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Reif auf der Insel

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Der Neuankömmling. Chen Liangting, 22 Jahre, Student der Werbegrafik. Am Tag zuvor erst ist er aus dem Zug gestiegen, aus Taizhong kommend, wo die Eltern eine Pension führen. Sei kein Narr, hatten die Eltern gesagt, sei brav, studiere. Jetzt steht er hier in Taipeh, in Taiwans Parlament, an der Schwelle zum besetzten Versammlungssaal. „Ich habe es im Fernsehen gesehen“, sagt er. „Aber das hier fühlt sich stärker an. Das ist echt. Die Studenten hier wissen, was sie tun, was sie wollen. Und wie höflich alle sind.“ Wie es ist, in Taiwan jung zu sein? „Außer all der Hoffnungslosigkeit?“, fragt er zurück. Dann deutet er auf das Treiben im Saal. „Wer hätte das gedacht?“, sagt er. „Das Volk feiert hier ein Fest.“



Mit Sonnenblumen demonstrieren junge Taiwanesen gegen China

„Was ist unsere Zukunft? Die Zukunft ist ein treibender Strom, und keiner sieht sein Ende.“ Ein Lied der taiwanischen Band „Village Armed Youth“. „Wo ist das Glück?“ war ihre letzte CD betitelt. Als die Schreiber des Blogs „Taiwan Music Writing Group“ die Neuerscheinungen des vergangenen Jahres Revue passieren ließen, da stellten sie diesen Satz voran: „Die Insel Taiwan erstickt an einem Gefühl von Melancholie und Depression.“

In ihrer Zukunftsangst unterscheiden sich Taiwans Studenten kaum von der Jugend anderswo. Aber es gibt einen Unterschied: Über Taiwans Jugend hängt nicht bloß der unscharfe Schatten der Globalisierung. Hier ist die Furcht ganz konkret: „Wir starren auf das riesige China“, sagt Chen Liangting. „Und wir haben Angst.“

Der Professor. Chen Ciyang, 50 Jahre alt, Dozent für Verfassungsrecht an der Nationalen Taipeh Universität. Er hält gerade Unterricht. Draußen auf der Straße. Vor dem Parlament. Inmitten der Demonstranten. „Schaut euch das gut an“, sagt er zu den zwei Dutzend Schülern, die sich um ihn scharen. „Eine Demokratie lebt vom Recht. Sie lebt aber auch von Menschen, die den Geist des Rechts atmen, die aufstehen, wenn sie die Demokratie in Gefahr sehen.“ Der Professor spricht auch Deutsch. „In Deutschland“, sagt er, „wäre das Artikel 20, Absatz 4“: das Recht zum Widerstand gegen jeden, der es unternimmt die verfassungsgemäße Ordnung zu beseitigen. Starker Tobak. Der Professor ist eher der beleibte, gemütliche Typ. Er sagt: „Sie haben mich überrascht, meine Studenten. Ich dachte, sie surfen den ganzen Tag im Internet, haben keine eigenen Gedanken.“ Und jetzt das.

Die Studentenführer. Lin Fei-fan (Politologie) und Shih I-lun (Philosophie). Der eine, Lin, 25 Jahre alt, trägt ein Handtuch um den Nacken, ein wenig wie ein Rockstar vor der Zugabe, beide schlingen ihre Lunchpakete hinunter. Essen, schlafen? Kaum Zeit. „Wir hätten nicht gedacht, dass es so einfach ist“, sagt Lin. „100 Leute, keine 20, 30 Minuten, und wir waren drin.“ Im heiligen Parlament. Vor fast zwei Wochen war das. Jetzt sind sie noch immer drin.

Der Präsident sagt, die Studenten schadeten mit der Besetzung des Parlaments Rechtsstaat und Demokratie. Shih I-lun sagt: „Vor kurzem noch hätten wir uns das nie getraut.“ Lin Fei-fan sagt: „Die Bürgergesellschaft ist stark in Taiwan, aber das demokratische System ist beschädigt. Die Art und Weise, wie die Kuomintang-Regierung den Pakt durchpeitschen wollte, wie sie Volk und Parlament missachtete – wir konnten nicht mehr anders.“ Lin bricht ab, beide lauschen dem Lied, das aus dem Saal dringt. Ein Mütterchor bringt ein Ständchen „für unsere Kinder, die unser Land beschützen“. „Gott, fangen da schon wieder welche an zu singen?“, stöhnt Lin. „Was sind wir denn für eine Bewegung?“ Er will aufspringen. Sein Freund fällt ihm in den Arm. „Ach, lass sie doch.“ Beide lachen. Erschöpft, berauscht.

