Es ist ordentlich was los in Linda’s Tavern an diesem Mittwochabend. Es gibt Bier für vier Dollar und drei Mini-Burger für fünf Dollar. An den Holzwänden sind Plakate für Bands angebracht, die bald auftreten werden, in der Mitte steht ein alter Billardtisch. Hin und wieder wirft jemand Geld in die Jukebox, die CDs abspielt. Ein Blick auf die Titelliste verrät, dass die Scheiben seit bestimmt 15 Jahren nicht mehr getauscht wurden. Überhaupt ist Linda’s Tavern herrlich abgeranzt und wunderbar dreckig, eine Grunge-Bar zum Wohlfühlen. Hier, in dieser Kneipe auf dem Capitol Hill in Seattle, wurde Kurt Cobain zum letzten Mal lebend gesehen.
Es gibt keine Plakette am Eingang, die darauf hinweist, nicht einmal ein Foto von Kurt Cobain irgendwo an der Wand. Die CDs von Nirvana sind in der Jukebox zu finden, das ist aber auch schon alles. Die Geschichte wird weitergegeben von den Menschen an der Bar, die Bier trinken und Burger essen und die Jukebox bedienen. In zerrissenen Jeans und Chucks, mit Schlabbershirt und Jutejacke habe Cobain am 5.April 1994 ein paar Bier getrunken und die Einladung zu einer Party ausgeschlagen. Das erzählt einer, der an diesem Abend ebenfalls hier war. Danach sei Cobain hinausgegangen. Er habe sich kurz Seattle angesehen, dann sei er verschwunden. Mehr erfährt man nicht. Mehr gibt es nicht zu erzählen. Ja, Cobain war hier, bevor er sich erschoss. Na und?
Der Nirvana-Frontsänger Kurt Cobain bei einer Show 1992.
Wer wissen möchte, wie es damals zuging in Seattle, wie die Evolution einer Stadt einherging mit der Entwicklung einer Musikrichtung, wie die Künstler gespalten waren zwischen Authentizität und kommerziellem Erfolg, der sollte einen Abend mit Bruce Pavitt verbringen. Der 55-Jährige hat einst mit seinem Partner Jonathan Poneman das Label SubPop gegründet. Er hat Nirvana, Mudhoney und Soundgarden entdeckt, und er hat dafür gesorgt, dass diese Stadt im Nordwesten der USA von der Pop-Welt wahrgenommen wurde.
Bruce Pavitt lebt in einem alten Holzhaus, nicht weit von Linda’s Tavern entfernt. Die Stufen quietschen bei jedem Schritt bedenklich. Auf der Veranda liegen Rauchutensilien, über dem Eingang hängen kleine Banner mit buddhistischen Sprüchen. Eine Klingel gibt es nicht. Es ist kalt, die Wolken hängen so tief, dass man glaubt, sie mit einem beherzten Sprung erreichen zu können. In Seattle ist ohnehin das ganze Jahr über Herbst, diese wunderbar melancholische Jahreszeit. Die Einwohner sind das gewohnt, sie kleiden sich entsprechend. Pavitt trägt eine dunkle Arbeiterhose, schwarze Stiefel, Schiebermütze.
„Die Kleidung hat zunächst einmal nichts mit der Musik zu tun“, sagt er. Was damals als Outfit des Grunge, als Zeichen der Rebellion interpretiert wurde – es war reine Notwendigkeit. Die Menschen von Seattle schufteten beim Flugzeughersteller Boeing oder am Hafen, aufgrund des Wetters war es wichtig, möglichst viele Lagen zu tragen – also zwei Shirts, ein Flanellhemd oder einen dicken Pulli, darüber möglichst noch eine warme Jacke. Dazu Handschuhe, Jutemütze, haltbare Schuhe. Es war nicht das Outfit des Grunge, es war die Kleidung der Einwohner von Seattle.
