Frühe Leser von Manuel Müllers Blog „Der (europäische) Föderalist“ wissen noch, hinter welchem Pseudonym sich der Autor am Anfang versteckte: Coccodrillo, eine Anspielung auf das „Krokodil“, ein Restaurant in der Straßburger Altstadt. Dort trafen sich von 1980 an Europaabgeordnete um den italienischen Vordenker Altiero Spinelli, die einen echten europäischen Bundesstaat mit deutlich mehr Macht für das Parlament schaffen wollten. Ihre Ideen bildeten die Keimzelle für die großen Reformschritte bis zum Vertrag von Maastricht.
"Cocodrillo" lautete das Pseudonym unter dem Manuel Müller seine ersten Artikel veröffentlichte
Coccodrillos erster Blog-Eintrag am 3.Oktober 2011, auf dem Höhepunkt der Euro-Krise, ist eine Programmschrift, die dem 1986 gestorbenen Spinelli gefallen hätte. „Warum Föderalismus?“, fragt Müller, warum also sollen sich Europas Staaten noch enger zusammenschließen? Es folgt: kein Glaubensbekenntnis, keine Kampfansage. Sondern eine nüchterne Erklärung. Wohlstand und Frieden zu schaffen, das sei kein zündendes Motiv mehr, weil längst erreicht, schreibt Müller. Wichtiger sei „das frappierende Demokratiedefizit jedes Systems unabhängiger Nationalstaaten“. Die Europäer sind eng verflochten, es gibt viele übergreifende Probleme zu lösen. Regierungen versuchen das auf diplomatischem Wege, Minister treffen sich. Aber solche Entscheidungen können nicht gleichzeitig effizient sein und die Bürger oder deren Vertreter mit einbeziehen. Um beides zu bekommen, ein effizientes wie demokratisches Europa, braucht man auf der überstaatlichen Ebene parlamentarische Entscheidungsverfahren, eine supranationale Demokratie. Denn nur dort können effiziente, also Mehrheitsentscheidungen getroffen werden – und die Bürger trotzdem ihren Einfluss behalten.
Keine leichte Prosa. Aber sie lässt sich vereinfachen, etwa so: Ein funktionierendes Europa der Bürger braucht ein starkes Europäisches Parlament. Und genau in diesem Geist hat Manuel Müller weitergemacht, hat die europäische Entwicklung dargestellt, Ereignisse und Entscheidungen analysiert und kritisiert, Gegenvorschläge entworfen. So wurde der „Föderalist“ zu einem der schlausten und lehrreichsten politischen Blogs in Deutschland, vergleichbar mit Maximilian Steinbeis’ „Verfassungsblog“, auf jeden Fall erste Adresse für alle, die das mit Europa genauer wissen wollen. Das Ziel, die Stärkung des europäischen Parlamentarismus, verliert Müller nie aus den Augen, wie die fulminante Kampagne zeigt, die er seit Monaten zur Europawahl fährt, mit aktuellen Umfrageergebnissen der europäischen Parteien, Informationen zu den Fraktionen im Straßburger Parlament, zu den Aussichten der Populisten, zum Duell der Spitzenkandidaten, mit Impressionen aus dem europäischen Wahlkampf. Die Wahl wird hier mindestens so ernst genommen, wie ihr das zusteht.
Manuel Müller schlägt ein Treffen in einem Café in Berlin-Mitte vor, unweit des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität, in dem er eine halbe Stelle hat. Kariertes Hemd, Jeans, Bart, ein freundlicher, unglamouröser Akademiker von 29 Jahren. Er blogge in der Freizeit, sagt er, wenn er nicht an seiner Dissertation arbeite. Die handelt von der öffentlichen Debatte über den Vertrag von Maastricht und wird in ein paar Monaten fertig sein. 10000 Seitenaufrufe verzeichne das Blog derzeit im Monat, Tendenz steigend. Sein Publikum: Politiker, Journalisten, Wissenschaftler, Europa-Aktivisten oder einfach Menschen, die sich für Europa interessieren. Die knapp 180 – nie kurzen – Einträge des „Föderalisten“ sind zu einem Kompendium der europäischen Vernunft gewachsen, einer Schatzgrube für alle, denen das politische Schicksal des Kontinents am Herzen liegt. Und dies als Werk eines Einzelnen, makellos geschrieben – umfassender und günstiger als jedes Buch.
