In der Villa Silberblick in Weimar, wo der Philosoph Friedrich Nietzsche die letzten Jahre vor seinem Tod im Jahr 1900 dahindämmerte, ist heute das „Kolleg Friedrich Nietzsche“ untergebracht. Jedes Jahr ist dort ein „Distinguished Fellow“ zu Gast. Nach Denkern wie Jean Baudrillard, Peter Sloterdijk oder Giorgio Agamben fiel die Wahl diesmal ausgerechnet auf den bekennenden Marxisten Terry Eagleton. Im Zuge seines Aufenthalts hat Eagleton denn auch vier Vorträge über das Verhältnis von Marx und Nietzsche gehalten, immer auch aus der Perspektive der Gegenwart: zwei in Weimar, einen in München und Tübingen. Die SZ traf Eagleton am Rande seiner kleinen Tournee.
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Was hat der Kapitalismuskritiker Marx mit dem hier als Büste dargestellten Denker Nietzsche gemeinsam? Terry Eagleton zeigt die Parallelen ihrer Theorien auf.
SZ: Professor Eagleton, Sie sind jetzt ein paar Tage mit Marx und Nietzsche durch Deutschland gereist. Wie vertragen sich die beiden?
Terry Eagleton: Ein Vergleich der beiden ist ja eher ungewöhnlich. Das liegt wohl daran, dass sie politisch so weit auseinander zu liegen scheinen. Aber es gibt bemerkenswerte Parallelen zwischen diesen beiden herausragenden Denkern des 19. Jahrhunderts, die uns bis heute stark beeinflussen. Dabei hat, soweit ich sehe, keiner den anderen direkt wahrgenommen. Marx starb 1883, bevor Nietzsche einige seiner bedeutendsten Werke veröffentlichte. Und ich bezweifle, dass Nietzsche Interesse gehabt hätte an einem schmutzigen kleinen sozialistischen Ökonomen.
Nietzsche äußert sich gelegentlich zum Sozialismus, ohne Marx zu erwähnen.
Ich will die Unterschiede nicht verwischen. Aber es gibt einen Zeitgeist, sie gehören in gewisser Hinsicht zum selben Milieu. Und abseits ihrer offensichtlichen Gegensätze teilen sie eine Menge.
Worin liegen denn die Parallelen?
Mir geht es um das Interesse an der Macht, an der Geschichte, am Materialismus, am falschen Bewusstsein.
Wenn wir Ihnen einmal, wie üblich, das Label „Marxist“ verpassen: Was könnte einen kritischen Marxisten heute an Nietzsche interessieren?
Zunächst: Ich liebe Labels! Ich werde nie den verkrampften Widerwille der Liberalen gegenüber Labels verstehen. Warum sollten Menschen zum Beispiel nicht stolz darauf sein, sich Antirassisten, Feministen, Postkolonialisten oder Ähnliches nennen zu lassen? Natürlich bin ich mehr als mein Label, aber Labels können doch sehr fruchtbar sein. Also, warum sollte sich ein Marxist für Nietzsche interessieren?
Erste Assoziation: Ist Nietzsches Konzept der „Décadence“ dasselbe, was Marx unter der „Bourgeosie“ versteht?
Nein. Marx versteht die Bourgeoisie nicht als dekadent, jedenfalls nicht in ihrer großen, heroischen Zeit. Er begreift sie eher als die dynamischste und revolutionärste Klasse der Geschichte. Es mag so sein, dass nach 1848 ein Niedergang beginnt, aber es ist wichtig, den Marxschen Begriff der Bourgeoisie nicht zu verzerren. Marx hält unglaubliches Lob für die Mittelklasse bereit. Ohne die enorme Anhäufung von materiellem wie geistigem Reichtum durch die Bourgeoisie, ohne ihre weltverändernde Kraft kann für Marx der Sozialismus überhaupt nicht entstehen.
Also keine Revolution ohne Bourgeoisie?
Marx verstand, dass man den Sozialismus nicht unter rückständigen Bedingungen umsetzen kann. Wenn man das tun möchte, kommt Stalinismus dabei raus.
