Sie trägt gespendete Kleider, andere hat sie nicht mehr. Der Tsunami hat Tsuyako Ito alles geraubt. Seither wohnt die letzte Geisha von Kamaishi, 88 Jahre alt, in der Container-Siedlung Tenjin-Cho Danshi. Die kleine Frau sitzt in ihrem winzigen Wohnzimmer am Kotatsu, einem tiefen Tisch mit Heizdecke. An der Wand stehen einige Fotos, die man aus den Trümmern gerettet hat. Obwohl Tsuyako Ito fast nichts mehr besitzt, ist der Raum überfüllt. „Ich bin ja klein und allein, ich komme zurecht“, sagt sie. Schwieriger sei das Leben im Container für Familien.
Trauernde Angehörige eines Tsunamiopfers in Fukushima
Geisha Ito weiß, wie wichtig der soziale Zusammenhalt in den vielen Container-Siedlungen im Tsunamigebiet ist. Die allein lebenden alten Leute können nicht einmal mehr einkaufen gehen, Läden gibt es keine mehr. Zum Supermarkt müssen sie sich fahren lassen. Ältere Tsunami-Flüchtlinge vereinsamen, immer wieder wird ein Selbstmord gemeldet. In ihrer Container-Siedlung unterhält Geisha Ito die Tsunami-Flüchtlinge deshalb mit Auftritten. Und sie unterrichtet traditionellen Tanz. „Drei Jahre hatte ich schwarze Gefühle, jetzt hellen sie sich auf“, sagt sie.
Genau drei Jahre sind nun vergangen seit der Katastrophe. Noch zwei, drei Jahre werde es dauern, glaubt die 88-Jährige, dann könne sie in ihr Wohnhaus am Hafen zurück. Doch das ist wohl nur ein frommer Wunsch. Denn solange nicht klar ist, wie sich die Stadt gegen künftige Tsunamis schützt, dürfen Bauten nicht einmal geplant werden. Und das dauert.
Sechs Monate vor der Katastrophe hatte Kamaishi den größten Tsunami-Schutzwall der Welt eingeweiht. Er war sieben Meter hoch und 1960 Meter lang. Die Bauarbeiten hatten 31 Jahre gedauert und 1,5 Milliarden Dollar gekostet. Guinness überreichte den Stadtvätern ein Weltrekord-Diplom. Als die Erde am 11.März 2011 bebte und die Sirenen dröhnten, wähnten sich viele Menschen deshalb sicher. Aber die Flut schwappte über die Mauer, unterspülte sie und schob ihre Abschnitte weg wie Spielzeugklötze.
Etwas nördlich von Kamaishi liegt das Fischerdorf Kirikiri. Kurz nach dem Tsunami begann der damals pensionierte Automechaniker Matsuhika Haga als Freiwilliger, das Aufräumen zu organisieren. „Wir sind noch lange nicht fertig, zur Zeit arbeiten wir im Wald“, sagt er. Am Strand liegen die Trümmer des Tsunami-Walls von Kirikiri. Der Hafen bietet das gleiche Bild wie vor einem Jahr; ein Kranboot fischt Autoreifen, Kühlschränke und anderen Hausrat aus dem Wasser. Hagas Haus war nur teilweise zerstört, mit seinen Ersparnissen und einem Zuschuss vom Staat konnte er es reparieren. Das durfte er. Neu bauen durfte er nicht.
Schlimmer erging es seinem Helfer Takayuki Kimura. Von seinem Haus ist nichts geblieben – außer Bauschulden: 15 Jahre lang muss er noch abzahlen. Als 53-Jähriger ohne Stelle habe er keine Chance auf eine neue Hypothek. So wohnt er mit seiner alten Mutter im Container. „Wenigstens hat sie ihre Freundinnen, sie treffen sich jeden Tag zum Tee”, sagt er. Auch Takayuki Kimura muss sich mit seiner Mutter auf Dauer im Container einrichten, nicht nur wegen seiner Schulden. Die Gemeinde hat noch nicht einmal einen Zonenplan.