Die jungen Menschen trafen sich damals in Pioneer Square, einem Viertel im Süden von Downtown mit Galerien und schrulligen kleinen Läden. In den zahlreichen Bars spielten die Bands der Stadt, auswärtige kamen kaum einmal nach Seattle. „Durch die Isolation entwickelte sich langsam eine eigene Identität“, sagt Pavitt. „Keiner der Musiker glaubte daran, jemals Karriere damit machen zu können.“ Es sei tatsächlich so romantisch gewesen, wie es klingt: In Ermangelung anderer Freizeitmöglichkeiten beschäftigten sich die Jugendlichen mit dieser wilden, dreckigen und authentischen Musik: mit Grunge. „Sie konnten Risiken eingehen, weil sie nichts zu verlieren hatten und weil nicht jeder Fehler gleich im Internet zu sehen war“, sagt Pavitt. Musik war ein Weg für die jungen Menschen, anderen jungen Menschen mitzuteilen, wie beschissen das Leben in Seattle war.
Bruce Pavitt war damals eine der prägenden Figuren in dieser Musikszene, er war Radiomoderator, ihm gehörte ein Plattenladen, er brachte ein Musikmagazin heraus. Am 1. April 1988 gründete er mit Jonathan Poneman das Label SubPop, er war damals gerade 29 Jahre alt. „Wir lebten von der Hand in den Mund und waren nach quasi einem Monat pleite“, sagt Pavitt. Er sagt aber auch: „Es war eine magische Zeit.“ Und ja, in dieser magischen Zeit erfuhr Pavitt von einer Band mit dem Namen Nirvana; sie kam nicht aus Seattle, sondern aus dem zwei Stunden entfernten Aberdeen. Wer Seattle als melancholisch beschreibt, der muss Aberdeen depressiv nennen. Die Band hatte eine Kassette geschickt und sollte nun, Anfang April 1988, in Seattle auftreten.
„Es war 20 Uhr an einem Sonntagabend in Pioneer Square. Nirvana spielte im Central Saloon, sie waren die Vorband von Chemistry Side. Es war niemand da! Nur der Türsteher, der Barkeeper, mein Partner und ich. Die Band starrte während des ganzen Konzerts nur auf ihre Schuhe“, sagt Pavitt. „Kurts Stimme war unglaublich. Wir haben beschlossen, eine Single mit zwei Liedern zu veröffentlichen. Eines der Lieder war ein Coversong: ,Love Buzz‘ von Shocking Blue. Das zeigt, wie schwach das Material von Nirvana damals noch war.“
SubPop wurde zum Treffpunkt für all jene, die sich mit Grunge identifizierten: „Wir wussten, dass Seattle eine der heißesten Szenen war“, sagt Pavitt: „Wir mussten nur noch den Rest der Welt davon überzeugen.“ Seine Idee war eine Europa-Tournee von Nirvana, Mudhoney und TAD Ende 1989 mit einem gemeinsamen Konzert am Ende in London. So sollte die Welt vom „Seattle Sound“ erfahren.
Für Nirvana war die Tour zunächst eine Katastrophe. Kurt Cobain zerstörte während des Konzerts in Rom seine letzte Gitarre, erlitt einen Nervenzusammenbruch und erklärte die Band für aufgelöst. „Wir haben ihn beruhigt und eine neue Gitarre gekauft, wir haben uns gekümmert, als ihm auf der Fahrt nach Genf Ausweis und Geldbeutel gestohlen wurden“, sagt Pavitt. Cobain machte weiter, die Show in London war ein Erfolg. Über diese wilden Tage hat Pavitt ein Buch veröffentlicht. Es trägt den Titel „Experiencing Nirvana – Grunge in Europe, 1989“.
Danach ging alles ganz schnell. Aus einer Untergrund-Bewegung wurde ein weltweites Phänomen, Seattle war der Nabel der Musikwelt. Und noch viel mehr: Plötzlich galt die Stadt nicht mehr als altmodisches Arbeiterkaff, in dem es dauernd regnete. Die Menschen tauschten die Adjektive „traurig“ und „altmodisch“ gegen „melancholisch“ und „romantisch“. Und überhaupt galt Regen nun als viel cooler als dieser dauernde Sonnenschein in Kalifornien.
