Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345

Gauck geht mit Erdoğans Politik ins Gericht

$
0
0
Bundespräsident Joachim Gauck hat bei seinem Staatsbesuch in der Türkei den Kurs des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdoğan deutlich kritisiert und Demokratiedefizite klar benannt. Er frage sich, „ob die Unabhängigkeit der Justiz noch gesichert ist, wenn eine Regierung unliebsame Staatsanwälte und Polizisten in großer Zahl versetzt und sie so daran hindert, Missstände ohne Ansehen der Person aufzudecken“, sagte er am Montag in Ankara vor 800 Studenten und Professoren der renommierten staatlichen Technischen Universität des Nahen Ostens (ODTÜ). Erdoğans Regierung hatte Tausende Beamte versetzt, nachdem sie im Dezember selbst zum Ziel von umfangreichen Korruptionsermittlungen geworden war.




Joachim Gauck mit dem türkischen Präsidenten Abdullah Gül

Gauck kritisierte auch das erst am vergangenen Wochenende in Kraft getretene Geheimdienstgesetz, das die Befugnisse des Dienstes MİT deutlich erweitert. Es bedroht Journalisten, die als geheim eingestufte Dokumente veröffentlichen, mit bis zu neun Jahren Haft. Gauck mahnte die türkische Regierung zudem, Bürgerproteste als „Warnsignal“ zu begreifen und nicht als Störung oder Gefahr.

Eine Studentin meinte, die ODTÜ sei „der beste Ort in der Türkei, um über Demokratie zu sprechen“. An der Universität hatte es zuletzt mehrmals Proteste gegen die Regierung gegeben. Die Zuhörer waren von den Fakultäten ausgewählt worden. Dennoch gab es ein kurzes Gerangel mit Ordnungskräften, als ein Dutzend Studenten ohne Einladung versuchte, in den Saal vorzudringen. Eine Glastür ging zu Bruch, es wurden Anti-Nato-Parolen gerufen. Auf vier Fahrzeuge von Gaucks Wagen-Kolonne wurden aus einer Gruppe von etwa 30 Studenten bei der Fahrt über das Uni-Gelände Steine geworfen. In einem Auto saß Bildungsministerin Johanna Wanka. Die Situation sei bedrohlich gewesen, sagte sie. Verletzt wurde niemand.

Schon vor seiner Rede an der ODTÜ hatte sich Gauck kritisch geäußert. Bei einer Pressekonferenz mit Präsident Abdullah Gül sagte er: „Muss man denn Twitter oder Youtube verbieten?“ Gül entgegnete: „Kein Land ist vollkommen.“ Sein Land habe aber in den letzten zehn Jahren schon enorme Fortschritte gemacht. Da sei die europäische Demokratie das beste Modell für die Zukunft der Türkei, sagte Gauck.

Auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei angesprochen, meinte der Bundespräsident: „Wir wissen nicht, ob und wann das sein wird.“ Gauck sprach sich aber mit Nachdruck dafür aus, die blockierten Beitrittsverhandlungen fortzusetzen. Gerade über das anstehende Rechtsstaats-Kapitel sollte endlich verhandelt werden, meinte er. Gül habe ein klares Bekenntnis zu den europäischen Werten abgegeben, versicherte Gauck.

Der Bundespräsident sprach auch direkt mit Erdoğan bei einem Mittagessen, das doppelt so lange dauerte wie geplant. Aus Teilnehmerkreisen hieß es hinterher, Erdoğan habe bestritten, Druck auf die Justiz auszuüben. Das Gespräch sei höflich und offen gewesen, hieß es auch.

Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345