Wie fast überall entlang der Küste streitet man auch hier über eine neue Tsunami-Mauer, die im Prinzip beschlossen ist. Die bisherige war fünf Meter hoch, doch sie erwies sich als nutzlos. Tokio plant nun für Kirikiri eine Mauer von 12,8 Metern Höhe. An ihrer Basis soll sie fünfzig Meter breit werden. „In den ersten Monaten nach dem Tsunami waren fast alle dafür“, erzählt Matsuhika Haga. „Aber inzwischen sind die meisten dagegen.“ Dort, wo Schutzmauern geplant sind, darf nicht gebaut werden, bis diese stehen. Damit werden die Tsunami-Flüchtlinge zu Geiseln der Bauunternehmer. Für Kirikiri ist eine Bauzeit von drei Jahren geplant, aber alle hier wissen, dass es länger dauern wird.
Einer Umfrage der Tageszeitung Yomiuri zufolge wollen nur 40 Prozent der Tsunami-Flüchtlinge zurück an den Ort, wo einst ihre Häuser standen. Zumal es dort keine Arbeit gibt. Die lokale Wirtschaft wird von den Schutzwällen nicht profitieren. Die werden zwar von Tokio bezahlt.
„Aber 30 Prozent des Geldes bleiben beim Generalunternehmer, der nur einige Telefonate macht, 20 Prozent nimmt der lokale Bauunternehmer”, spottet Haga. Und für die andere Hälfte würden Lkws Dreck durch die Gegend karren.
„Eisernes Dreieck” nennt man den Filz zwischen Bürokratie, Bauwirtschaft und Politik in Japan. Für den Unterhalt der Mauer wird dann die Präfektur Iwate sorgen müssen. „Aber die hat dafür kein Geld“, sagt Haga. „Zudem leben Fischer vom Meer und mit dem Meer, deshalb kann man es nicht einfach wegsperren.“
Die Regierung von Premier Shinzo Abe, die zu großen Lösungen neigt, hat nun sogar beschlossen, den Erdboden in den meisten Buchten hinter den geplanten Mauern um fünf bis acht Meter anzuheben. Häuser, die den Tsunami überstanden, sollen rückgebaut und später neu errichtet werden. Die Stadt Rikuzentakata wurde vom Tsunami fast völlig zerstört, jetzt überziehen riesige Förderbandanlagen die verwüstete Ebene von sechs Quadratkilometern. Sie bringen Erdreich von einem Berg. In zehn Jahren soll die Ebene acht Meter höher liegen, sagt die Regierung. Dass das kaum möglich ist, räumt sogar der Baustellenchef ein.
Japan ist voll von Megaprojekten, die nie vollendet wurden. Jetzt sollen an der Sanriku-Küste etwa 40 Baumaßnahmen zugleich fertig werden. Und in Tokio baut man für die Olympischen Spiele. Wie soll das gehen? „Shoganai“ kommentieren die Leute in Rikuzentakata die Aussicht, noch zehn Jahre im Container bleiben zu müssen: „Man kann nichts machen.“ Die ganze Sanriku-Küste ist nun also eine Kette von riesigen Baustellen. Sie blockieren die Selbsthilfe in den Gemeinden und zerstören, was von der sozialen Struktur geblieben ist. Viele Junge ziehen weg, sie wollen nicht ein Jahrzehnt im Container warten.
Ohnehin ist der Nutzen neuer Mauern umstritten. „Sollten sie dereinst stehen, wähnen sich die Leute sicher“, fürchtet Professor Takao Suzuki von der Tohoku-Universität. „Dabei hat schon das letzte Erdbeben den Untergrund vielerorts aufgeweicht.“ Die schweren Schutzwälle könnten einbrechen. Sie schädigten Flora und Fauna, Muschel- und Seeschneckenfischerei würden zerstört, sagt der Professor. Und ihre Fundamente blockierten den Grundwasseraustausch. „Wenn man das Land so hermetisch vom Wasser trennt, beschädigt man beides.“
„Das war der vierte Tsunami, den ich erlebt habe“, resümiert die letzte Geisha von Kamaishi den 11. März 2011. Sie erinnert sich gut an ihren ersten, 1933, sie war acht Jahre alt. Er kam mitten in der Nacht. „Wie vor drei Jahren hat mich damals jemand auf der Flucht getragen.“ Und wie damals begann der Staat anschließend, massivere, höhere, angeblich sichere und enorm teure Schutzwälle zu bauen. Profitiert hat nur die Bauwirtschaft. Und als die Mauern sich vor drei Jahren bewähren sollten, machten sie die Katastrophe nur noch schlimmer.
