wie man mit erfundenen Leiden Gewinne macht. Doch auch wenn der „Onania“-Autor ein Quacksalber war, besiegelte er das Schicksal der Masturbation für lange Zeit. Denn die Intelligenzija der Zeit war begeistert vom neuen Leiden. Der bekannteste und einflussreichste Mediziner der Aufklärung, Samuel Auguste David Tissot, schrieb eine seiner Ansicht nach wissenschaftlich fundierte Version zu „Onania“. Dort vermerkte er, dass Samenverlust schädlicher als Blutverlust und die Sucht nach Selbstbefleckung Ursache für Krankheiten sei, die tödlich verlaufen konnten. Rousseau und Kant lasen Tissot. Beide stimmten ihm zu. Kant beurteilte Masturbation als „zutiefst naturwidrig“ und schlimmer als Selbstmord.
Das Onanieverbot war also nie nur biblisch, sondern auch naturwissenschaftlich begründet. Diese Sicht blieb bis weit ins 20. Jahrhundert wirksam. Harvey Kellogg, der Erfinder der gleichnamigen Cornflakes und Wellnesspapst des 19. Jahrhunderts, nannte die Masturbation das „Moloch der menschlichen Gattung“. Pillen, Tinkturen und Salben wurden dagegen verschrieben. Dann verschwanden die körperlichen Leiden, und die Psyche kam ins Spiel. Für Freud war Masturbation im Kindes- und Jugendalter durchaus in Ordnung. Ein Entwicklungsschritt auf dem Weg ins Erwachsenenalter. Wer es aber noch im fortgeschrittenen Alter nicht lassen konnte, musste neurotisch sein.
Bis heute hat diese Ablehnung auch Einfluss auf Kunst, Film und Literatur. Selten befassen sich Schriftsteller oder Regisseure mit dem folgenlosen Vergnügen vorurteilsfrei. Eine Ausnahme ist der Autor und frühere Mann der Künstlerin Niki de Saint Phalle, Harry Mathews, der in seinem 1988 erschienenen Buch „Singular Pleasures“ erzählt: „Irgendwo nördlich der Bering-Straße sitzt mit gelassener Miene, jede Bewegung unter dem dicken Pelz und Fell unsichtbar, auf dem Rand einer Eisscholle ein einunddreißig Jahre alter Eskimo und bringt sich, triefend von glitschigem Walfett, zu einem Orgasmus von überwältigender Intensität.“
Von der Paris Review gefragt, warum er in 61 Szenen wie dieser die Selbstbefriedigung zum Thema gemacht habe, sagte Mathews: „Weil es die am weitesten verbreitete Form der Sexualität ist." Genau das sehen und sahen viele seiner Kollegen anders. Norman Mailer sagte einmal: „Selbstbefriedigung ist schlecht, in Bezug auf so ziemlich alles – Orgasmus, Heterosexualität, Stil, Haltung, fähig zu sein, den guten Kampf zu kämpfen.“ Eine eigene Form der Sexualität? Eher Ursprung allen Übels.
Es ist eine alte Perspektive, einst aus religiöser Verblendung entstanden, häufig umcodiert. Sybille Lewitscharoff fügte der Sache nun eine neue Facette hinzu. Ihr nonchalanter Wunsch nach einem Onanieverbot folgt nicht der Idee, körperliche und seelische Leiden beim Onanierenden zu vermeiden, sondern zunächst dem bekannten Dogma: Du sollst nicht kostbaren Samen verschwenden. Nicht aber, weil aus der Onanie in der Samenbank kein Leben entstehen würde, sondern weil das Leben aus der technischen Reproduktion für die Schriftstellerin weniger wert zu sein scheint und so zum vergeudeten Gottesgeschenk wird. So gnadenlos war kaum einer ihrer Vorgänger.