Hunderttausende gehen an diesem Sonntag in Taipeh auf die Straße. Das Werk der Studenten. Die Sonnenblumenrevolution. Bislang mehr Sonnenblume als Revolution. Wer ins Herz dieses Aufstands möchte, in den Plenarsaal des Parlaments, wo sich die Studenten verschanzt haben, der muss vor allem zwei Hürden überwinden: erst die Hände waschen. Und einmal Fiebermessen bitte. Dann geben die Türwächter den Weg frei. Regierungssender geben sich Mühe, die Studenten des Vandalismus zu überführen, aber die einzigen Bilder von Gewalt lieferte bislang der gescheiterte Sturm auf das Regierungsgebäude des Exekutivyuans vor einer Woche, und das waren Bilder von Polizeigewalt.

Rund ums Parlament regeln derweil Ordner der Studenten den Zustrom der Demonstranten. „Lasst uns sauber und ordentlich sein“, mahnt eine Sprecherin. Drinnen, im Plenarsaal, erinnert die Szenerie in ihrer Mischung aus Zeltlager und Kirchentag an frühe Parteitage der deutschen Grünen: Schlafsäcke in der Ecke, antiautoritäre Spruchbänder („Fuck the government“), basisdemokratische Teppichkreise, die Sonnenblumen – alles da. Nur tragen die meisten Laptops statt Gitarren: Bei dieser Revolution kann über Webportale wie Ustream jeder live dabei sein. Die Haare sind kürzer. Und das Recycling ist militanter: „Wenn du noch immer nicht kapiert hast, dass hier keine Essstäbchen reinkommen“, warnt eine Notiz über den Müllkartons, „dann steck ich sie dir in deine Nasenlöcher.“

Vordergründig geht es um das von Taiwans Regierung ausgehandelte „Abkommen über den Transfer von Dienstleistungen zwischen beiden Seiten der Straße von Taiwan“. Zwischen Taiwan und China also. In Wirklichkeit geht es um mehr. „Um unsere Zukunft, unser Land, unsere Demokratie“. Lin Fei-fan sagt das, der Studentenführer. Die Insel Taiwan, das wird im Westen oft vergessen, ist das Mächtigste, was zwischen Chinas Führern und ihrer Behauptung steht, Chinesen taugten nicht zur Demokratie: der einzige Flecken, auf dem Chinesen sich selbst demokratisch regieren. Hier steht einiges auf dem Spiel. Noch vor drei Jahrzehnten war Taiwan eine Diktatur. Chiang Kai-sheks Kuomintang KMT hatte 1949 den Bürgerkrieg gegen Mao Zedongs Kommunisten verloren und baute die Insel mit Hilfe der USA zu ihrer Fluchtburg aus. Die Einparteienherrschaft der KMT hier war lange das rechte Spiegelbild der kommunistischen Herrschaft in Peking. Vor drei Jahrzehnten gestatteten die Erben Kai-shekserste Reformen – heute ist Taiwan eine der lebendigsten, erfolgreichsten Demokratien Asiens.

Warum also die Angst? China, immer wieder China.

Die Studenten haben die gewählten Volksvertreter aus ihrem Domizil vertrieben. Und dennoch sieht es im Moment so aus, als stünde eine Mehrheit des Volkes hinter ihnen. In Umfragen sagen 70 Prozent der Taiwaner, sie unterstützten die Forderungen der Studenten. „Wir haben Jahrzehnte für unsere Freiheit gerungen, für unsere Werte, unseren Lebensstil“, sagt Richard Lü, ein Rechtsanwalt und Juradozent, „Die bange Frage, die sich viele nun stellen ist: Verlieren wir das alles bald?“

In den letzten Jahren ist viel passiert. Das einstige Wirtschaftswunderkind Taiwan ist in die Krise geschlittert. Gleichzeitig boomt China, ist stark und einflussreich geworden. Jenes China, das Taiwan, die aus seiner Sicht abtrünnige Insel, gerne schlucken möchte: Die Wiedervereinigung mit Taiwan ist das Mantra der KP-Führer in Peking. Mehr als 1000 Raketen hat Peking noch immer auf Taiwan gerichtet. Seit ein paar Jahren aber versucht Peking, die Taiwaner wirtschaftlich zu umgarnen. Und fand darin einen Partner in Taiwans Präsident Ma Ying-jeou, der bei den Wahlen 2008 für die KMT das Präsidentenamt zurückgewann. Mit der Unterstützung von Taiwans Industriellen leitete Ma eine beispiellose Annäherung zwischen den eben noch verfeindeten beiden Seiten ein: Hunderte Direktflüge jede Woche, chinesische Studenten an Taiwans Universitäten, zwei Millionen chinesische Touristen im Jahr – noch vor Kurzem wäre das alles unvorstellbar gewesen.

