In Jefren explodiert der Frühling. Die Granatapfelbäume strecken rote Blätter in die Luft, die Zitronen pinkfarbene Spitzen. Kakteen, Geranien, Oliven schlagen aus. Der größte Teil Libyens ist Wüste, ein noch größerer verdorrt im Sommer. Aber heute, in den Nafusa-Bergen, im Süden der Hauptstadt, ist alles Blühen.
Die Zitronenbäume blühen im libyschen Frühling. Doch es passiert viel mehr in dem Land, das eine Revolution hinter sich hat.
Nur die Synagoge verfällt. Das ist kein Wunder, schließlich gibt es in Libyen keine Juden mehr. Einst war die Gemeinde vielköpfig, jahrtausendealt. Aber Mussolinis Rassegesetze während der italienischen Kolonialzeit, Pogrome nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Gründung des Staates Israel, nach der arabischen Niederlage im Sechstagekrieg 1967 vertrieben noch die letzten. Als sich Muammar al-Gaddafi 1969 an die Macht putschte, waren noch 100 übrig. Einige auch hier, unter den Berbern in Jefren, die sich selbst Amasigh nennen, die „Freien“.
Heute hätten die Berber sie gerne zurück, was für Libyen ein überraschender Wunsch ist. Mahmud al-Aswid, Journalist und Amasigh-Aktivist, führt über den jüdischen Friedhof, von dem nicht mehr übrig ist als Steinbrocken, dann in die leere Synagoge. Leuchtend weißes Gewölbe, blaue Muster, hebräische Inschriften, Abdrücke von Händen und Füßen, die diesen Ort schützen sollen. Es sind dieselben Abdrücke, dieselben Bögen, dasselbe Blau, das man in den Berber-Häusern findet. Einst war die Hälfte der Stadt jüdisch, Berber besuchten die Synagogen. Heute hüten sie ein fremdes Erbe. „Gaddafi hat versucht, die Synagoge zu zerstören, aber das haben wir verhindert“, sagt Aswid. Ginge es nach ihm, ginge es nach vielen Berbern in Jefren, die libyschen Juden könnten zurückkehren. Das Post-Gaddafi-Libyen ist ein hartes Land. Die befreite Gesellschaft kämpft mit sich selbst. Aber es ist auch ein Raum bemerkenswerter Allianzen. Diese hier ist eine Solidarität unter Verfolgten, die in der Unterdrückung der anderen das eigene Unrecht wiedererkennen, und, was die Berber angeht: nicht mehr hinnehmen wollen.
Nuri al-Scharwi, Ex-Präsident des Obersten Rates der Amasigh, klagt: „Libyen hat uns nie akzeptiert. Aber heute lassen wir uns nicht länger als Bürger zweiter Klasse behandeln.“ Al-Scharwi saß acht Jahre im Gefängnis, weil er Flugblätter für die Sache der Amasigh verteilte. Gaddafi, der Stämme, Clans und Minderheiten wie Amasigh oder die Tuareg gegeneinander ausgespielt hatte, schätzte Eigenständigkeiten wenig. Er verbot ihre Sprache, ihre Kultur, sogar ihre Namen. Es gebe nur Araber in Libyen, hatte der Herrscher entschieden. Berber? Kannte er nicht mal.
Jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung aus, und Nuri al-Scharwi ist dafür ein prächtiges Beispiel. Mit seinen braunen Augen und den weißen Haaren im meterlangen Wickelgewand ist der Alte eine großartige, nicht uneitle Erscheinung, und dazu gehört, dass er mühelos zwanzig Minuten über die verschiedenen Drapiertechniken referiert. Über den Unterschied zwischen Sommer- und Wintergewand, weißem, braunem, grauem Tuch (festlich oder casual), über die Bedeutung des ersten Gewandes für Jungen (Initiation), über die eingestickten Symbole, die eine feine Bedeutung haben, auch wenn ihm gerade entfallen ist, welche. Aber die Botschaft ist klar. Das traditionelle Gewand ist im Kommen und mit ihm die Kultur der Berber, Schmuck, Essen, Namen: „Wir leben seit 10000 Jahren in Libyen. Phönizier, Griechen und Osmanen kamen und gingen. Die Römer haben sogar unser Gewand übernommen. Aber wir sind die ursprünglichen Libyer.“
In Europa ist es ukrainebedingt gerade in Mode, mit alten Siedlungsgebieten zu argumentieren, mit unerlösten Brudervölkern und vergangener Größe. Libyen, ja, der ganze Nahe Osten sind ein schönes Beispiel dafür, wie verheerend diese Rechtfertigungsakrobatik ist. So viele koloniale Grenzen, so viel historisches Unrecht, so viele Ansprüche.