Dass Marx den Kapitalismus analysiert hat, ist bekannt. Wie sehen Sie Nietzsches Verhältnis zum Kapitalismus?
Der Sozialismus bleibt über das ganze 19.Jahrhundert hinweg eine der beiden großen gedanklichen Lösungen für die Widersprüche der Bourgeoisie. Die andere ist die Kulturkritik in Gestalt eines konservativen Elitarismus, also eines romantischen Rückgriffs auf eine vorbürgerliche Gesellschaft. Der „Übermensch“ stellt in vieler Hinsicht eine Reminiszenz an den heroischen Adel dar, an die Klasse also, die nach Marx von der Bourgeoisie besiegt worden war. Es ist ein Nachklang aristokratischer Ideologie, der dann aber im 20. Jahrhundert seine eigene Wirkung entfaltet hat.
Auf Ihrer Marx-Nietzsche-Reise betonen Sie Autonomie und Freiheit als gemeinsames Ziel. Ist Nietzsches „Übermensch“ für Sie so etwas wie der neoliberale Held unserer Tage? Ein Start-up-Unternehmer?
Ich ziehe in der Tat Linien zwischen dem Übermenschen und dem unternehmungslustigen, expansiven Kapitalismus, auch wenn Nietzsche das selbst anders meinte. Aber heute befindet sich der Kapitalismus in seiner postheroischen Phase. Seinerzeit erlebte man ihn noch als dynamische, verändernde Kraft. Seitdem aber hat die Bourgeoisie ihre revolutionäre Energie verloren. Was die Autonomie angeht: Nietzsche wie Marx ist sie wichtig. Aber sie unterscheiden sich darin, dass der Übermensch stolz für sich steht, während für Marx die Existenz immer wechselseitig ist, Freiheit und Gemeinschaft hängen zusammen.
Nietzsche ist in der Hinsicht unsozial?
Nun, er wollte nicht wahrhaben, dass wir radikal abhängig von allem Möglichen sind: von der Natur, von unserer Welt, voneinander, von der Geschichte, von der Sprache, der Kultur – das sind die Dinge, die uns überhaupt ins Dasein bringen. Unsere Abhängigkeit zu leugnen, bedeutet in gewisser Hinsicht, unsere Menschlichkeit zu leugnen. Nietzsche glaubt, dass das Ich sich aus sich selbst erzeugt. Eine alte Fantasie. Ich glaube, dass Marx da überlegter ist, weil er Menschen als natürliche und materielle Wesen begreift, die ums Überleben kämpfen müssen, die soziale Beziehungen haben und Teile von etwas Größerem sind.
Vielleicht kann man sagen: Wenn beiden Freiheit wichtig ist, so denkt Marx von der Veränderung der Gesellschaft hin zum Individuum, Nietzsche umgekehrt. Auf welcher Seite würden Sie denn die Gesellschaft der Gegenwart eher sehen?
Ach, das ganze Konzept „Gesellschaft“ ist verschwunden. Einer der essenziellen Verluste im postheroischen oder postmodernen Kapitalismus ist der wachsende Verlust eines vitalen und kreativen Begriffs von Gesellschaft. Und es muss so kommen in einem System, das auf Profit, Macht, Technologie beschränkt ist, auf das Instrumentelle eben. Die Menschen sind eingesperrt in ihre Privatsphären, und der öffentliche Raum beginnt zu verschwinden. Die Leute gehen die Straße entlang, gefangen in einer symbiotischen Beziehung mit einem kleinen technischen Dämon in ihrer Hand. Damit ist das ganze Konzept von Gesellschaft in Gefahr, wie es die sozialistische Tradition gesehen hat.
Ist dieser technisch aufgerüstete Mensch von heute nicht auch eine Art Übermensch?
Nein. Er ist viel schwächer. Und Nietzsche hat ja übrigens, obwohl er ein moderner Denker ist, zugleich ein tiefes Unbehagen gegenüber der Moderne, wozu die Technik gehört. So entstand auch jene eigenartige Situation, dass einige moderne Künstler des frühen 20. Jahrhunderts sich auf den Spuren Nietzsches als Gegner der Moderne verstanden. Modernismus ist, nicht zuletzt in Deutschland, in weiten Teilen eine rechte Bewegung gegen die Moderne.