Das Kalkül Chinas ist: Die wirtschaftliche Verflechtung soll irgendwann zu einer einigen Nation führen. Bemerkenswerterweise aber wachsen gleichzeitig mit Chinas Engagement unter den Taiwanern Trotz und Widerstand. Bei Umfragen sagt anders als früher mittlerweile kaum mehr einer „Ich bin Chinese“. Mehr als 80 Prozent sagen heute: „Ich bin Taiwaner“.

Das Kalkül von Präsident Ma war: Die Annäherung schafft Profite und Jobs, die Taiwaner danken es ihm. Das Gegenteil ist der Fall: Ende letzten Jahres waren nur mehr neun Prozent der Taiwaner einverstanden mit Mas Politik, ein historischer Absturz. „Die Leute haben Angst, dass China zu viel Einfluss gewinnt in Taiwan“, sagt Rechtsanwalt Richard Lü. „Sie haben Unternehmen wie Taiwans WantWant-Gruppe gesehen, die hier Zeitungen kaufen und zum Sprachrohr Pekings machen. Nun sehen sie den Dienstleistungspakt, der unseren Firmen Möglichkeiten in China bringt, der aber auch viele Felder unserer Wirtschaft – Banken, Verlage, Krankenhäuser, Telekom – für chinesisches Investment öffnet. Sie fragen: Ist das nun die Medizin, die mich ein wenig stärker macht? Oder ist es die Giftpille, die mich am Ende umbringt?“

Präsident Ma hat wohl recht, wenn er klagt, kaum einer der Demonstranten kenne die Details des Paktes, die Vorteile, die er Taiwan bringe. Aber das ist Teil seines Versagens. Was Studenten und Bürger so aufgebracht hat, war die Intransparenz, die Art und Weise, wie er das Abkommen durchs Parlament peitschen wollte: Noch im letzten Jahr hatte Ma versprochen, das Parlament dürfe den Pakt Punkt für Punkt diskutieren, dann überraschte der KMT-Abgeordnete Chang Ching-chung Volk und Studenten mit einem Husarenstreich. Er erklärte im zuständigen Ausschuss den Pakt innerhalb von nur einer halben Minute für verabschiedet. Nur wenig später brachen die Studenten ins Parlament ein.

„Ein Präsident, der nur mehr neun Prozent der Bevölkerung hinter sich hat, wollte in dreißig Sekunden die Zukunft Taiwans verkaufen“, sagt Studentenführer Lin Fei-fan. „Ohne Transparenz, ohne Aufsicht durch das Volk.“

Ums Parlament versammeln sich nicht nur die Studenten. Auch viele Professoren sind gekommen. „Wir brauchen den Dialog mit China, wir wollen keine Einsiedlerinsel sein“, sagt Politikprofessorin Huang Chang-ling. „Aber Demokratie muss dabei eine Rolle spielen.“ Rechtsanwalt Richard Lü sagt: „Anders als wir sind die Studenten in einer Demokratie groß geworden. Gleichzeitig haben sie erlebt, wie China Taiwan schikaniert und international isoliert. Chinas Führer sind stolz, dass die meisten ihrer Bürger sich satt essen können. Uns reicht das nicht. Wir sind viel weiter. Wir wollen Respekt, Würde.“

Der Soziologe Wu Jieh-min war einst selbst dabei, als 1990 die Protestbewegung der „Wilden Lilien“ half, die junge Demokratie auf die Gleise zu setzen, heute ist er Lehrer von einigen der Studentenführer. Was er seinen Studenten rät? „Sei ein Demokrat. Sei unbequem. Dann wird China uns nicht schlucken wollen. Und wenn, dann werden sie uns nicht verdauen können. Wir werden der Knochen sein, der in ihrem Bauch quer steht.“

Taiwans Beispiel hat immer schon ausgestrahlt, das ist heute nicht anders: Aus Hongkong reisen Studenten auf eigene Kosten an, um „zu lernen“, wie einer sagt. Unter den freiwilligen Helfern der Sonnenblumenrevolutionäre finden sich einige der Austauschstudenten aus Shanghai, Guangzhou und Peking. „Unglaublich, das hier“, sagt einer. „25 Jahre nach der Studentenbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens.“

Wie also ist es, in Taiwan heute jung zu sein? Im besetzten Parlament steht der Student Chen Liangting und sagt: „Vorige Woche noch dachte ich, ich sei zu jung, mich um mein Land zu kümmern.“ Und jetzt? Er lacht. „Schau dich um.“

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