Trauernde Angehörige eines Tsunamiopfers in Fukushima
Geisha Ito weiß, wie wichtig der soziale Zusammenhalt in den vielen Container-Siedlungen im Tsunamigebiet ist. Die allein lebenden alten Leute können nicht einmal mehr einkaufen gehen, Läden gibt es keine mehr. Zum Supermarkt müssen sie sich fahren lassen. Ältere Tsunami-Flüchtlinge vereinsamen, immer wieder wird ein Selbstmord gemeldet. In ihrer Container-Siedlung unterhält Geisha Ito die Tsunami-Flüchtlinge deshalb mit Auftritten. Und sie unterrichtet traditionellen Tanz. „Drei Jahre hatte ich schwarze Gefühle, jetzt hellen sie sich auf“, sagt sie.
Genau drei Jahre sind nun vergangen seit der Katastrophe. Noch zwei, drei Jahre werde es dauern, glaubt die 88-Jährige, dann könne sie in ihr Wohnhaus am Hafen zurück. Doch das ist wohl nur ein frommer Wunsch. Denn solange nicht klar ist, wie sich die Stadt gegen künftige Tsunamis schützt, dürfen Bauten nicht einmal geplant werden. Und das dauert.
Sechs Monate vor der Katastrophe hatte Kamaishi den größten Tsunami-Schutzwall der Welt eingeweiht. Er war sieben Meter hoch und 1960 Meter lang. Die Bauarbeiten hatten 31 Jahre gedauert und 1,5 Milliarden Dollar gekostet. Guinness überreichte den Stadtvätern ein Weltrekord-Diplom. Als die Erde am 11.März 2011 bebte und die Sirenen dröhnten, wähnten sich viele Menschen deshalb sicher. Aber die Flut schwappte über die Mauer, unterspülte sie und schob ihre Abschnitte weg wie Spielzeugklötze.
Etwas nördlich von Kamaishi liegt das Fischerdorf Kirikiri. Kurz nach dem Tsunami begann der damals pensionierte Automechaniker Matsuhika Haga als Freiwilliger, das Aufräumen zu organisieren. „Wir sind noch lange nicht fertig, zur Zeit arbeiten wir im Wald“, sagt er. Am Strand liegen die Trümmer des Tsunami-Walls von Kirikiri. Der Hafen bietet das gleiche Bild wie vor einem Jahr; ein Kranboot fischt Autoreifen, Kühlschränke und anderen Hausrat aus dem Wasser. Hagas Haus war nur teilweise zerstört, mit seinen Ersparnissen und einem Zuschuss vom Staat konnte er es reparieren. Das durfte er. Neu bauen durfte er nicht.
Schlimmer erging es seinem Helfer Takayuki Kimura. Von seinem Haus ist nichts geblieben – außer Bauschulden: 15 Jahre lang muss er noch abzahlen. Als 53-Jähriger ohne Stelle habe er keine Chance auf eine neue Hypothek. So wohnt er mit seiner alten Mutter im Container. „Wenigstens hat sie ihre Freundinnen, sie treffen sich jeden Tag zum Tee”, sagt er. Auch Takayuki Kimura muss sich mit seiner Mutter auf Dauer im Container einrichten, nicht nur wegen seiner Schulden. Die Gemeinde hat noch nicht einmal einen Zonenplan.
Wie fast überall entlang der Küste streitet man auch hier über eine neue Tsunami-Mauer, die im Prinzip beschlossen ist. Die bisherige war fünf Meter hoch, doch sie erwies sich als nutzlos. Tokio plant nun für Kirikiri eine Mauer von 12,8 Metern Höhe. An ihrer Basis soll sie fünfzig Meter breit werden. „In den ersten Monaten nach dem Tsunami waren fast alle dafür“, erzählt Matsuhika Haga. „Aber inzwischen sind die meisten dagegen.“ Dort, wo Schutzmauern geplant sind, darf nicht gebaut werden, bis diese stehen. Damit werden die Tsunami-Flüchtlinge zu Geiseln der Bauunternehmer. Für Kirikiri ist eine Bauzeit von drei Jahren geplant, aber alle hier wissen, dass es länger dauern wird.