Marx ist doch auch Kritiker der Moderne?
Er kritisiert und feiert sie zugleich – als Dialektiker. Für Marx ist die Moderne eine begeisternde Erzählung, er ist ein Gegner derer, die die alten Zeiten glorifizieren. Er ist ein Avantgardist. Aber er sagt auch, dass sie ein Albtraum für viele Menschen ist. Er sieht wie Nietzsche, dass die moderne Gesellschaft in Blut geboren wurde, erkennt aber auch die großen Errungenschaften.
Besteht nicht die Gefahr, dass wir heute zu freundlich zu Marx und Nietzsche sind, wenn wir ihre Gemeinsamkeiten suchen?
Nein. Ich will nicht einfach nett zu ihnen sein. Beide sind zutiefst widersprüchlich. Wie die meisten großen Denker haben sie ihre leuchtenden und großartigen, aber auch ihre verstörenden Aspekte. Sie werden nicht in kleinen Schachteln geliefert, auf denen steht: „nett“ oder „nicht nett“. Und die marxistische Tradition, die Linke wollte immer auch von bedeutendem bürgerlichem Denken lernen. Die Geschichte beginnt nicht mit Marx, und wenn das einer wusste, dann war es Marx selbst.
Nietzsche wie Marx gelten teilweise als dunkle und gefährliche Denker.
Nietzsche wusste, dass er ein gefährlicher Denker ist. Politisch, weil diese Art von spirituellem Elitarismus gefährliche Auswirkungen haben kann; aber auch intellektuell, weil Nietzsche bereit ist, wirklich alles zu hinterfragen: den freien Willen, Moralität, Kausalität, Objekt und Subjekt... Nietzsche ist haarsträubend radikal. Marx wird natürlich oft auch als gefährlicher Denker gesehen. Aber ich bin immer wieder begeistert von dem Satz Walter Benjamins: „Marx sagt: Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte, aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechtes nach der Notbremse.“
Wird die Notbremse noch gebraucht?
Natürlich! Es ist doch der Kapitalismus, der im Moment außer Kontrolle ist. Haben wir das schon wieder vergessen? Und er lässt uns alle seit einigen Jahren die Rechnung dafür zahlen. Erzählen Sie mir nicht, Marxismus sei gefährlich. Marx geht es nicht um ein wildes, anarchisches Experiment. Aber er nahm wahr, dass das ganze System, mit dem er sich beschäftigte, dazu tendiert, außer Kontrolle zu geraten. Und das sehen wir ja heute auch.
Der Linke, der „Leftie“, das ist auch ein Label von Ihnen. Aber viele haben Sie zunächst als Literaturtheoretiker wahrgenommen. Gibt es bei Ihnen eine Entwicklung vom Literaturtheoretiker zum marxistischen Kritiker und von dort zu immer allgemeineren philosophischen Themen wie „Der Sinn des Lebens“ oder „Das Böse“ – so die Titel jüngerer Bücher?
Keineswegs. Lange bevor ich Literaturtheorie betrieb, habe ich mich intensiv mit Politik und Philosophie beschäftigt. Die Verbindung besteht im Begriff „Literaturtheorie“.
Inwiefern?
Nun, ich beschäftige mich nicht nur mit literarischen Texten, sondern mit der Idee von Literatur, von Kultur und so weiter. Natürlich ist das immer mit Philosophie und Politik verbunden. Ich kann nicht kontrollieren, wie andere Leute über mich denken. Wenn ich mir selbst ein weiteres Label verpassen sollte, dann würde ich mich als Intellektuellen bezeichnen, als public intellectual. Was nicht dasselbe ist wie ein Autor zu sein. Die Rolle des Intellektuellen ist allerdings im derzeitigen, beschleunigten Kapitalismus ebenso gefährdet wie die Idee von Gesellschaft insgesamt.
