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Merci Chérie

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Jetzt gratulieren wieder alle allen. Die meisten der 37 Länder, die in Kopenhagen um den Sieg beim Eurovision Song Contest singen ließen, gratulieren dem Gastgeber zu einer wundervollen Show, und der Gastgeber gratuliert den einzelnen Ländern zu wunderbaren Beiträgen. Das hat Tradition beim ESC, dass ein paar Wochen lang alle allen Nettes sagen. Sogar die Journalisten, die in Wahrheit keine Journalisten, sondern mehrheitlich Fans sind, machen da mit. Wenn sie bei den Pressekonferenzen eine Frage stellen wollen, fangen sie mit einem Kompliment an. „Thank you for a wonderful show“, sagen sie dann gerne. Was danach kommt, interessiert nicht weiter, weder die Frage noch die Antwort. Es geht einzig darum, das emotionale Gerüst dieser technisch bis in die Spitzen aufgerüsteten Show mit einem weiteren Glückwunsch zu befestigen.



Der Sieg der österreichischen Sängerin Conchita Wurst beim ESC setzt ein Zeichen gegen europäische Uneinigkeit.

Umso verblüffender erscheint es da, wenn sich am Morgen nach dem Ereignis die Binnensicht der Beteiligten mit der Außenwahrnehmung deckt. Ja, es war eine wundervolle Veranstaltung, eine, die erst aussah, als sei sie wieder mal nur die alljährliche Leistungsschau der Licht und Effekt verarbeitenden Industrie, die sich aber entwickelte zu einem packenden Abstimmungskrimi, der am frühen Muttertag nicht nur den Sieg für Conchita Wurst brachte, sondern auch die Erkenntnis, dass dieser in Sachen Verpackung monströs aufgerüstete Trällerwettbewerb inzwischen auch inhaltlich wieder etwas zu bieten hat.

Natürlich gab es am Morgen danach auch Glückwünsche für die deutschen Teilnehmerinnen. Elaiza schafften mit ihrem netten Liedchen im Beisein von neun Millionen deutschen Fernsehzuschauern nur einen 18. Platz, was bei 26 Finalteilnehmern nicht der ganz große Wurf ist. Trotzdem gratulierte der ARD-Vorsitzende Lutz Marmor dem Trio, und auch Thomas Schreiber, der ARD-Unterhaltungskoordinator, dankte seinen Schützlingen: „Respekt und Gratulation.“ Das kann man normalerweise als übliches PR-Gesäusel abtun, aber in diesem Jahr stimmte es ausnahmsweise.

Elaiza haben einen ordentlichen Job gemacht, obwohl sie auf der riesigen Bühne ein bisschen verloren wirkten und hinter ihren niedlichen Tönen nichts Weltbewegendes zu erzählen hatten. Das machte aber wenig, weil sie ihre Erfolgsgeschichte ohnehin vorher durchlebt hatten. Sie waren quasi aus dem Nichts aufgetaucht, hatten den deutschen Vorentscheid gegen Unheilig gewonnen, und ihre Single lief im Radio rauf und runter. Allein schon dafür, dass sie den Graf von Unheilig in Kopenhagen verhindert haben, heißt es: Glückwunsch.

Zudem war Elaiza Teil eines großen Moments, der sehr wahrscheinlich in die ESC-Geschichte eingehen wird. Es ist jener Moment, in dem sich zeigte, dass Europa nicht ganz so uneinig ist, wie es manchmal wirkt. Auf einmal schienen da kurz nach Mitternacht Grenzen aufgehoben zu sein, die Grenzen zwischen einzelnen Ländern und die Grenzen zwischen Ost und West.

Stand vorher noch zu befürchten, dass insbesondere den Osteuropäern ein Mann, der mit Bart als Frau auftritt und sich den Künstlernamen Conchita Wurst gibt, schwer nahezubringen ist, so zeigte sich im Verlaufe der Abstimmung, dass Toleranz, Humor und ein glühendes Herz inzwischen offenbar quer über den Kontinent begehrt sind. Wurst bekam von fast überall Punkte, sogar aus Russland. Lediglich vier Länder hatten nichts für die 25-Jährige im bodenlangen Kleid übrig, dafür gab es aus 13 Nationen die Höchstpunktzahl – zwölf Punkte. Am Ende standen 290 Punkte in der Bilanz.