Einer Umfrage der Tageszeitung Yomiuri zufolge wollen nur 40 Prozent der Tsunami-Flüchtlinge zurück an den Ort, wo einst ihre Häuser standen. Zumal es dort keine Arbeit gibt. Die lokale Wirtschaft wird von den Schutzwällen nicht profitieren. Die werden zwar von Tokio bezahlt.
„Aber 30 Prozent des Geldes bleiben beim Generalunternehmer, der nur einige Telefonate macht, 20 Prozent nimmt der lokale Bauunternehmer”, spottet Haga. Und für die andere Hälfte würden Lkws Dreck durch die Gegend karren.
„Eisernes Dreieck” nennt man den Filz zwischen Bürokratie, Bauwirtschaft und Politik in Japan. Für den Unterhalt der Mauer wird dann die Präfektur Iwate sorgen müssen. „Aber die hat dafür kein Geld“, sagt Haga. „Zudem leben Fischer vom Meer und mit dem Meer, deshalb kann man es nicht einfach wegsperren.“
Die Regierung von Premier Shinzo Abe, die zu großen Lösungen neigt, hat nun sogar beschlossen, den Erdboden in den meisten Buchten hinter den geplanten Mauern um fünf bis acht Meter anzuheben. Häuser, die den Tsunami überstanden, sollen rückgebaut und später neu errichtet werden. Die Stadt Rikuzentakata wurde vom Tsunami fast völlig zerstört, jetzt überziehen riesige Förderbandanlagen die verwüstete Ebene von sechs Quadratkilometern. Sie bringen Erdreich von einem Berg. In zehn Jahren soll die Ebene acht Meter höher liegen, sagt die Regierung. Dass das kaum möglich ist, räumt sogar der Baustellenchef ein.
Japan ist voll von Megaprojekten, die nie vollendet wurden. Jetzt sollen an der Sanriku-Küste etwa 40 Baumaßnahmen zugleich fertig werden. Und in Tokio baut man für die Olympischen Spiele. Wie soll das gehen? „Shoganai“ kommentieren die Leute in Rikuzentakata die Aussicht, noch zehn Jahre im Container bleiben zu müssen: „Man kann nichts machen.“ Die ganze Sanriku-Küste ist nun also eine Kette von riesigen Baustellen. Sie blockieren die Selbsthilfe in den Gemeinden und zerstören, was von der sozialen Struktur geblieben ist. Viele Junge ziehen weg, sie wollen nicht ein Jahrzehnt im Container warten.
Ohnehin ist der Nutzen neuer Mauern umstritten. „Sollten sie dereinst stehen, wähnen sich die Leute sicher“, fürchtet Professor Takao Suzuki von der Tohoku-Universität. „Dabei hat schon das letzte Erdbeben den Untergrund vielerorts aufgeweicht.“ Die schweren Schutzwälle könnten einbrechen. Sie schädigten Flora und Fauna, Muschel- und Seeschneckenfischerei würden zerstört, sagt der Professor. Und ihre Fundamente blockierten den Grundwasseraustausch. „Wenn man das Land so hermetisch vom Wasser trennt, beschädigt man beides.“
„Das war der vierte Tsunami, den ich erlebt habe“, resümiert die letzte Geisha von Kamaishi den 11. März 2011. Sie erinnert sich gut an ihren ersten, 1933, sie war acht Jahre alt. Er kam mitten in der Nacht. „Wie vor drei Jahren hat mich damals jemand auf der Flucht getragen.“ Und wie damals begann der Staat anschließend, massivere, höhere, angeblich sichere und enorm teure Schutzwälle zu bauen. Profitiert hat nur die Bauwirtschaft. Und als die Mauern sich vor drei Jahren bewähren sollten, machten sie die Katastrophe nur noch schlimmer.