Die Verlinkung ist zudem nicht nur praktisch, sie zeigt, wie alles mit allem zusammenhängt in der Politik. Schon früh hat Müller etwa den Fiskalpakt demontiert, mit dem die Euro-Regierungschefs Ende 2011 auf die Währungskrise reagierten. „Ineffizient, undemokratisch, unglaubwürdig und unsolidarisch“ nennt er die vereinbarte Schuldenbremse. Klickt man sich durch das Blog, findet man die Alternative, die Müller später erarbeitete: Wenn schon Schuldenbremse, dann nur zusammen mit solidarischen Euro-Bonds und der „Goldenen Regel“ der Finanzpolitik, wonach staatliche Investitionen, die auf Wachstum zielen – etwa in die Bildung –, von der Bremse ausgenommen wären. Später erfährt man, dass der Autor dies nur als lauen Ersatz für das ansieht, was eine Währungsunion wirklich brauche: eine echte Fiskalunion mit einem großen gemeinsamen Haushalt, der unvorhergesehene ökonomische Schocks abfedern könnte, die einigen Ländern stärker schaden als anderen. Noch ein Klick, und man landet beim „Rodrik-Trilemma“, einem Lieblingsphänomen Müllers. Es besagt, dass nationale Souveränität, enge wirtschaftliche Verflechtung und Demokratie nicht unter einen Hut zu bringen sind, sondern immer nur zwei davon miteinander kombiniert werden können. Entdeckt hat er das in El País, seiner Lieblingszeitung. Auch seine Lieblingsfußballer sind Spanier: der FC Valencia. Der Vater ist Deutschlehrer, mit ihm zog die Familie nach Helsinki, Valencia und Bamberg. Studium und Promotion führten ihn nach Granada, Madrid, Florenz. Müller hat Europa erlebt.
Ob daher sein Optimismus rührt? Der europäische Bundesstaat kommt, da ist er sicher. Weil er kommen muss. „Das kann dauern, das ist der Preis dafür, dass wir das nicht in einer Revolution erkämpfen müssen. Ich habe einen langen Atem.“ Man solle das in historischer Perspektive sehen: Es gab immer wieder Rückschritte, etwa zu Zeiten de Gaulles, doch insgesamt ging es nach vorn. Die Erfolge nationalistischer Parteien schrecken ihn nicht. „Sie versprechen die nationale Demokratie, wie sie früher war, das zieht natürlich. Aber man kann es auch so sehen: Sie haben nirgends Aussicht auf eine Mehrheit.“ Mehr als die Populisten ärgern ihn europafreundliche Politiker, die vor lauter Angst den Mund nicht aufmachen. „Man kann mehr Stimmen gewinnen mit mehr Mut.“
"Cocodrillo" lautete das Pseudonym unter dem Manuel Müller seine ersten Artikel veröffentlichte
Coccodrillos erster Blog-Eintrag am 3.Oktober 2011, auf dem Höhepunkt der Euro-Krise, ist eine Programmschrift, die dem 1986 gestorbenen Spinelli gefallen hätte. „Warum Föderalismus?“, fragt Müller, warum also sollen sich Europas Staaten noch enger zusammenschließen? Es folgt: kein Glaubensbekenntnis, keine Kampfansage. Sondern eine nüchterne Erklärung. Wohlstand und Frieden zu schaffen, das sei kein zündendes Motiv mehr, weil längst erreicht, schreibt Müller. Wichtiger sei „das frappierende Demokratiedefizit jedes Systems unabhängiger Nationalstaaten“. Die Europäer sind eng verflochten, es gibt viele übergreifende Probleme zu lösen. Regierungen versuchen das auf diplomatischem Wege, Minister treffen sich. Aber solche Entscheidungen können nicht gleichzeitig effizient sein und die Bürger oder deren Vertreter mit einbeziehen. Um beides zu bekommen, ein effizientes wie demokratisches Europa, braucht man auf der überstaatlichen Ebene parlamentarische Entscheidungsverfahren, eine supranationale Demokratie. Denn nur dort können effiziente, also Mehrheitsentscheidungen getroffen werden – und die Bürger trotzdem ihren Einfluss behalten.