Die Berber, führt Nuri al-Scharwi aus, siedelten einst nämlich zwischen der Oase Siwa in Ägypten und den Kanarischen Inseln. Überhaupt gehörten 70 Prozent der Libyer zu den Amasigh, ganze Stämme bekennen sich heute zu ihrem Berbertum, auch wenn, er gibt es zu, nur zehn Prozent die Sprache sprechen. In den vergangenen zwei Jahren haben die Amasigh Straßen umbenannt und ihr geschwungenes Zeichen aus Betonröhren am Ortseingang von Jefren aufgestellt, haben Radiosender und Zeitungen gegründet und unterrichten ihre Kinder in ihrer Sprache.
Ist es angesichts dieser grandiosen und opferreichen Vergangenheit zu viel verlangt, wenn sie ihre Sprache neben dem Arabischen in der Verfassung verankert sehen wollen? Den arabischen Libyern gehen die Amasigh mit ihrem Berbertum inzwischen ziemlich auf die Nerven. Früher heirateten Berber und Araber auch mal untereinander. Heute ist das kaum noch denkbar. Dabei leidet wie überall, wo man sich viel auf die Reinheit des Blutes zugutehält, der Gen-Pool. Ganze Berber-Familien in Jefren sind bereits behindert, sagt eine Beamtin: „Sollen sie doch wenigstens Berber aus anderen Städten heiraten!“ Aber natürlich gehen die Abstoßungsbewegungen von beiden Seiten aus. Die Berber kennen das Misstrauen und fühlen sich betrogen. Während des Krieges gegen Gaddafi waren wir in den Bergen gut genug, schimpfen sie und zeigen Fotos, auf denen sie Panzerabwehrraketen auf Eseln transportierten. Damals, als alle vor Zukunftsdurst und Einigkeit wie besoffen waren, hatte die Übergangsregierung ihnen das Blaue vom Himmel versprochen, Gleichberechtigung, Minderheitenschutz, es klang großartig.
Aber im Durcheinander der vergangenen drei Jahre ging das unter. Erst als die Berber die Wahl zur Verfassungskommission vor ein paar Wochen boykottierten, weil sie zu wenig Sitze bekamen, wurden einige wach. Außerdem besetzten sie das Gasterminal in Mellitah im Westen von Tripolis, auch Jefren schickte Männer dorthin. Von Mellitah führt eine Pipeline direkt nach Italien, entsprechend groß war die Aufregung. Die Berber haben Mellitah dann schnell wieder geräumt. Aber man mache sich nichts vor. Gas- oder Ölterminalblockaden sind in Libyen eine so gängige Protestform geworden wie anderswo Onlinepetitionen, auch wenn das Land dabei vor die Hunde geht, da Libyen außer Öl- und Gasverkäufen fast keine Einkommen hat. „Wir wollten keinen Zerfall des Landes wie im Irak“, sagt Nuri al-Scharwi: „Aber für uns geht es um Leben und Tod. Viele arabische Libyer sind gegen uns, schlimmer als früher. Wenn wir jetzt nichts tun, um unsere Rechte durchzusetzen, verlieren wir alles.“
Leben oder Tod. Wir oder sie. Vor oder zurück. So ist das heute in Libyen. Das Reich des Bösen ist untergegangen, die raren Institutionen von früher sind ein Schutthaufen, ähnlich wie das monströse Trümmerfeld von Gaddafis Bunkerresidenz Bab al-Asisija in Tripolis, wo ein südkoreanischer Architekt ein Vergnügungsviertel errichten möchte mit 300-Meter-Turm, Aquarium und Fressmeile, als würde von diesem Ort nicht immer noch etwas Unheimliches ausgehen, das die meisten Libyer instinktiv fernbleiben lässt.
Lange Zeit hatten die meisten die Hoffnung, dass aus dem großen Zusammenbruch Neues entstehen würde, ein Staat bestenfalls, frisch und unverbraucht, oder wenigstens: politische Foren, in denen Ansprüche verhandelt werden. Aber heute sprechen die Kupferschmiede in Tripolis vielen aus der Seele: Drei Viertel der Libyer wollen, dass das Land zur Ruhe kommt, sagen sie, und ein Viertel macht Krawall.
Früher haben sie Gaddafi-Teller in Serie gefertigt, heute verlegen sie sich auf Palmen und patriotischen Krimskrams. Das Geschäft geht schlecht, viele sind arbeitslos und die untergegangenen Ideologien machen nicht satt. „Für Geld mach ich Ihnen alles aus Kupfer, auch Obama“, sagt einer. Stämme, Städte, Clans, ethnische Gruppen, religiöse Gruppen, selbst Stadtviertel feiern den Neo-Tribalismus: Keiner kann das ganze Land beherrschen, aber er kann verhindern, dass andere es versuchen. Wo Politik oder Justiz fehlen, greift traditionelles Konfliktmanagement, manches Palaver unter Stammesältesten hat schon Massaker verhindert. Aber natürlich ist das nur einen Schritt vom Dschungel entfernt.