Woran machen Sie das fest?
Es gibt einen Unterschied zwischen dem Akademiker und dem Intellektuellen. Der Akademiker ist meist ein Spezialist, der sich mit bestimmten Gegenständen beschäftigt, der Intellektuelle wird, bei aller akademischen Grundlage, vor allem dafür gebraucht, sich zwischen verschiedenen Gegenständen bewegen zu können. Weil er eine Idee von der Gesellschaft als ganzer hat. Der Akademiker muss das nicht tun, er muss nicht notwendig ein Kritiker sein. Der Freiraum für Intellektuelle schwindet aber. Wir haben noch ein paar, die wir sehr bewundern: Noam Chomsky, Jürgen Habermas. Aber der heutige Kapitalismus hat
wenig Zeit für große, übergreifende Ideen.
Und warum fehlt diese Zeit?
Einer der Gründe dafür ist, dass solche Ideen riskant sein können. Kleine, pragmatische Ideen gibt es ja viele: Wie können wir nächste Woche unseren Gewinn vergrößeren? Und so weiter. Aber übergreifendes Denken ist gefährlich. Doch es gab bis vor kurzem noch einen Raum für ein derart risikofreudiges, kritisches Denken.
Nämlich?
Dieser Raum hieß: Universität. Die Universität als Zentrum von Kritik, von Nachfragen, von Reflexion, von generellen und fundamentalen Fragen ist fast tot. Das ist eine folgenschwere Entwicklung, deren Zeugen wir gerade sind. Wir können unseren Enkeln erzählen: Wir waren dabei, als die Universität verstarb. Viele nehmen das wahr, aber kaum einer versteht die Bedeutung des Vorgangs. Diese Institutionen werden mehr und mehr zu Werkzeugen des fortgeschrittenen Kapitalismus. Ich mache hier keine Witze oder übertreibe: In zwanzig Jahren könnte es in Großbritannien keine Geisteswissenschaften mehr geben. Die Leute, die die Institutionen leiten, wollen sie los werden, weil sie im Prinzip kein Geld bringen. Aber auch deshalb, weil sie Verlegenheit auslösen, weil sie unbequem sind, weil sie nicht reinpassen. Das ist eine geistige Krise von enormen Dimensionen.
Am Anfang von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ gibt es die Passage über die „letzten Menschen“, die allzeit glücklichen, zufriedenen Menschen ohne echte Sehnsüchte. Ist das unsere kapitalistische Gesellschaft – oder vielleicht doch das, was sich Marx unter dem Kommunismus vorstellte?
Die andere Seite der Geschichte, die ich gerade erzählt habe, ist Widerstand. Man wird uns nicht gänzlich los. In England bin ich selbst beteiligt an vielen Beispielen von studentischem Widerstand gegen das, was mit der höheren Bildung gerade geschieht. Marx ist entgegen der weitverbreiteten Vorstellung von ihm nicht an der Zukunft interessiert, er ist kein Utopist. Marx hat keine Interesse an Blaupausen einer idealen Gesellschaft. Denn man kann Freiheit nicht vorweg konzipieren. Wenn es einen Bruch mit der Klassengesellschaft geben soll, dann kann man es nicht dem entnehmen, was wir bereits haben. Das ist eine wirklich avantgardistische Einsicht. Marx schweigt beschäftigt nur, wie man Bedingungen herstellen kann, die es uns ermöglichen, eine Zukunft in Würde zu haben.
Und Nietzsche? Was hat er zu der Krise zu sagen, die Sie konstatieren?
Nietzsche ist natürlich auch ein avantgardistischer Denker. Der Übermensch ist nichts anderes als ein Vorläufer einer im Moment noch unvorstellbaren Zukunft. Und das ist sehr modern. Beide sind auf verschiedene Weise unserer herrschenden Kultur entgegengesetzt. Irgendwer hat über den Kapitalismus gesagt: Seine Zukunft ist dasselbe wie die Gegenwart, nur mit mehr Optionen. Können wir uns nur noch eine solche Zukunft vorstellen? Das ist doch überhaupt keine Zukunft. Der fortgeschrittene Kapitalismus ist in Gefahr, die Zukunft zu vernichten, denn er könnte sie in bloße Wiederholungen der Gegenwart verwandeln. Er vernichtet ja auch die Vergangenheit: Alles, was vor zehn Minuten passierte, ist für ihn Altertum. Aber wenn man die Vergangenheit auslöscht, dann verliert man auch die Zukunft.