Zahlreiche Technologieunternehmen wie Amazon, Microsoft und Expedia ließen sich in der Gegend um Seattle nieder, sie errichteten beeindruckende Gebäude, die tatsächlich die Wolken berührten. Es gibt Starbucks, Nordstrom, Costco, T-Mobile USA. Nicht weit von Pioneer Square stehen mittlerweile zwei prächtige Arenen, in die die Menschen vom Central Saloon aus pilgern – nicht zu Konzerten, sondern zu Sportveranstaltungen. Die Stadt gilt immer noch als eine der am schnellsten wachsenden Metropolen der USA: 1980 lebten 490000 Menschen in Seattle, heute sind es mehr als 630000. Die Stadt gilt als modern, lebenswert, erfolgreich. Also genau das Gegenteil von dem, was Grunge eigentlich auszudrücken versuchte.
„Es war eine Revolution, als das Album ,Nevermind‘ Anfang 1992 Michael Jackson von Platz eins der Charts stieß“, sagt Pavitt. Nirvana allerdings hatte inzwischen einen Vertrag mit dem großen Label DGC Records unterschrieben, SubPop war an den Einnahmen nur beteiligt. Die Songs wurden nicht in Seattle, sondern in einem Studio in Los Angeles produziert. Soundgarden unterschrieb bei A&M Records, Mudhoney bei Reprise Records. „Ich war nicht glücklich, doch rückblickend war es absolut verständlich“, sagt Pavitt. Er selbst verkaufte 1996 seine Anteile an SubPop für einen siebenstelligen Betrag. Sein Partner wollte das Label zu einer weltweiten Marke aufbauen, doch damit konnte sich Pavitt nicht mehr identifizieren.
In ganz Seattle war dieser Widerspruch zwischen Identität und Kommerz zu spüren. Jede kommerziell erfolgreiche Band stand im Verdacht, die Seele des Grunge verscherbelt zu haben. Den Musikern war dieser Zwiespalt bewusst, nicht wenige betäubten das schlechte Gewissen mit Drogen. „Heroin war sicherlich nicht die Droge für Rockstars“, sagt Michelle Alexander, sie arbeitete damals als Sängerin und Tänzerin in Seattle: „Es war billig, das Zeug von der Straße, das sich jeder leisten konnte.“ Heroin war nicht die Droge des Grunge, es war die Droge der Stadt Seattle.
Der Tod von Kurt Cobain stellte eine Zäsur dar, für die Musik wie für Seattle. „Zuerst gab es eine Phase der Trauer, weil da nicht nur ein genialer Musiker, sondern auch eine beeindruckende Persönlichkeit auf tragische Weise ums Leben gekommen ist“, sagt Pavitt. Zum 20. Todestag wird es Analysen geben, ob dieser Mensch nun ein genialer Musiker oder ein kaputter Junkie gewesen ist. Wahrscheinlich war er beides. Vor einer Woche veröffentlichte die Polizei von Seattle 35 neue Fotos vom Tatort. Darauf zu sehen: der Abschiedsbrief, Cobains Führerschein, eine Holzbox mit Heroin-Utensilien. Keine neuen Erkenntnisse, keine Enthüllungen, keine Verschwörungstheorien, nur weitere Erinnerungen an diesen wichtigen Tag der Musikgeschichte. Was sein Tod für Seattle bedeutete: „Die Menschen in der Stadt dachten gemeinsam darüber nach, wie hoch der Preis sein kann, erfolgreich und berühmt zu sein. Viele überlegten, ob sie das wirklich haben wollten.“ Sich über das beschissene Leben zu beschweren, darüber zu singen, das war in Ordnung. Sich dieses Leben gleich zu nehmen, das ging dann doch zu weit.