Gargaresch in Tripolis. Glänzend, shoppoholic, elegant. Ein Universum entfernt von der traditionsverliebten Stille der Berber. Es gibt Geld, viel Geld in Libyen, aber man spürt es nicht mehr, sagt ein Autohändler in Gargaresch. Früher war das anders. Wenn Gaddafi die Aids-Kranken in Bengasi mit einer Milliarde Dinar entschädigte, bewegte sich der Automarkt, drehten sich die Kräne. Heute ist der Haushalt höher als früher, aber die Milliarden versickern für die Gehälter des zählebigen Übergangsparlaments, für die Milizen. Die Innenstadt von Tripolis ist ein Trauerspiel. Um den einstigen Grünen Platz, der heute Platz der Märtyrer heißt, bröckeln Fassaden, türmt sich der Müll. Baustellen stehen still. Gargaresch aber glitzert.
Am Strand verkaufen Schwarzhändler Alkohol, in einer Seitenstraße, einen Steinwurf entfernt von Debenhams und Marks & Spencer, hat die erste Kitesurfing-Schule des Landes eröffnet: „Windfriends“. Seit zwei Jahren reitet Dschalal al-Walid mit seinen Schülern die Wellen, mal im Hafen von Tripolis, mal auf einer abgelegenen Insel, und dass die Strände derzeit so leer sind, weil alle Angst vor irgendwelchen irren Bewaffneten haben, ist ihm recht. „Dann haben wir mehr Platz.“
Eine Straße weiter trainiert Heba Mursi im Ladys Gym. Sie könnte wählen zwischen Zumba, Body Pump und Kickboxen, eine Nische für die Besserverdienenden, Gebildeten, für Frauen. Heba ist eine Pionierin, sie war die erste Computeringenieurin des Landes, die die Riesenserver der Telefongesellschaften wartete. Kollegen haben sie anfangs misstrauisch begafft, später wollten sie sich mit ihr fotografieren lassen. „Ich genieße es, ein Star zu sein“, sagt Heba: „Die nächsten Mädchen auf diesem Posten können sagen: Heba hat es auch getan.“
Nur gelten eben immer noch ein paar Extraregeln für Mädchen, da können sie Platinen schleppen, bis sie umfallen. Deshalb trägt Heba auf der Straße meist die Abaja, den schwarzen Mantel. Auf Reisen muss sie ihr Bruder begleiten, auch, wenn sie abends ausgeht, bei Notfällen in der Arbeit ebenfalls und sei es nachts um drei. „Er unterstützt mich bis zum Anschlag“, sagt sie. Aber was ist mit Frauen, deren Brüder weniger hilfsbereit sind? Gaddafi hat die Frauen befreit, hieß es oft, nun fürchten die Libyerinnen den Aufstieg der Islamisten, die im Osten ganze Städte terrorisieren. Die Wahrheit ist, dass Libyen schon lange und immer noch eines der konservativsten Länder der Region ist. „Alle reden von Frauenrechten“, spottet ein Libyer, „aber dabei meinen sie nie ihre eigenen Töchter.“
Der Weg zu einer modernen Gesellschaft ist womöglich noch weiter als der zu politischer Stabilität, obwohl schon dieser sich endlos zieht. Freitagnachmittag auf einer Ausfallstraße bei Tripolis. Stau. Eine Miliz – niemand weiß, welche – hat einen Pick-up aufgebaut. Auf der Ladefläche hängt ein Mann in superlässiger Rebellenpose hinter einem Maschinengewehr und ballert mal hierhin, mal dahin.
Ein anderer fuchtelt mit einer goldenen Pistole vor den Windschutzscheiben herum. Die Libyer sind nicht eingeschüchtert, sondern einfach nur sehr, sehr genervt. Ein Autofahrer brüllt einen der Kämpfer an, was das hier soll, wie er denn jetzt pünktlich zu seiner Verabredung kommen solle? So geht es alle Tage.
Ungefähr 35000 Mann kämpften gegen Gaddafi. Die heutigen Milizen zählen mehr als 200000 Kämpfer. Der Staat hat die Milizen nicht nur nicht entwaffnet, er bezahlt sie sogar, und zwar so gut, dass andere Jobs nicht mehr interessant sind. Die Milizen, die sich „Brigaden“ nennen, haben sich zu Dachverbänden zusammengeschlossen, einige wurden in die neuen Streitkräfte oder in die Polizei integriert. Viele nicht. Stattdessen haben sie sich in den Baracken der Gaddafi-Brigaden breitgemacht, es herrscht eine Art institutionalisierte Anarchie. In Libyen sind hundertmal mehr Waffen im Umlauf als im Nach-Saddam-Irak, sagen westliche Diplomaten. Die Proliferation hat eine Dimension, wie man sie seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht mehr gesehen hat.