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Was hat der Kapitalismuskritiker Marx mit dem hier als Büste dargestellten Denker Nietzsche gemeinsam? Terry Eagleton zeigt die Parallelen ihrer Theorien auf.
SZ: Professor Eagleton, Sie sind jetzt ein paar Tage mit Marx und Nietzsche durch Deutschland gereist. Wie vertragen sich die beiden?
Terry Eagleton: Ein Vergleich der beiden ist ja eher ungewöhnlich. Das liegt wohl daran, dass sie politisch so weit auseinander zu liegen scheinen. Aber es gibt bemerkenswerte Parallelen zwischen diesen beiden herausragenden Denkern des 19. Jahrhunderts, die uns bis heute stark beeinflussen. Dabei hat, soweit ich sehe, keiner den anderen direkt wahrgenommen. Marx starb 1883, bevor Nietzsche einige seiner bedeutendsten Werke veröffentlichte. Und ich bezweifle, dass Nietzsche Interesse gehabt hätte an einem schmutzigen kleinen sozialistischen Ökonomen.
Nietzsche äußert sich gelegentlich zum Sozialismus, ohne Marx zu erwähnen.
Ich will die Unterschiede nicht verwischen. Aber es gibt einen Zeitgeist, sie gehören in gewisser Hinsicht zum selben Milieu. Und abseits ihrer offensichtlichen Gegensätze teilen sie eine Menge.
Worin liegen denn die Parallelen?
Mir geht es um das Interesse an der Macht, an der Geschichte, am Materialismus, am falschen Bewusstsein.
Wenn wir Ihnen einmal, wie üblich, das Label „Marxist“ verpassen: Was könnte einen kritischen Marxisten heute an Nietzsche interessieren?
Zunächst: Ich liebe Labels! Ich werde nie den verkrampften Widerwille der Liberalen gegenüber Labels verstehen. Warum sollten Menschen zum Beispiel nicht stolz darauf sein, sich Antirassisten, Feministen, Postkolonialisten oder Ähnliches nennen zu lassen? Natürlich bin ich mehr als mein Label, aber Labels können doch sehr fruchtbar sein. Also, warum sollte sich ein Marxist für Nietzsche interessieren?
Erste Assoziation: Ist Nietzsches Konzept der „Décadence“ dasselbe, was Marx unter der „Bourgeosie“ versteht?
Nein. Marx versteht die Bourgeoisie nicht als dekadent, jedenfalls nicht in ihrer großen, heroischen Zeit. Er begreift sie eher als die dynamischste und revolutionärste Klasse der Geschichte. Es mag so sein, dass nach 1848 ein Niedergang beginnt, aber es ist wichtig, den Marxschen Begriff der Bourgeoisie nicht zu verzerren. Marx hält unglaubliches Lob für die Mittelklasse bereit. Ohne die enorme Anhäufung von materiellem wie geistigem Reichtum durch die Bourgeoisie, ohne ihre weltverändernde Kraft kann für Marx der Sozialismus überhaupt nicht entstehen.
Also keine Revolution ohne Bourgeoisie?
Marx verstand, dass man den Sozialismus nicht unter rückständigen Bedingungen umsetzen kann. Wenn man das tun möchte, kommt Stalinismus dabei raus.
Dass Marx den Kapitalismus analysiert hat, ist bekannt. Wie sehen Sie Nietzsches Verhältnis zum Kapitalismus?
