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Die Kinder, die wir uns wünschen

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Hunderttausende Immigranten kommen gegenwärtig aus dem Süden der Europäischen Union nach Deutschland. Die meisten sprechen schon eine fremde Sprache, nämlich Englisch. Werden sie auch Deutsch lernen?

Im ersten Halbjahr dieses Jahres sind nach den neuesten Angaben des Statistischen Bundesamts fast eine halbe Million Menschen nach Deutschland eingewandert, fünfzehn Prozent mehr als im Vorjahr. Die übliche Einwanderung aus Osteuropa hat sich verstärkt. Aber das Aufregende an diesen Zahlen ist, dass aus Griechenland (78 Prozent) sowie aus Spanien und Portugal (53 Prozent) viel mehr Menschen als im Vorjahr nach Deutschland gekommen sind, insgesamt dreiunddreißigtausend: sechzehntausend Griechen, elftausend Spanier und sechstausend Portugiesen. Dies sind zwar insgesamt nur sieben Prozent aller Einwanderer, aber sie dürften im Moment die interessantesten sein.





Ihre Wanderung spiegelt natürlich die ökonomische Situation in ihren Herkunftsländern, sie ist ein Zeichen der Verzweiflung. Migration ist ein Phänomen der Verzweiflung. Eine solche Verzweiflungsmigration sollte es in der Europäischen Union eigentlich nicht mehr geben, schon gar nicht in den Ländern der 'alten' EU (vor der osteuropäischen Erweiterung). Für diese hat Brüssel eher idyllische Szenarien des freien europäischen Arbeitsmarktes imaginiert, auf dem der multifunktionale, mobile und mehrsprachige Arbeitnehmer sich frei den besten Arbeitsplatz in Europa sucht: wo also der finnische Computerspezialist in Barcelona die passende Stelle findet, die französische Modedesignerin in Schweden ihrem Traumjob nachgeht und die griechische Krankenschwester in Amsterdam Patienten pflegt.

So schön träumt sich das, und tatsächlich gibt es das ja auch, wohl aber nicht in irgendeinem statistisch relevanten Ausmaß. So schön ist nämlich die europäische Wirklichkeit nicht. Die dreiunddreißigtausend Migranten aus dem Süden sind vielleicht durchaus Computerspezialisten, Modedesigner oder Krankenschwestern - und unterscheiden sich sehr von ihren Großvätern, die einst nach Deutschland als 'Gastarbeiter' kamen. Aber wie diese verlassen auch die neuen Migranten ihre Heimat nicht ganz freiwillig. Es ist nicht der frei auf dem Markt gefundene Traumjob, der sie nach Deutschland lockt, sondern die blanke Not in ihren Heimatländern.

Was den Arbeitsplatz in Deutschland angeht, haben sie es vermutlich eher schwerer als ihre Großväter: Sie müssen sich hier ihre Arbeit erst suchen, sich oft beruflich völlig neu ausrichten, vielleicht erst einmal weit unter ihrer Qualifikation anfangen. Aber für sie ist es wichtig, dass sie überhaupt anfangen können. Da wir qualifizierte Einwanderer benötigen, sollten wir uns über diese Migranten ganz besonders freuen: verlässlichen Angaben zufolge sind es zumeist gut ausgebildete junge Leute, die ihr Glück in dem (noch) prosperierenden Norden suchen. Da sie hoch motiviert sind, dürften sie ein großer Gewinn für unser Land sein, wenn es gelingt, ihre verschiedenen beruflichen Fähigkeiten, ihre Energie, ihre Kreativität im ökonomischen Kreislauf unseres Landes nutzbar zu machen. Hier ist, wie wir wissen, einiger Bürokratie-Abbau dringend angebracht.

Griechisch, Spanisch und Portugiesisch sind schöne und große Sprachen, sie nützen aber erst einmal nichts im Berufsleben in Deutschland. Mich interessiert von Berufs wegen, wie diese Menschen sich wohl sprachlich verhalten, wie sie ihre neue Lebenssituation sprachlich bewältigen, was sie für unsere Nation als Sprachgemeinschaft bedeuten. Die gelungene sprachliche Integration der Einwanderer halte ich für die zentrale Frage für erfolgreiche Migrationsgesellschaften. Dabei meine ich nicht, dass die Migranten, wie einst der türkische Präsident forderte, 'akzentfrei' deutsch sprechen müssten. Aber sie sollten den Alltag und vor allem ihre Arbeit passabel in der Sprache des Landes bewältigen können.