Allein in Misrata, der Heldenstadt, der Händlerstadt, stehen 400 Panzer. Misrata hat sich inzwischen mit den Muslimbrüdern zusammengeschlossen. Ihre Gegner im Übergangsparlament um Ex-Übergangspremier Mahmud Dschibril wiederum haben sich mit der mächtigen Sintan-Miliz verbündet. Übergangsparlament und Übergangsregierung tragen ihre Rivalitäten qua Milizen aus. Es ist ein faustischer Pakt.
„Der Staat kann gar nicht auf uns verzichten. Die Brigaden schützen die Flughäfen und wichtige Gebäude. Ohne uns bricht das Chaos aus“, sagt Asem al-Hadi Salem Hindschiri auf den weichen Polstern seines Empfangszimmers. Er gehört einem Verband an, der sich etwas spröde „Operationsraum der Libyschen Revolutionäre“ nennt und im vergangenen Herbst den damaligen Premier Ali Seidan aus einem Fünf-Sterne-Hotel entführte, ein paar Stunden nur, aber lang genug, um dem Land und seiner politischen Klasse mal kurz zu zeigen, wo der Hammer hängt. Asem hat für seinen ehemaligen Gefangenen nur Hohn übrig: „Er hat geweint und über seine Herzprobleme gejammert. Dann wollte er ein Glas Milch“, berichtet er genüsslich.
Andere sagen, Seidan sei gedemütigt worden, ausgezogen und nackt fotografiert, so wie es auch über andere entführte Abgeordnete berichtet wird. Asem will davon nichts wissen, aber er gibt zu, dass die Aktion die Milizen nur noch unbeliebter gemacht hat.
Das Ganze ist sowieso Geschichte, Premier Seidan trat zurück, nachdem Separatisten im Osten einen nordkoreanischen Öltanker beluden und sogar in internationale Gewässer schickten, wo er erst von amerikanischen Navy Seals zurückgebracht wurde. Inzwischen ist Seidan im Ausland, die Rebellen im Osten haben ein paar Ölhäfen geräumt, aber die Methoden sind nicht feiner geworden.
Jüngst traf es Seidans alten Gegenspieler, Parlamentspräsident Nuri Abu Sahman, einen Islamisten, der sich gegenüber einem Milizenchef für den Besuch von zwei Frauen rechtfertigen musste, druckste, schwitzte, das Ganze auf Video und später dann im Fernsehen.
Und Seidans Nachfolger trat nach nicht mal einer Woche zurück, weil Milizen seine Familie angriffen. Die Bewaffneten sind außer Kontrolle.
Asem weiß, wie verhasst seine Männer sind. Aber mehr noch fürchtet er, was passieren könnte, wenn er die Waffen abgeben müsste. Die alten Gaddafi-Getreuen, die „aslam“, könnten zurückkehren, warnt er, und irgendjemand könnte die Milizen bezahlen lassen für die entfesselte Willkür der letzten Jahre. Wir oder die. Ein Viertel gegen drei Viertel.
Ist es ein Wunder, dass viele sich nach einem starken Mann sehnen? Wanis Buchamada wäre ein idealer Kandidat. Groß, dunkel, Mitte fünfzig, kommandiert er die Saiqa-Brigade in Bengasi. Saiqa heißt Blitz, und Buchamadas Männer sind eine Elite-Einheit. Eine der ersten, die überliefen, als der Aufstand ausbrach. Im Herbst vertrieb Buchamada Ansar al-Scharia, die Dschihadisten, aus Bengasi, jedenfalls fast. Seitdem gibt es eine Facebook-Seite „Wir sind alle Wanis Buchamada“.
Er empfängt in der Kaserne in Bengasi, vor seiner Tür ist ein Festzelt errichtet. Sein Sohn Ali war Ende Januar entführt worden. Bengasi ist ein tödlicher Ort für Armee- und Polizeiangehörige, für Richter, Journalisten, Politiker und Ausländer. Buchamada gab sich unbeeindruckt, erklärte seinen Sohn für tot und machte weiter wie immer.
Nun wurde der Verschleppte freigelassen, das Zelt ist für Glückwunsch-Gäste, und Buchamada ist immer noch keine Regung anzumerken. Wer seinen Sohn verschleppt hat? Das wisse er nicht. Kennt er die Facebook-Seite? Ja. In der Tat plane er eine größere Rolle in Libyen, nicht als Präsident oder Premier oder Minister, eher im Hintergrund.