Der Sozialismus bleibt über das ganze 19.Jahrhundert hinweg eine der beiden großen gedanklichen Lösungen für die Widersprüche der Bourgeoisie. Die andere ist die Kulturkritik in Gestalt eines konservativen Elitarismus, also eines romantischen Rückgriffs auf eine vorbürgerliche Gesellschaft. Der „Übermensch“ stellt in vieler Hinsicht eine Reminiszenz an den heroischen Adel dar, an die Klasse also, die nach Marx von der Bourgeoisie besiegt worden war. Es ist ein Nachklang aristokratischer Ideologie, der dann aber im 20. Jahrhundert seine eigene Wirkung entfaltet hat.
Auf Ihrer Marx-Nietzsche-Reise betonen Sie Autonomie und Freiheit als gemeinsames Ziel. Ist Nietzsches „Übermensch“ für Sie so etwas wie der neoliberale Held unserer Tage? Ein Start-up-Unternehmer?
Ich ziehe in der Tat Linien zwischen dem Übermenschen und dem unternehmungslustigen, expansiven Kapitalismus, auch wenn Nietzsche das selbst anders meinte. Aber heute befindet sich der Kapitalismus in seiner postheroischen Phase. Seinerzeit erlebte man ihn noch als dynamische, verändernde Kraft. Seitdem aber hat die Bourgeoisie ihre revolutionäre Energie verloren. Was die Autonomie angeht: Nietzsche wie Marx ist sie wichtig. Aber sie unterscheiden sich darin, dass der Übermensch stolz für sich steht, während für Marx die Existenz immer wechselseitig ist, Freiheit und Gemeinschaft hängen zusammen.
Nietzsche ist in der Hinsicht unsozial?
Nun, er wollte nicht wahrhaben, dass wir radikal abhängig von allem Möglichen sind: von der Natur, von unserer Welt, voneinander, von der Geschichte, von der Sprache, der Kultur – das sind die Dinge, die uns überhaupt ins Dasein bringen. Unsere Abhängigkeit zu leugnen, bedeutet in gewisser Hinsicht, unsere Menschlichkeit zu leugnen. Nietzsche glaubt, dass das Ich sich aus sich selbst erzeugt. Eine alte Fantasie. Ich glaube, dass Marx da überlegter ist, weil er Menschen als natürliche und materielle Wesen begreift, die ums Überleben kämpfen müssen, die soziale Beziehungen haben und Teile von etwas Größerem sind.
Vielleicht kann man sagen: Wenn beiden Freiheit wichtig ist, so denkt Marx von der Veränderung der Gesellschaft hin zum Individuum, Nietzsche umgekehrt. Auf welcher Seite würden Sie denn die Gesellschaft der Gegenwart eher sehen?
Ach, das ganze Konzept „Gesellschaft“ ist verschwunden. Einer der essenziellen Verluste im postheroischen oder postmodernen Kapitalismus ist der wachsende Verlust eines vitalen und kreativen Begriffs von Gesellschaft. Und es muss so kommen in einem System, das auf Profit, Macht, Technologie beschränkt ist, auf das Instrumentelle eben. Die Menschen sind eingesperrt in ihre Privatsphären, und der öffentliche Raum beginnt zu verschwinden. Die Leute gehen die Straße entlang, gefangen in einer symbiotischen Beziehung mit einem kleinen technischen Dämon in ihrer Hand. Damit ist das ganze Konzept von Gesellschaft in Gefahr, wie es die sozialistische Tradition gesehen hat.
Ist dieser technisch aufgerüstete Mensch von heute nicht auch eine Art Übermensch?
Nein. Er ist viel schwächer. Und Nietzsche hat ja übrigens, obwohl er ein moderner Denker ist, zugleich ein tiefes Unbehagen gegenüber der Moderne, wozu die Technik gehört. So entstand auch jene eigenartige Situation, dass einige moderne Künstler des frühen 20. Jahrhunderts sich auf den Spuren Nietzsches als Gegner der Moderne verstanden. Modernismus ist, nicht zuletzt in Deutschland, in weiten Teilen eine rechte Bewegung gegen die Moderne.
Marx ist doch auch Kritiker der Moderne?