Keine leichte Prosa. Aber sie lässt sich vereinfachen, etwa so: Ein funktionierendes Europa der Bürger braucht ein starkes Europäisches Parlament. Und genau in diesem Geist hat Manuel Müller weitergemacht, hat die europäische Entwicklung dargestellt, Ereignisse und Entscheidungen analysiert und kritisiert, Gegenvorschläge entworfen. So wurde der „Föderalist“ zu einem der schlausten und lehrreichsten politischen Blogs in Deutschland, vergleichbar mit Maximilian Steinbeis’ „Verfassungsblog“, auf jeden Fall erste Adresse für alle, die das mit Europa genauer wissen wollen. Das Ziel, die Stärkung des europäischen Parlamentarismus, verliert Müller nie aus den Augen, wie die fulminante Kampagne zeigt, die er seit Monaten zur Europawahl fährt, mit aktuellen Umfrageergebnissen der europäischen Parteien, Informationen zu den Fraktionen im Straßburger Parlament, zu den Aussichten der Populisten, zum Duell der Spitzenkandidaten, mit Impressionen aus dem europäischen Wahlkampf. Die Wahl wird hier mindestens so ernst genommen, wie ihr das zusteht.
Manuel Müller schlägt ein Treffen in einem Café in Berlin-Mitte vor, unweit des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität, in dem er eine halbe Stelle hat. Kariertes Hemd, Jeans, Bart, ein freundlicher, unglamouröser Akademiker von 29 Jahren. Er blogge in der Freizeit, sagt er, wenn er nicht an seiner Dissertation arbeite. Die handelt von der öffentlichen Debatte über den Vertrag von Maastricht und wird in ein paar Monaten fertig sein. 10000 Seitenaufrufe verzeichne das Blog derzeit im Monat, Tendenz steigend. Sein Publikum: Politiker, Journalisten, Wissenschaftler, Europa-Aktivisten oder einfach Menschen, die sich für Europa interessieren. Die knapp 180 – nie kurzen – Einträge des „Föderalisten“ sind zu einem Kompendium der europäischen Vernunft gewachsen, einer Schatzgrube für alle, denen das politische Schicksal des Kontinents am Herzen liegt. Und dies als Werk eines Einzelnen, makellos geschrieben – umfassender und günstiger als jedes Buch.
Die Verlinkung ist zudem nicht nur praktisch, sie zeigt, wie alles mit allem zusammenhängt in der Politik. Schon früh hat Müller etwa den Fiskalpakt demontiert, mit dem die Euro-Regierungschefs Ende 2011 auf die Währungskrise reagierten. „Ineffizient, undemokratisch, unglaubwürdig und unsolidarisch“ nennt er die vereinbarte Schuldenbremse. Klickt man sich durch das Blog, findet man die Alternative, die Müller später erarbeitete: Wenn schon Schuldenbremse, dann nur zusammen mit solidarischen Euro-Bonds und der „Goldenen Regel“ der Finanzpolitik, wonach staatliche Investitionen, die auf Wachstum zielen – etwa in die Bildung –, von der Bremse ausgenommen wären. Später erfährt man, dass der Autor dies nur als lauen Ersatz für das ansieht, was eine Währungsunion wirklich brauche: eine echte Fiskalunion mit einem großen gemeinsamen Haushalt, der unvorhergesehene ökonomische Schocks abfedern könnte, die einigen Ländern stärker schaden als anderen. Noch ein Klick, und man landet beim „Rodrik-Trilemma“, einem Lieblingsphänomen Müllers. Es besagt, dass nationale Souveränität, enge wirtschaftliche Verflechtung und Demokratie nicht unter einen Hut zu bringen sind, sondern immer nur zwei davon miteinander kombiniert werden können. Entdeckt hat er das in El País, seiner Lieblingszeitung. Auch seine Lieblingsfußballer sind Spanier: der FC Valencia. Der Vater ist Deutschlehrer, mit ihm zog die Familie nach Helsinki, Valencia und Bamberg. Studium und Promotion führten ihn nach Granada, Madrid, Florenz. Müller hat Europa erlebt.
Ob daher sein Optimismus rührt? Der europäische Bundesstaat kommt, da ist er sicher. Weil er kommen muss. „Das kann dauern, das ist der Preis dafür, dass wir das nicht in einer Revolution erkämpfen müssen. Ich habe einen langen Atem.“ Man solle das in historischer Perspektive sehen: Es gab immer wieder Rückschritte, etwa zu Zeiten de Gaulles, doch insgesamt ging es nach vorn. Die Erfolge nationalistischer Parteien schrecken ihn nicht. „Sie versprechen die nationale Demokratie, wie sie früher war, das zieht natürlich. Aber man kann es auch so sehen: Sie haben nirgends Aussicht auf eine Mehrheit.“ Mehr als die Populisten ärgern ihn europafreundliche Politiker, die vor lauter Angst den Mund nicht aufmachen. „Man kann mehr Stimmen gewinnen mit mehr Mut.“