Also eine ägyptische Lösung? Nun, nicht genau, aber das Land brauche ihn. Wird er Libyen retten? „Inschallah“.
Die Zitronenbäume blühen im libyschen Frühling. Doch es passiert viel mehr in dem Land, das eine Revolution hinter sich hat.
Nur die Synagoge verfällt. Das ist kein Wunder, schließlich gibt es in Libyen keine Juden mehr. Einst war die Gemeinde vielköpfig, jahrtausendealt. Aber Mussolinis Rassegesetze während der italienischen Kolonialzeit, Pogrome nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Gründung des Staates Israel, nach der arabischen Niederlage im Sechstagekrieg 1967 vertrieben noch die letzten. Als sich Muammar al-Gaddafi 1969 an die Macht putschte, waren noch 100 übrig. Einige auch hier, unter den Berbern in Jefren, die sich selbst Amasigh nennen, die „Freien“.
Heute hätten die Berber sie gerne zurück, was für Libyen ein überraschender Wunsch ist. Mahmud al-Aswid, Journalist und Amasigh-Aktivist, führt über den jüdischen Friedhof, von dem nicht mehr übrig ist als Steinbrocken, dann in die leere Synagoge. Leuchtend weißes Gewölbe, blaue Muster, hebräische Inschriften, Abdrücke von Händen und Füßen, die diesen Ort schützen sollen. Es sind dieselben Abdrücke, dieselben Bögen, dasselbe Blau, das man in den Berber-Häusern findet. Einst war die Hälfte der Stadt jüdisch, Berber besuchten die Synagogen. Heute hüten sie ein fremdes Erbe. „Gaddafi hat versucht, die Synagoge zu zerstören, aber das haben wir verhindert“, sagt Aswid. Ginge es nach ihm, ginge es nach vielen Berbern in Jefren, die libyschen Juden könnten zurückkehren. Das Post-Gaddafi-Libyen ist ein hartes Land. Die befreite Gesellschaft kämpft mit sich selbst. Aber es ist auch ein Raum bemerkenswerter Allianzen. Diese hier ist eine Solidarität unter Verfolgten, die in der Unterdrückung der anderen das eigene Unrecht wiedererkennen, und, was die Berber angeht: nicht mehr hinnehmen wollen.
Nuri al-Scharwi, Ex-Präsident des Obersten Rates der Amasigh, klagt: „Libyen hat uns nie akzeptiert. Aber heute lassen wir uns nicht länger als Bürger zweiter Klasse behandeln.“ Al-Scharwi saß acht Jahre im Gefängnis, weil er Flugblätter für die Sache der Amasigh verteilte. Gaddafi, der Stämme, Clans und Minderheiten wie Amasigh oder die Tuareg gegeneinander ausgespielt hatte, schätzte Eigenständigkeiten wenig. Er verbot ihre Sprache, ihre Kultur, sogar ihre Namen. Es gebe nur Araber in Libyen, hatte der Herrscher entschieden. Berber? Kannte er nicht mal.
Jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung aus, und Nuri al-Scharwi ist dafür ein prächtiges Beispiel. Mit seinen braunen Augen und den weißen Haaren im meterlangen Wickelgewand ist der Alte eine großartige, nicht uneitle Erscheinung, und dazu gehört, dass er mühelos zwanzig Minuten über die verschiedenen Drapiertechniken referiert. Über den Unterschied zwischen Sommer- und Wintergewand, weißem, braunem, grauem Tuch (festlich oder casual), über die Bedeutung des ersten Gewandes für Jungen (Initiation), über die eingestickten Symbole, die eine feine Bedeutung haben, auch wenn ihm gerade entfallen ist, welche. Aber die Botschaft ist klar. Das traditionelle Gewand ist im Kommen und mit ihm die Kultur der Berber, Schmuck, Essen, Namen: „Wir leben seit 10000 Jahren in Libyen. Phönizier, Griechen und Osmanen kamen und gingen. Die Römer haben sogar unser Gewand übernommen. Aber wir sind die ursprünglichen Libyer.“
In Europa ist es ukrainebedingt gerade in Mode, mit alten Siedlungsgebieten zu argumentieren, mit unerlösten Brudervölkern und vergangener Größe. Libyen, ja, der ganze Nahe Osten sind ein schönes Beispiel dafür, wie verheerend diese Rechtfertigungsakrobatik ist. So viele koloniale Grenzen, so viel historisches Unrecht, so viele Ansprüche.