Er kritisiert und feiert sie zugleich – als Dialektiker. Für Marx ist die Moderne eine begeisternde Erzählung, er ist ein Gegner derer, die die alten Zeiten glorifizieren. Er ist ein Avantgardist. Aber er sagt auch, dass sie ein Albtraum für viele Menschen ist. Er sieht wie Nietzsche, dass die moderne Gesellschaft in Blut geboren wurde, erkennt aber auch die großen Errungenschaften.
Besteht nicht die Gefahr, dass wir heute zu freundlich zu Marx und Nietzsche sind, wenn wir ihre Gemeinsamkeiten suchen?
Nein. Ich will nicht einfach nett zu ihnen sein. Beide sind zutiefst widersprüchlich. Wie die meisten großen Denker haben sie ihre leuchtenden und großartigen, aber auch ihre verstörenden Aspekte. Sie werden nicht in kleinen Schachteln geliefert, auf denen steht: „nett“ oder „nicht nett“. Und die marxistische Tradition, die Linke wollte immer auch von bedeutendem bürgerlichem Denken lernen. Die Geschichte beginnt nicht mit Marx, und wenn das einer wusste, dann war es Marx selbst.
Nietzsche wie Marx gelten teilweise als dunkle und gefährliche Denker.
Nietzsche wusste, dass er ein gefährlicher Denker ist. Politisch, weil diese Art von spirituellem Elitarismus gefährliche Auswirkungen haben kann; aber auch intellektuell, weil Nietzsche bereit ist, wirklich alles zu hinterfragen: den freien Willen, Moralität, Kausalität, Objekt und Subjekt... Nietzsche ist haarsträubend radikal. Marx wird natürlich oft auch als gefährlicher Denker gesehen. Aber ich bin immer wieder begeistert von dem Satz Walter Benjamins: „Marx sagt: Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte, aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechtes nach der Notbremse.“
Wird die Notbremse noch gebraucht?
Natürlich! Es ist doch der Kapitalismus, der im Moment außer Kontrolle ist. Haben wir das schon wieder vergessen? Und er lässt uns alle seit einigen Jahren die Rechnung dafür zahlen. Erzählen Sie mir nicht, Marxismus sei gefährlich. Marx geht es nicht um ein wildes, anarchisches Experiment. Aber er nahm wahr, dass das ganze System, mit dem er sich beschäftigte, dazu tendiert, außer Kontrolle zu geraten. Und das sehen wir ja heute auch.
Der Linke, der „Leftie“, das ist auch ein Label von Ihnen. Aber viele haben Sie zunächst als Literaturtheoretiker wahrgenommen. Gibt es bei Ihnen eine Entwicklung vom Literaturtheoretiker zum marxistischen Kritiker und von dort zu immer allgemeineren philosophischen Themen wie „Der Sinn des Lebens“ oder „Das Böse“ – so die Titel jüngerer Bücher?
Keineswegs. Lange bevor ich Literaturtheorie betrieb, habe ich mich intensiv mit Politik und Philosophie beschäftigt. Die Verbindung besteht im Begriff „Literaturtheorie“.
Inwiefern?
Nun, ich beschäftige mich nicht nur mit literarischen Texten, sondern mit der Idee von Literatur, von Kultur und so weiter. Natürlich ist das immer mit Philosophie und Politik verbunden. Ich kann nicht kontrollieren, wie andere Leute über mich denken. Wenn ich mir selbst ein weiteres Label verpassen sollte, dann würde ich mich als Intellektuellen bezeichnen, als public intellectual. Was nicht dasselbe ist wie ein Autor zu sein. Die Rolle des Intellektuellen ist allerdings im derzeitigen, beschleunigten Kapitalismus ebenso gefährdet wie die Idee von Gesellschaft insgesamt.
Woran machen Sie das fest?
