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Heißes Herz, kühler Kopf

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Leidenschaft oder Charisma sind nicht unbedingt naheliegende Begriffe, um das gegenwärtige politische Führungspersonal der Bundesrepublik oder benachbarter europäischer Demokratien zu beschreiben. Sicherlich, die kulturkritische Klage über Technokratie, das Regime des Sachzwanges und die Politikverdrossenheit ist über die Jahre derart konstant geblieben, dass man darin schon wieder ein stabilisierendes Element der repräsentativen Demokratie sehen kann. Immerhin erscheint friedliches Desinteresse und der bürgerliche Rückzug ins Private verträglicher als ein Übermaß an politischer Leidenschaft. Doch gerade der müde Bundestagswahlkampf 2013 rief schmerzlich in Erinnerung, dass nicht Parteiprogramme, sondern in erster Linie politische Führungsfiguren Mobilisierung und Integration bewerkstelligen. Was nützt die zutreffende Einsicht, dass viele gesellschaftliche, fiskalische und sozialpolitische Fragen der Klärung bedürfen, wenn Persönlichkeiten fehlen, die anstehende Aufgaben zu ihrer Sache, mithin ernstzunehmende Alternativen für den Bürger sicht- und wählbar machen.




Obama hat wenig Angst vor Leidenschaft, in den USA kommt das an

Welche Eigenschaften muss ein Politiker mitbringen, um „die Menschen draußen im Lande“ (H. Kohl) zu erreichen? Wann lässt sich in der Sphäre des Politischen wirklich von Charisma sprechen? Die Kulturjournalistin Julia Encke macht diese Fragen zum Ausgangspunkt eines ebenso geistreichen wie unterhaltsamen Essays, der eine wichtige Einsicht Max Webers noch einmal ins Zentrum stellt: Charisma entsteht nur im Wechselspiel politischer Begabung und gesellschaftlicher Umstände. Es ist nichts, das antrainierbar oder auszubilden wäre, wie die Ratgeberliteratur zur Persönlichkeitsoptimierung suggeriert, sondern bildet sich in einer Konstellation aus atmosphärischen Bedingungen, psychosozialen Stimmungen und kollektiven Sehnsüchten.

Für Encke gibt es keinen Grund mehr, sich vor politischen Charismatikern zu fürchten. In aufgeklärten demokratischen Gesellschaften sind die Chancen für populistische Menschenfänger gering. Ein Blender von der Harmlosigkeit eines Karl Theodor zu Guttenberg verschwindet von der Bildfläche, nicht nur weil er der Hochstapelei überführt, sondern weil schnell klar wurde, dass er politisch keine substanzielle Botschaft zu versenden hatte. Sein Appeal beruhte auf zur Schau gestelltem adligem Manierismus und den Trivia inszenierter Homestorys, denen eine politische Öffentlichkeit zunächst auf den Leim ging. Enckes Analyse dieses Charisma-Bluffs zählt zu den besten Passagen eines an Einsichten reichen Buches.

Zum positiven Exempel politischen Charismas kürt die Autorin Barack Obama. Wenn sich die Hoffnungen an politische Inhalte und Überzeugungen knüpfen, die der amerikanische Präsidentschaftskandidat glaubwürdig verkörperte, dann werden Kräfte aktiviert, die den politischen Alltag transzendieren. Freilich bleibt das Charisma eine fragile und vergängliche Ressource, deren Veralltäglichung zur Entzauberung führt. Es verblasst, sobald die politischen Ergebnisse keinen Vergleich mehr mit den einst geweckten Erwartungen aushalten. Der Charismatiker hat nicht nur „das gewisse Etwas“; er muss in der Lage sein, die ihm verfügbare politische Energiezufuhr virtuos zu nutzen – in manchen Fällen für Entscheidungen, die gegen die kurzfristigen Interessen der Wähler und das Kleinklein der Interessenverbände durchsetzbar werden. Ein solches charismatisches Momentum attestiert die Verfasserin Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die innen- und außenpolitische Weichenstellungen – Agenda 2010, Kosovo-Einsatz, Irak-Krieg – wirkungsvoll zu Charakterfragen stilisierten. Allerdings bieten die rotgrünen Veteranen ein Exempel dafür, wie rasch sich jedes Charisma mit dem Amtsverlust verflüchtigen kann. Anders als der Alterscharismatiker Helmut Schmidt, dessen noch so unsinnige Äußerungen über China und Russland stets auf Gehör stoßen, haben die Achtundsechziger ihren Nimbus als elder statesmen mit dem übergangslosen Wechsel in die Wirtschaft rapide verspielt.

Es scheint also, wie Schmidts Verwandlung vom ersten Angestellten der Republik zum Orakel von der Elbe nahelegt, neben dem politisch-dynamisierenden Charisma eines Führungspolitikers auch eine nachträgliche, durch geschichtliche Erfahrung beglaubigte Charismatisierung zu geben. Sie hat freilich weniger mit politischer Leidenschaft als mit musealer Verehrung zu tun, die einen Kontrast zur profanen Gegenwart inszeniert. Ob jede Personalisierung von Politik gleich mit dem Charismabegriff befrachtet werden muss, daran lassen Enckes Ausführungen zur Grünenpolitikern Petra Kelly und Piratin Marina Weisband zweifeln. Zwar stilisierte sich Kelly zur Jeanne d’Arc der Friedensbewegung, aber ihr Eingesponnensein in eigene Ängste und ihre leidenschaftliche monothematische Fixierung führte sie ins Abseits. Und war Weisband nicht eher eine Medien-Sternschnuppe als ein charismatisches Phänomen?

Enckes Plädoyer für mehr Leidenschaft in der Politik, ihre Positivierung des Charismabegriffs ist durchweg sympathisch. Man möchte ihr darin zustimmen, dass Begeisterung und Emotionalisierung ihren Platz verdienen in einer Demokratie, die genügend Möglichkeiten für kritische Kontrolle bietet. Aber die charismatische Flaute der Gegenwart ist vermutlich auch zeittypischen Vermeidungsstrategien geschuldet, keine politische Polarisierung zuzulassen und klaren Alternativen auszuweichen. Eine Konsenskultur nimmt Abstand von Charismatikern, vermeidet rhetorische Volten, überspielt Krisen und fährt auf Sicht. Der politische Visionär, dem der Alterscharismatiker Schmidt bekanntlich den Gang zum Arzt empfahl, taugt kaum als Erlösungshoffnung. Politiker erlangen charismatische Statur nur dann, wenn sie für Inhalte eintreten, die in einer lebendigen Bürgergesellschaft auf Resonanz stoßen. Dann kann mit „Leidenschaft und Augenmaß“ (M. Weber) gestritten werden. Mit Julia Encke sieht der Leser künftigen Vitalisierungsschüben der Demokratie freudig und intellektuell gerüstet entgegen.

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