Die Berber, führt Nuri al-Scharwi aus, siedelten einst nämlich zwischen der Oase Siwa in Ägypten und den Kanarischen Inseln. Überhaupt gehörten 70 Prozent der Libyer zu den Amasigh, ganze Stämme bekennen sich heute zu ihrem Berbertum, auch wenn, er gibt es zu, nur zehn Prozent die Sprache sprechen. In den vergangenen zwei Jahren haben die Amasigh Straßen umbenannt und ihr geschwungenes Zeichen aus Betonröhren am Ortseingang von Jefren aufgestellt, haben Radiosender und Zeitungen gegründet und unterrichten ihre Kinder in ihrer Sprache.
Ist es angesichts dieser grandiosen und opferreichen Vergangenheit zu viel verlangt, wenn sie ihre Sprache neben dem Arabischen in der Verfassung verankert sehen wollen? Den arabischen Libyern gehen die Amasigh mit ihrem Berbertum inzwischen ziemlich auf die Nerven. Früher heirateten Berber und Araber auch mal untereinander. Heute ist das kaum noch denkbar. Dabei leidet wie überall, wo man sich viel auf die Reinheit des Blutes zugutehält, der Gen-Pool. Ganze Berber-Familien in Jefren sind bereits behindert, sagt eine Beamtin: „Sollen sie doch wenigstens Berber aus anderen Städten heiraten!“ Aber natürlich gehen die Abstoßungsbewegungen von beiden Seiten aus. Die Berber kennen das Misstrauen und fühlen sich betrogen. Während des Krieges gegen Gaddafi waren wir in den Bergen gut genug, schimpfen sie und zeigen Fotos, auf denen sie Panzerabwehrraketen auf Eseln transportierten. Damals, als alle vor Zukunftsdurst und Einigkeit wie besoffen waren, hatte die Übergangsregierung ihnen das Blaue vom Himmel versprochen, Gleichberechtigung, Minderheitenschutz, es klang großartig.
Aber im Durcheinander der vergangenen drei Jahre ging das unter. Erst als die Berber die Wahl zur Verfassungskommission vor ein paar Wochen boykottierten, weil sie zu wenig Sitze bekamen, wurden einige wach. Außerdem besetzten sie das Gasterminal in Mellitah im Westen von Tripolis, auch Jefren schickte Männer dorthin. Von Mellitah führt eine Pipeline direkt nach Italien, entsprechend groß war die Aufregung. Die Berber haben Mellitah dann schnell wieder geräumt. Aber man mache sich nichts vor. Gas- oder Ölterminalblockaden sind in Libyen eine so gängige Protestform geworden wie anderswo Onlinepetitionen, auch wenn das Land dabei vor die Hunde geht, da Libyen außer Öl- und Gasverkäufen fast keine Einkommen hat. „Wir wollten keinen Zerfall des Landes wie im Irak“, sagt Nuri al-Scharwi: „Aber für uns geht es um Leben und Tod. Viele arabische Libyer sind gegen uns, schlimmer als früher. Wenn wir jetzt nichts tun, um unsere Rechte durchzusetzen, verlieren wir alles.“
Leben oder Tod. Wir oder sie. Vor oder zurück. So ist das heute in Libyen. Das Reich des Bösen ist untergegangen, die raren Institutionen von früher sind ein Schutthaufen, ähnlich wie das monströse Trümmerfeld von Gaddafis Bunkerresidenz Bab al-Asisija in Tripolis, wo ein südkoreanischer Architekt ein Vergnügungsviertel errichten möchte mit 300-Meter-Turm, Aquarium und Fressmeile, als würde von diesem Ort nicht immer noch etwas Unheimliches ausgehen, das die meisten Libyer instinktiv fernbleiben lässt.
Lange Zeit hatten die meisten die Hoffnung, dass aus dem großen Zusammenbruch Neues entstehen würde, ein Staat bestenfalls, frisch und unverbraucht, oder wenigstens: politische Foren, in denen Ansprüche verhandelt werden. Aber heute sprechen die Kupferschmiede in Tripolis vielen aus der Seele: Drei Viertel der Libyer wollen, dass das Land zur Ruhe kommt, sagen sie, und ein Viertel macht Krawall.
Früher haben sie Gaddafi-Teller in Serie gefertigt, heute verlegen sie sich auf Palmen und patriotischen Krimskrams. Das Geschäft geht schlecht, viele sind arbeitslos und die untergegangenen Ideologien machen nicht satt. „Für Geld mach ich Ihnen alles aus Kupfer, auch Obama“, sagt einer. Stämme, Städte, Clans, ethnische Gruppen, religiöse Gruppen, selbst Stadtviertel feiern den Neo-Tribalismus: Keiner kann das ganze Land beherrschen, aber er kann verhindern, dass andere es versuchen. Wo Politik oder Justiz fehlen, greift traditionelles Konfliktmanagement, manches Palaver unter Stammesältesten hat schon Massaker verhindert. Aber natürlich ist das nur einen Schritt vom Dschungel entfernt.
