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Messen mit zweierlei Maß

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Der Jubel über die Verbesserungen der deutschen Schüler ist noch gar nicht richtig verklungen – schon ist wieder ein Grundsatzstreit über die Pisa-Studie ausgebrochen. Einige Tausend Unterzeichner, darunter deutsche Professoren und Lehrer, haben sich mittlerweile einem weltweiten Appell im Internet angeschlossen, der den Stopp des Schüler-Vergleichs fordert, und zwar besser heute als morgen. In dem Streit über den Sinn und Zweck der Pisa-Studie gehen die Macher nun in die Offensive. „Ich bin überzeugt, dass unsere Länder ohne Pisa schlechter dastünden“, schreibt der Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Mexikaner Angel Gurría, in einer Analyse für die Süddeutsche Zeitung. Die Studien hätten bewirkt, dass Länder „über den nationalen Tellerrand hinweg schauen“ und konkret voneinander lernen.



 Angel Gurría, Generalsekretär der OECD, verteigt die Pisa-Studie: Er sei überzeugt, dass die teilnehmenden Länder ohne die Studie schlechter darstünden. 

Gurría reagiert auf die Online-Bewegung, deren Auslöser ein offener Brief in der britischen Zeitung Guardian war. Der Erziehungswissenschaftler Heinz-Dieter Meyer, an der New Yorker State University tätig, und eine US-Schulleiterin beklagen darin den „einseitigen Maßstab“ von Pisa. Dies füge Schulen und Schülern „irreparablen Schaden“ zu. Bei PISA werde die Vorstellung davon, „was Bildung ist und sein soll, in gefährlicher Weise verengt“, so die Autoren in dem Brief, adressiert an den Studienleiter Andreas Schleicher. Die OECD lenke die „Aufmerksamkeit auf kurzfristige Maßnahmen – in der Absicht, schnell im Ranking aufzuholen“. Es sei unverständlich, wie „die OECD zum globalen Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen Welt werden konnte“. Zudem sei Pisa eine Art Einfallstor für privatwirtschaftliche Akteure, die nach den pauschalen Ergebnissen ihre „Bildungsdienstleistungen“ besser verkaufen könnten.

Kritik an Pisa gibt es seit dem Start vor fast 15 Jahren, sie war zuletzt aber leiser geworden. Im Dezember 2013 erschienen die jüngsten Ergebnisse, erneut mit Fortschritten deutscher Schüler. Geprüft wurden 15-Jährige in 67 Ländern in Rechnen, Lesen, Naturwissenschaften sowie im Problemlösen. Hier mussten sie etwa an einem Ticketautomaten die beste Fahrtroute ermitteln. Derzeit laufen Vorarbeiten für die Veröffentlichung 2016. Hierzu soll es Neuerungen geben. Der Zeitpunkt des Briefes war insofern klug gewählt.

Angel Gurría setzt den Kritikern nun die Erfolge der Tests entgegen. Man solle sich mal an die Zeit vor Pisa erinnern: „Wenn Bildungsminister damals zusammenkamen, war jeder überzeugt, das eigene Bildungssystem sei das beste. Heute sitzen die Hauptakteure mit vergleichbaren Zahlen am Tisch und interpretieren die Ergebnisse vor dem Hintergrund praktischer Erfahrungen anderswo.“ Gerade in Deutschland sei dies zu sehen. Die Debatte „veränderte den ganzen Blick auf Bildung“.

Bei der ersten Studie 2000 hatten deutsche Kinder nur mittelmäßig abgeschnitten. Das hatte den berühmten Pisa-Schock ausgelöst. Zudem erwies sich der Zusammenhang zwischen Elternhaus und Leistungen als enorm. Tatsächlich ist Schulpolitik danach in den Fokus gerückt. Die Kultusminister setzten etwa vergleichbare Standards für die Bundesländer, reformierten Schulsysteme und teils Unterrichtskonzepte, bauten frühkindliche Bildung aus. So gelten Kitas heute als erste Etappe in der Bildungsbiografie, nicht mehr als Aufbewahrungsanstalten für Kinder berufstätiger Eltern. Zuletzt erzielten deutsche Schüler im Vergleich erstmals durchgehend gute Leistungen. Laut Studie 2013 schlossen sie fast zu Finnland und Kanada auf, die früher als Vorbilder genannt wurden. Kinder aus ärmeren Familien und Migranten fallen weiter in den Leistungen ab, sind aber merklich besser geworden.

Es gehe um viel mehr als abfragbares Wissen, sagt Gurría. „Mit ebenso viel Aufwand misst Pisa soziale Fähigkeiten oder die Einstellung von Schülern. Große Teile der Auswertung beschäftigen sich mit Fragen der Chancengerechtigkeit.“ In Fragebögen müssen Schüler einschätzen, was ihre Eltern erwarten, wie wohl sie sich in der Klasse fühlen oder welchen Einfluss der Lehrer hat. Dies ändere „aber nichts daran, dass das Wissen und die Fähigkeiten, die über Pisa getestet werden, wichtig sind, um in modernen Gesellschaften zu bestehen“, schreibt der OECD-Generalsekretär. Gleichwohl räumt er ein, dass Pisa Grenzen habe.

Bildungsvergleiche könnten nie „perfekt sein“. Man wolle nicht Lehrern oder Politikern „sagen, was sie zu tun haben. Stattdessen zeigt ihnen der Test, was andere Länder tun“. Dieses Prinzip funktioniere und müsse deshalb weiterentwickelt werden. Die Autoren des Briefs forderten dagegen eine „Besinnungspause“, in der die „Testmaschinerie heruntergefahren“ werde. Dann könne man „aussagekräftigere und weniger sensationsheischende Wege für Bildungsvergleiche finden“.

Der Fahrplan für die nächste Studie steht freilich. Bei Pisa 2015, Erscheinungstermin Ende 2016, sollen Papier und Bleistift keine Rolle mehr spielen – die Tests sind am Computer zu bearbeiten. Zudem werden die Schüler beim Problemlösen nicht mehr auf sich allein gestellt sein, sondern sollen im Teamwork tüfteln. Aktuell wird das erprobt – der Haupttest steht im Frühling kommenden Jahres an. 12000 Deutsche wurden bei der letzten Runde per Zufallsverfahren ausgewählt.

Eine Abkehr Deutschlands von Pisa ist kaum vorstellbar. Nach der jüngsten Studie hatten Politiker von Bund und Ländern – durchaus mit Eigenlob – das bestätigt. Das deutsche System habe sich „als lernfähig erwiesen“, so der damalige Präsident der Kultusministerkonferenz, Stephan Dorgerloh aus Sachsen-Anhalt. In einem SZ-Interview zuvor hatte der SPD-Politiker betont: Die meisten Minister seien mit Pisa politisch groß geworden, man habe „keine Scheu vor datenbasierter Politik“.

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