Wer heute durch Pioneer Square spaziert, der sieht nur wenige Flanellhemden und Jutejacken. Die Menschen tragen elegante Mäntel, schicke Schals, teure Hüte. Seattle ist immer noch wunderbar melancholisch, aber nicht mehr so depressiv, so wütend, so lebensabgewandt wie noch vor 25 Jahren. Das bedeutet jedoch nicht, dass Grunge verschwunden wäre aus dieser Stadt. Der Musikstil ist nach wie vor präsent. In Linda’s Tavern etwa. Mit Bier für vier Dollar und einer mit Grunge-Liedern herausragend bestückten Jukebox.
Es gibt keine Plakette am Eingang, die darauf hinweist, nicht einmal ein Foto von Kurt Cobain irgendwo an der Wand. Die CDs von Nirvana sind in der Jukebox zu finden, das ist aber auch schon alles. Die Geschichte wird weitergegeben von den Menschen an der Bar, die Bier trinken und Burger essen und die Jukebox bedienen. In zerrissenen Jeans und Chucks, mit Schlabbershirt und Jutejacke habe Cobain am 5.April 1994 ein paar Bier getrunken und die Einladung zu einer Party ausgeschlagen. Das erzählt einer, der an diesem Abend ebenfalls hier war. Danach sei Cobain hinausgegangen. Er habe sich kurz Seattle angesehen, dann sei er verschwunden. Mehr erfährt man nicht. Mehr gibt es nicht zu erzählen. Ja, Cobain war hier, bevor er sich erschoss. Na und?
Der Nirvana-Frontsänger Kurt Cobain bei einer Show 1992.
Wer wissen möchte, wie es damals zuging in Seattle, wie die Evolution einer Stadt einherging mit der Entwicklung einer Musikrichtung, wie die Künstler gespalten waren zwischen Authentizität und kommerziellem Erfolg, der sollte einen Abend mit Bruce Pavitt verbringen. Der 55-Jährige hat einst mit seinem Partner Jonathan Poneman das Label SubPop gegründet. Er hat Nirvana, Mudhoney und Soundgarden entdeckt, und er hat dafür gesorgt, dass diese Stadt im Nordwesten der USA von der Pop-Welt wahrgenommen wurde.
Bruce Pavitt lebt in einem alten Holzhaus, nicht weit von Linda’s Tavern entfernt. Die Stufen quietschen bei jedem Schritt bedenklich. Auf der Veranda liegen Rauchutensilien, über dem Eingang hängen kleine Banner mit buddhistischen Sprüchen. Eine Klingel gibt es nicht. Es ist kalt, die Wolken hängen so tief, dass man glaubt, sie mit einem beherzten Sprung erreichen zu können. In Seattle ist ohnehin das ganze Jahr über Herbst, diese wunderbar melancholische Jahreszeit. Die Einwohner sind das gewohnt, sie kleiden sich entsprechend. Pavitt trägt eine dunkle Arbeiterhose, schwarze Stiefel, Schiebermütze.
„Die Kleidung hat zunächst einmal nichts mit der Musik zu tun“, sagt er. Was damals als Outfit des Grunge, als Zeichen der Rebellion interpretiert wurde – es war reine Notwendigkeit. Die Menschen von Seattle schufteten beim Flugzeughersteller Boeing oder am Hafen, aufgrund des Wetters war es wichtig, möglichst viele Lagen zu tragen – also zwei Shirts, ein Flanellhemd oder einen dicken Pulli, darüber möglichst noch eine warme Jacke. Dazu Handschuhe, Jutemütze, haltbare Schuhe. Es war nicht das Outfit des Grunge, es war die Kleidung der Einwohner von Seattle.
Die jungen Menschen trafen sich damals in Pioneer Square, einem Viertel im Süden von Downtown mit Galerien und schrulligen kleinen Läden. In den zahlreichen Bars spielten die Bands der Stadt, auswärtige kamen kaum einmal nach Seattle. „Durch die Isolation entwickelte sich langsam eine eigene Identität“, sagt Pavitt. „Keiner der Musiker glaubte daran, jemals Karriere damit machen zu können.“ Es sei tatsächlich so romantisch gewesen, wie es klingt: In Ermangelung anderer Freizeitmöglichkeiten beschäftigten sich die Jugendlichen mit dieser wilden, dreckigen und authentischen Musik: mit Grunge. „Sie konnten Risiken eingehen, weil sie nichts zu verlieren hatten und weil nicht jeder Fehler gleich im Internet zu sehen war“, sagt Pavitt. Musik war ein Weg für die jungen Menschen, anderen jungen Menschen mitzuteilen, wie beschissen das Leben in Seattle war.