Gargaresch in Tripolis. Glänzend, shoppoholic, elegant. Ein Universum entfernt von der traditionsverliebten Stille der Berber. Es gibt Geld, viel Geld in Libyen, aber man spürt es nicht mehr, sagt ein Autohändler in Gargaresch. Früher war das anders. Wenn Gaddafi die Aids-Kranken in Bengasi mit einer Milliarde Dinar entschädigte, bewegte sich der Automarkt, drehten sich die Kräne. Heute ist der Haushalt höher als früher, aber die Milliarden versickern für die Gehälter des zählebigen Übergangsparlaments, für die Milizen. Die Innenstadt von Tripolis ist ein Trauerspiel. Um den einstigen Grünen Platz, der heute Platz der Märtyrer heißt, bröckeln Fassaden, türmt sich der Müll. Baustellen stehen still. Gargaresch aber glitzert.
Am Strand verkaufen Schwarzhändler Alkohol, in einer Seitenstraße, einen Steinwurf entfernt von Debenhams und Marks & Spencer, hat die erste Kitesurfing-Schule des Landes eröffnet: „Windfriends“. Seit zwei Jahren reitet Dschalal al-Walid mit seinen Schülern die Wellen, mal im Hafen von Tripolis, mal auf einer abgelegenen Insel, und dass die Strände derzeit so leer sind, weil alle Angst vor irgendwelchen irren Bewaffneten haben, ist ihm recht. „Dann haben wir mehr Platz.“
Eine Straße weiter trainiert Heba Mursi im Ladys Gym. Sie könnte wählen zwischen Zumba, Body Pump und Kickboxen, eine Nische für die Besserverdienenden, Gebildeten, für Frauen. Heba ist eine Pionierin, sie war die erste Computeringenieurin des Landes, die die Riesenserver der Telefongesellschaften wartete. Kollegen haben sie anfangs misstrauisch begafft, später wollten sie sich mit ihr fotografieren lassen. „Ich genieße es, ein Star zu sein“, sagt Heba: „Die nächsten Mädchen auf diesem Posten können sagen: Heba hat es auch getan.“
Nur gelten eben immer noch ein paar Extraregeln für Mädchen, da können sie Platinen schleppen, bis sie umfallen. Deshalb trägt Heba auf der Straße meist die Abaja, den schwarzen Mantel. Auf Reisen muss sie ihr Bruder begleiten, auch, wenn sie abends ausgeht, bei Notfällen in der Arbeit ebenfalls und sei es nachts um drei. „Er unterstützt mich bis zum Anschlag“, sagt sie. Aber was ist mit Frauen, deren Brüder weniger hilfsbereit sind? Gaddafi hat die Frauen befreit, hieß es oft, nun fürchten die Libyerinnen den Aufstieg der Islamisten, die im Osten ganze Städte terrorisieren. Die Wahrheit ist, dass Libyen schon lange und immer noch eines der konservativsten Länder der Region ist. „Alle reden von Frauenrechten“, spottet ein Libyer, „aber dabei meinen sie nie ihre eigenen Töchter.“
Der Weg zu einer modernen Gesellschaft ist womöglich noch weiter als der zu politischer Stabilität, obwohl schon dieser sich endlos zieht. Freitagnachmittag auf einer Ausfallstraße bei Tripolis. Stau. Eine Miliz – niemand weiß, welche – hat einen Pick-up aufgebaut. Auf der Ladefläche hängt ein Mann in superlässiger Rebellenpose hinter einem Maschinengewehr und ballert mal hierhin, mal dahin.
Ein anderer fuchtelt mit einer goldenen Pistole vor den Windschutzscheiben herum. Die Libyer sind nicht eingeschüchtert, sondern einfach nur sehr, sehr genervt. Ein Autofahrer brüllt einen der Kämpfer an, was das hier soll, wie er denn jetzt pünktlich zu seiner Verabredung kommen solle? So geht es alle Tage.
Ungefähr 35000 Mann kämpften gegen Gaddafi. Die heutigen Milizen zählen mehr als 200000 Kämpfer. Der Staat hat die Milizen nicht nur nicht entwaffnet, er bezahlt sie sogar, und zwar so gut, dass andere Jobs nicht mehr interessant sind. Die Milizen, die sich „Brigaden“ nennen, haben sich zu Dachverbänden zusammengeschlossen, einige wurden in die neuen Streitkräfte oder in die Polizei integriert. Viele nicht. Stattdessen haben sie sich in den Baracken der Gaddafi-Brigaden breitgemacht, es herrscht eine Art institutionalisierte Anarchie. In Libyen sind hundertmal mehr Waffen im Umlauf als im Nach-Saddam-Irak, sagen westliche Diplomaten. Die Proliferation hat eine Dimension, wie man sie seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht mehr gesehen hat.