In den traditionellen Einwandererländern - in Kanada, in Australien - ist man sich über diese Minimalforderung einig und nicht zimperlich. Wie werden sich nun die neuen Einwanderer wohl hinsichtlich der Sprachenfrage verhalten? Ich glaube, man kann auch in dieser Hinsicht ziemlich optimistisch sein. Man könnte meinen, dass sich die neuen Südmigranten als Gutausgebildete einfach in die englischsprachigen Aktivitäten in diesem Land einfügen und nicht an der deutschen Sprachgemeinschaft teilnehmen werden, so wie viele Luxusmigranten - Banker, Wissenschaftler, Künstler - das tun. Ich glaube das nicht. Ich habe, das gebe ich zu, natürlich keine Zahlen, die belegen, was ich hier sage. Aber ich möchte nach meinen Alltagsbeobachtungen und Gesprächen mit meinem jungen griechischen Freund Yannis (der zugegebenermaßen schon ein paar Jahre hier lebt, aber eben doch auch die Neuankömmlinge kennt) Folgendes vermuten: Wir können davon ausgehen, dass viele der neuen Migranten in ihrer beruflichen Ausbildung Englisch gelernt haben. Nach Auskunft von Yannis dürften die Griechen im Übrigen in dieser Hinsicht besser sein als die Spanier oder Portugiesen. Die Sprecher von Weltsprachen - und Spanisch und Portugiesisch sind ja auch Weltsprachen - haben hinsichtlich der Fremdsprachenkenntnisse oft schlechtere Karten als die Sprecher 'kleiner' Sprachen, die schon immer andere Sprachen lernen mussten. Obwohl diese gut ausgebildeten Europäer Englisch können, glauben sie ganz offensichtlich nicht, dass die Kenntnis des Englischen zum Arbeiten in Deutschland genügt. Sie lernen Deutsch. Sie stürmen, wie wir wissen, die Kurse der Goethe-Institute in ihren Ländern, oder sie lernen sofort Deutsch, wenn sie hier ankommen. Dies ist eine völlig richtige Einschätzung der Lage auf dem Arbeitsmarkt.

Studenten meiner anglofonen Universität, die in ihrer Ausbildung ausschließlich englisch sprechen und schreiben und die von unserer Universität nicht zum Deutschlernen ermuntert oder gar verpflichtet werden, beklagen sich zunehmend, dass sie in Deutschland nur schwer eine Stelle finden, weil sie kein Deutsch können. Die meisten Firmen verlangen - auch bei guten Englischkenntnissen - zusätzlich Kenntnisse des Deutschen. Die einwandernden jungen Europäer wissen das aber offensichtlich schon. Es ist also bei diesen neuen Immigranten weder so, dass sie sich gar nicht um die Sprache kümmern und nur in die jeweilige x-sprachige community in Deutschland einwandern, noch ist es eine Einwanderung in die hier lebende anglofone Aristokratie: Wenn amerikanische Elite-Forscher oder indische Bankdirektoren ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegen, denken sie meistens nicht im Traume daran, die Sprache dieses Landes zu erlernen, sie wandern einfach in die anglophone Wissenschafts- oder Finanzwelt da oben ein, die Sprache von denen da unten ist ihnen egal (Botschafter bilden da nach meiner Erfahrung im Übrigen oft eine rühmenswerte Ausnahme, sie machen Crashkurse in Deutsch und sind dann zu Recht sehr stolz auf die deutschen Sprachkenntnisse).

Dass die neuen Einwanderer schon Englisch in ihrer Berufsausbildung gelernt haben, ist ein weiterer ungeheurer Vorteil: Sie wissen, was es heißt, eine Sprache zu lernen, und wie man das macht. Wenn dagegen die arme, kaum alphabetisierte Bauersfrau aus einem balkanischen Dorf unsere Sprache lernt, so grenzt das an ein Wunder, das man im Übrigen auch als solches gebührend würdigen sollte. Die jungen Südeuropäer wissen jedenfalls, dass vielleicht ein Teil des Berufslebens auf Englisch stattfinden kann, dass das Leben in den Ländern Europas aber (noch) nicht auf Englisch stattfindet, dass sie im Arbeitskontext und im Alltag die Sprache des Landes brauchen. Und sie wissen als gebildete junge Menschen auch, dass Deutsch eine Sprache ist, die kulturell interessant ist, sodass deren Erlernung nicht nur für die praktische Lebensbewältigung nützlich, sondern auch ein kultureller Gewinn ist. Und dass diese Einwanderung in unsere Sprache umgekehrt ein Quell für die Erneuerung der deutschen Literatur ist, erfahren wir seit Jahren in den vielen wunderbaren Büchern eingewanderter Autoren wie José Oliver oder Feridun Zaimoglu.

Kurzum, wir brauchen Einwanderer, auch weil unsere Kinder keine Kinder mehr haben wollen, aber über diese Einwanderer sollten wir uns ganz besonders freuen. Sie sind sozusagen die Kinder, die wir uns wünschen, sie sind motiviert, kultiviert, gut ausgebildet, mehrsprachig, und sie lernen unsere Sprache, das heißt sie wollen durchaus mit uns (Sprach-)Gemeinschaft pflegen. Also begrüßen wir sie herzlich und - vor allem - sprechen wir mit ihnen! Reden wir mit ihnen auf Deutsch, denn nur so lernen sie es immer besser. Und am Ende können sie es so gut wie der schon erwähnte junge griechische Freund Yannis, der nicht nur klug und kreativ, sondern auch ungeheuer liebenswert ist, und - das Allerbeste zum Schluss - er sieht auch noch sehr gut aus! Also: Kalos irthate sti Germania! Willkommen in Deutschland!

Der Autor ist Sprachwissenschaftler und lehrt als 'Professor of European Plurilingualism' an der Jacobs University Bremen.

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