Bruce Pavitt war damals eine der prägenden Figuren in dieser Musikszene, er war Radiomoderator, ihm gehörte ein Plattenladen, er brachte ein Musikmagazin heraus. Am 1. April 1988 gründete er mit Jonathan Poneman das Label SubPop, er war damals gerade 29 Jahre alt. „Wir lebten von der Hand in den Mund und waren nach quasi einem Monat pleite“, sagt Pavitt. Er sagt aber auch: „Es war eine magische Zeit.“ Und ja, in dieser magischen Zeit erfuhr Pavitt von einer Band mit dem Namen Nirvana; sie kam nicht aus Seattle, sondern aus dem zwei Stunden entfernten Aberdeen. Wer Seattle als melancholisch beschreibt, der muss Aberdeen depressiv nennen. Die Band hatte eine Kassette geschickt und sollte nun, Anfang April 1988, in Seattle auftreten.
„Es war 20 Uhr an einem Sonntagabend in Pioneer Square. Nirvana spielte im Central Saloon, sie waren die Vorband von Chemistry Side. Es war niemand da! Nur der Türsteher, der Barkeeper, mein Partner und ich. Die Band starrte während des ganzen Konzerts nur auf ihre Schuhe“, sagt Pavitt. „Kurts Stimme war unglaublich. Wir haben beschlossen, eine Single mit zwei Liedern zu veröffentlichen. Eines der Lieder war ein Coversong: ,Love Buzz‘ von Shocking Blue. Das zeigt, wie schwach das Material von Nirvana damals noch war.“
SubPop wurde zum Treffpunkt für all jene, die sich mit Grunge identifizierten: „Wir wussten, dass Seattle eine der heißesten Szenen war“, sagt Pavitt: „Wir mussten nur noch den Rest der Welt davon überzeugen.“ Seine Idee war eine Europa-Tournee von Nirvana, Mudhoney und TAD Ende 1989 mit einem gemeinsamen Konzert am Ende in London. So sollte die Welt vom „Seattle Sound“ erfahren.
Für Nirvana war die Tour zunächst eine Katastrophe. Kurt Cobain zerstörte während des Konzerts in Rom seine letzte Gitarre, erlitt einen Nervenzusammenbruch und erklärte die Band für aufgelöst. „Wir haben ihn beruhigt und eine neue Gitarre gekauft, wir haben uns gekümmert, als ihm auf der Fahrt nach Genf Ausweis und Geldbeutel gestohlen wurden“, sagt Pavitt. Cobain machte weiter, die Show in London war ein Erfolg. Über diese wilden Tage hat Pavitt ein Buch veröffentlicht. Es trägt den Titel „Experiencing Nirvana – Grunge in Europe, 1989“.
Danach ging alles ganz schnell. Aus einer Untergrund-Bewegung wurde ein weltweites Phänomen, Seattle war der Nabel der Musikwelt. Und noch viel mehr: Plötzlich galt die Stadt nicht mehr als altmodisches Arbeiterkaff, in dem es dauernd regnete. Die Menschen tauschten die Adjektive „traurig“ und „altmodisch“ gegen „melancholisch“ und „romantisch“. Und überhaupt galt Regen nun als viel cooler als dieser dauernde Sonnenschein in Kalifornien.