Allein in Misrata, der Heldenstadt, der Händlerstadt, stehen 400 Panzer. Misrata hat sich inzwischen mit den Muslimbrüdern zusammengeschlossen. Ihre Gegner im Übergangsparlament um Ex-Übergangspremier Mahmud Dschibril wiederum haben sich mit der mächtigen Sintan-Miliz verbündet. Übergangsparlament und Übergangsregierung tragen ihre Rivalitäten qua Milizen aus. Es ist ein faustischer Pakt.
„Der Staat kann gar nicht auf uns verzichten. Die Brigaden schützen die Flughäfen und wichtige Gebäude. Ohne uns bricht das Chaos aus“, sagt Asem al-Hadi Salem Hindschiri auf den weichen Polstern seines Empfangszimmers. Er gehört einem Verband an, der sich etwas spröde „Operationsraum der Libyschen Revolutionäre“ nennt und im vergangenen Herbst den damaligen Premier Ali Seidan aus einem Fünf-Sterne-Hotel entführte, ein paar Stunden nur, aber lang genug, um dem Land und seiner politischen Klasse mal kurz zu zeigen, wo der Hammer hängt. Asem hat für seinen ehemaligen Gefangenen nur Hohn übrig: „Er hat geweint und über seine Herzprobleme gejammert. Dann wollte er ein Glas Milch“, berichtet er genüsslich.
Andere sagen, Seidan sei gedemütigt worden, ausgezogen und nackt fotografiert, so wie es auch über andere entführte Abgeordnete berichtet wird. Asem will davon nichts wissen, aber er gibt zu, dass die Aktion die Milizen nur noch unbeliebter gemacht hat.
Das Ganze ist sowieso Geschichte, Premier Seidan trat zurück, nachdem Separatisten im Osten einen nordkoreanischen Öltanker beluden und sogar in internationale Gewässer schickten, wo er erst von amerikanischen Navy Seals zurückgebracht wurde. Inzwischen ist Seidan im Ausland, die Rebellen im Osten haben ein paar Ölhäfen geräumt, aber die Methoden sind nicht feiner geworden.
Jüngst traf es Seidans alten Gegenspieler, Parlamentspräsident Nuri Abu Sahman, einen Islamisten, der sich gegenüber einem Milizenchef für den Besuch von zwei Frauen rechtfertigen musste, druckste, schwitzte, das Ganze auf Video und später dann im Fernsehen.
Und Seidans Nachfolger trat nach nicht mal einer Woche zurück, weil Milizen seine Familie angriffen. Die Bewaffneten sind außer Kontrolle.
Asem weiß, wie verhasst seine Männer sind. Aber mehr noch fürchtet er, was passieren könnte, wenn er die Waffen abgeben müsste. Die alten Gaddafi-Getreuen, die „aslam“, könnten zurückkehren, warnt er, und irgendjemand könnte die Milizen bezahlen lassen für die entfesselte Willkür der letzten Jahre. Wir oder die. Ein Viertel gegen drei Viertel.
Ist es ein Wunder, dass viele sich nach einem starken Mann sehnen? Wanis Buchamada wäre ein idealer Kandidat. Groß, dunkel, Mitte fünfzig, kommandiert er die Saiqa-Brigade in Bengasi. Saiqa heißt Blitz, und Buchamadas Männer sind eine Elite-Einheit. Eine der ersten, die überliefen, als der Aufstand ausbrach. Im Herbst vertrieb Buchamada Ansar al-Scharia, die Dschihadisten, aus Bengasi, jedenfalls fast. Seitdem gibt es eine Facebook-Seite „Wir sind alle Wanis Buchamada“.
Er empfängt in der Kaserne in Bengasi, vor seiner Tür ist ein Festzelt errichtet. Sein Sohn Ali war Ende Januar entführt worden. Bengasi ist ein tödlicher Ort für Armee- und Polizeiangehörige, für Richter, Journalisten, Politiker und Ausländer. Buchamada gab sich unbeeindruckt, erklärte seinen Sohn für tot und machte weiter wie immer.
Nun wurde der Verschleppte freigelassen, das Zelt ist für Glückwunsch-Gäste, und Buchamada ist immer noch keine Regung anzumerken. Wer seinen Sohn verschleppt hat? Das wisse er nicht. Kennt er die Facebook-Seite? Ja. In der Tat plane er eine größere Rolle in Libyen, nicht als Präsident oder Premier oder Minister, eher im Hintergrund.
Also eine ägyptische Lösung? Nun, nicht genau, aber das Land brauche ihn. Wird er Libyen retten? „Inschallah“.