Die Siegerin konnte es kaum fassen. Sie gab sich auch im Moment ihres Triumphes genau so bescheiden wie in den Tagen zuvor. Der Preis sei für alle, die an eine friedliche Zukunft glauben, stammelte sie mehr, als sie es sagte, und betonte noch: „Wir sind eine Einheit und unstoppable.“ Unaufhaltsam soll dieses Wir sein, das sie beschwor. Es war eine deutliche Ansage gegen alle homophoben Misstöne, die sie sich im Vorfeld hatte gefallen lassen müssen, die sie aber still ertragen hatte, weil sie wusste, dass solche Anwürfe im ESC-Umfeld eher dem Werfer auf die Füße fallen als dem Adressaten.

Es ist vielleicht auch diese fast schon vornehme Zurückhaltung, diese Unaufdringlichkeit, die Conchita Wurst Punkte gebracht hat. Sie hat nicht das Klischee der schrillen, lautstark krakeelenden Transe bedient, sie war ganz und gar eine Frau, die in Kopenhagen allein auf der Bühne stand, und wirkte wie eine lebendige Fackel in einem Flammenmeer, umlodert von allem, was die LED-Lämpchen zu bieten hatten.
Auf der Strecke blieb dabei ihr Lied „Rise like aphoenix“, eine Bombastballade im James-Bond-Format, die indes kaum jemand im Ohr behält. Umso mehr erinnert man sich dafür an das Gesamtkunstwerk Conchita Wurst, das selbst angesichts der vielen Wortspiele mit seinem Namen nicht mit der angeklebten Wimper zuckte. Es hat sich gelohnt, am Ende war sie die Siegerin, ach was, die österreichische Kaiserin des ESC. Sissi trägt jetzt Bart. Glückwunsch.

Die Gratulation gebührt Frau Wurst nicht nur, weil sie ihrem Heimatland Österreich den zweiten ESC-Sieg nach dem von Udo Jürgens mit „Merci Chérie“ im Jahre 1966 bescherte, sondern vor allem, weil sie dem ESC mit ihrer klaren Haltung seine Grenzen und eine neue alte Richtung aufgezeigt hat. Schließlich liefert sich der Wettbewerb in jedem Jahr ein wenig mehr der Gefahr aus, die musikalische Ödnis von den Bühneneffekten überstrahlen zu lassen. Inzwischen können die Feuerwerker jede Explosion hinzaubern, sie können virtuellen Schnee unter den Kufen einer Schlittschuhläuferin aufstauben lassen, richtiges Wasser haben sie natürlich auch im Angebot.

Wenn es darum geht, es richtig krachen zu lassen, ist die Bühne des ESC längst ein weltweit anerkannter Maßstab.Umso mehr fällt es auf, wenn jemand auf all das verzichtet. So wie die Niederländer, ein sympathisches Duo, das sich mit Gitarren gegenüberstand und einen eingängigen Countrysong spielte, der an den Police-Hit „Every breath you take“ erinnert. So etwas geht normalerweise beim ESC gar nicht, heißt es. So etwas will die Masse nicht. Will sie nicht? Will sie wohl doch. Die Niederländer The Common Linnets landeten mit „Calm after the storm“ sensationell auf Rang zwei, und zwischendrin sah es sogar eine Weile so aus, als könnten sie der späteren Siegerin noch gefährlich werden.

Dass Schweden auf Platz drei landete, war dann wieder normales ESC-Geschäft. Unnormal verlief indes die Punktevergabe immer dann, wenn Punkte für den russischen Beitrag bekannt gegeben wurden. Dann hörte man Buhrufe aus der Halle. Aber selbst die verklangen, als sich der Sieg für Conchita Wurst abzeichnete. Auf einmal machte sich der Gedanke breit, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Die Außenseiterin feierte einen glanzvollen Sieg und belegte so eindrucksvoll, dass es sich doch lohnt, an etwas zu glauben, für etwas zu stehen: Sie zeigte, dass man ruhig ein Mann sein und Thomas Neuwirth heißen kann. Wenn man will, kann man das abstreifen und etwas sein, von dem keiner vorher annahm, dass es das jemals geben könnte.

Damit hat der ESC eine große Tür aufgestoßen und sich selbst eine neue alte Rechtfertigung verschafft. Schließlich war er 1956 angetreten, Musik über Ländergrenzen hinauszutragen, Menschen zusammenzuführen im Geiste ihrer Lieder. Wenn ihm das nun öfter so gelingt wie in Kopenhagen, darf man dem Wettbewerb im kommenden Jahr in Österreich gespannt entgegensehen. Glückwunsch und Respekt.

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