Zahlreiche Technologieunternehmen wie Amazon, Microsoft und Expedia ließen sich in der Gegend um Seattle nieder, sie errichteten beeindruckende Gebäude, die tatsächlich die Wolken berührten. Es gibt Starbucks, Nordstrom, Costco, T-Mobile USA. Nicht weit von Pioneer Square stehen mittlerweile zwei prächtige Arenen, in die die Menschen vom Central Saloon aus pilgern – nicht zu Konzerten, sondern zu Sportveranstaltungen. Die Stadt gilt immer noch als eine der am schnellsten wachsenden Metropolen der USA: 1980 lebten 490000 Menschen in Seattle, heute sind es mehr als 630000. Die Stadt gilt als modern, lebenswert, erfolgreich. Also genau das Gegenteil von dem, was Grunge eigentlich auszudrücken versuchte.
„Es war eine Revolution, als das Album ,Nevermind‘ Anfang 1992 Michael Jackson von Platz eins der Charts stieß“, sagt Pavitt. Nirvana allerdings hatte inzwischen einen Vertrag mit dem großen Label DGC Records unterschrieben, SubPop war an den Einnahmen nur beteiligt. Die Songs wurden nicht in Seattle, sondern in einem Studio in Los Angeles produziert. Soundgarden unterschrieb bei A&M Records, Mudhoney bei Reprise Records. „Ich war nicht glücklich, doch rückblickend war es absolut verständlich“, sagt Pavitt. Er selbst verkaufte 1996 seine Anteile an SubPop für einen siebenstelligen Betrag. Sein Partner wollte das Label zu einer weltweiten Marke aufbauen, doch damit konnte sich Pavitt nicht mehr identifizieren.
In ganz Seattle war dieser Widerspruch zwischen Identität und Kommerz zu spüren. Jede kommerziell erfolgreiche Band stand im Verdacht, die Seele des Grunge verscherbelt zu haben. Den Musikern war dieser Zwiespalt bewusst, nicht wenige betäubten das schlechte Gewissen mit Drogen. „Heroin war sicherlich nicht die Droge für Rockstars“, sagt Michelle Alexander, sie arbeitete damals als Sängerin und Tänzerin in Seattle: „Es war billig, das Zeug von der Straße, das sich jeder leisten konnte.“ Heroin war nicht die Droge des Grunge, es war die Droge der Stadt Seattle.
Der Tod von Kurt Cobain stellte eine Zäsur dar, für die Musik wie für Seattle. „Zuerst gab es eine Phase der Trauer, weil da nicht nur ein genialer Musiker, sondern auch eine beeindruckende Persönlichkeit auf tragische Weise ums Leben gekommen ist“, sagt Pavitt. Zum 20. Todestag wird es Analysen geben, ob dieser Mensch nun ein genialer Musiker oder ein kaputter Junkie gewesen ist. Wahrscheinlich war er beides. Vor einer Woche veröffentlichte die Polizei von Seattle 35 neue Fotos vom Tatort. Darauf zu sehen: der Abschiedsbrief, Cobains Führerschein, eine Holzbox mit Heroin-Utensilien. Keine neuen Erkenntnisse, keine Enthüllungen, keine Verschwörungstheorien, nur weitere Erinnerungen an diesen wichtigen Tag der Musikgeschichte. Was sein Tod für Seattle bedeutete: „Die Menschen in der Stadt dachten gemeinsam darüber nach, wie hoch der Preis sein kann, erfolgreich und berühmt zu sein. Viele überlegten, ob sie das wirklich haben wollten.“ Sich über das beschissene Leben zu beschweren, darüber zu singen, das war in Ordnung. Sich dieses Leben gleich zu nehmen, das ging dann doch zu weit.
Wer heute durch Pioneer Square spaziert, der sieht nur wenige Flanellhemden und Jutejacken. Die Menschen tragen elegante Mäntel, schicke Schals, teure Hüte. Seattle ist immer noch wunderbar melancholisch, aber nicht mehr so depressiv, so wütend, so lebensabgewandt wie noch vor 25 Jahren. Das bedeutet jedoch nicht, dass Grunge verschwunden wäre aus dieser Stadt. Der Musikstil ist nach wie vor präsent. In Linda’s Tavern etwa. Mit Bier für vier Dollar und einer mit Grunge-Liedern herausragend bestückten Jukebox.