Es gibt einen Unterschied zwischen dem Akademiker und dem Intellektuellen. Der Akademiker ist meist ein Spezialist, der sich mit bestimmten Gegenständen beschäftigt, der Intellektuelle wird, bei aller akademischen Grundlage, vor allem dafür gebraucht, sich zwischen verschiedenen Gegenständen bewegen zu können. Weil er eine Idee von der Gesellschaft als ganzer hat. Der Akademiker muss das nicht tun, er muss nicht notwendig ein Kritiker sein. Der Freiraum für Intellektuelle schwindet aber. Wir haben noch ein paar, die wir sehr bewundern: Noam Chomsky, Jürgen Habermas. Aber der heutige Kapitalismus hat
wenig Zeit für große, übergreifende Ideen.
Und warum fehlt diese Zeit?
Einer der Gründe dafür ist, dass solche Ideen riskant sein können. Kleine, pragmatische Ideen gibt es ja viele: Wie können wir nächste Woche unseren Gewinn vergrößeren? Und so weiter. Aber übergreifendes Denken ist gefährlich. Doch es gab bis vor kurzem noch einen Raum für ein derart risikofreudiges, kritisches Denken.
Nämlich?
Dieser Raum hieß: Universität. Die Universität als Zentrum von Kritik, von Nachfragen, von Reflexion, von generellen und fundamentalen Fragen ist fast tot. Das ist eine folgenschwere Entwicklung, deren Zeugen wir gerade sind. Wir können unseren Enkeln erzählen: Wir waren dabei, als die Universität verstarb. Viele nehmen das wahr, aber kaum einer versteht die Bedeutung des Vorgangs. Diese Institutionen werden mehr und mehr zu Werkzeugen des fortgeschrittenen Kapitalismus. Ich mache hier keine Witze oder übertreibe: In zwanzig Jahren könnte es in Großbritannien keine Geisteswissenschaften mehr geben. Die Leute, die die Institutionen leiten, wollen sie los werden, weil sie im Prinzip kein Geld bringen. Aber auch deshalb, weil sie Verlegenheit auslösen, weil sie unbequem sind, weil sie nicht reinpassen. Das ist eine geistige Krise von enormen Dimensionen.
Am Anfang von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ gibt es die Passage über die „letzten Menschen“, die allzeit glücklichen, zufriedenen Menschen ohne echte Sehnsüchte. Ist das unsere kapitalistische Gesellschaft – oder vielleicht doch das, was sich Marx unter dem Kommunismus vorstellte?
Die andere Seite der Geschichte, die ich gerade erzählt habe, ist Widerstand. Man wird uns nicht gänzlich los. In England bin ich selbst beteiligt an vielen Beispielen von studentischem Widerstand gegen das, was mit der höheren Bildung gerade geschieht. Marx ist entgegen der weitverbreiteten Vorstellung von ihm nicht an der Zukunft interessiert, er ist kein Utopist. Marx hat keine Interesse an Blaupausen einer idealen Gesellschaft. Denn man kann Freiheit nicht vorweg konzipieren. Wenn es einen Bruch mit der Klassengesellschaft geben soll, dann kann man es nicht dem entnehmen, was wir bereits haben. Das ist eine wirklich avantgardistische Einsicht. Marx schweigt beschäftigt nur, wie man Bedingungen herstellen kann, die es uns ermöglichen, eine Zukunft in Würde zu haben.
Und Nietzsche? Was hat er zu der Krise zu sagen, die Sie konstatieren?
Nietzsche ist natürlich auch ein avantgardistischer Denker. Der Übermensch ist nichts anderes als ein Vorläufer einer im Moment noch unvorstellbaren Zukunft. Und das ist sehr modern. Beide sind auf verschiedene Weise unserer herrschenden Kultur entgegengesetzt. Irgendwer hat über den Kapitalismus gesagt: Seine Zukunft ist dasselbe wie die Gegenwart, nur mit mehr Optionen. Können wir uns nur noch eine solche Zukunft vorstellen? Das ist doch überhaupt keine Zukunft. Der fortgeschrittene Kapitalismus ist in Gefahr, die Zukunft zu vernichten, denn er könnte sie in bloße Wiederholungen der Gegenwart verwandeln. Er vernichtet ja auch die Vergangenheit: Alles, was vor zehn Minuten passierte, ist für ihn Altertum. Aber wenn man die Vergangenheit auslöscht, dann verliert man auch die Zukunft.