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Hochwürden Honky Tonk

Jung ist er gewesen und töricht, singt er mit weit geöffneten Armen seinem Publikum in den heißen, dunstigen Abend entgegen. Jung und wütend, eitel und anmutig. Und mit jedem Wort verändert Mick Jagger seine Mimik: terribel theatral, fabelhaft überdeutlich wechselt er die Rollen – vom ewigen Teenie zum Sex-Maniac zum arroganten Showmaster – bis er bei der Zeile ankommt: „I was out there“ – er, der krokodilhäutige Chronist der wilden Zeit, war dabei, damals, da draußen. Immer noch ist Jagger ein Bühnenmonster von beachtlicher Jaggerizität – „a nice bunch of guys“, eine hübsche Ansammlung mehrerer Typen, wie sein Schlagzeuger Charlie Watts ihn mal beschrieb. Hochwürden Honky Tonk, His Mickness.


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Die Rolling Stones am Dienstag auf der Berliner Waldbühne: (von links) Keith Richards, Mick Jagger und Ron Wood. 

Als „Out Of Control“ 1998 erschien, gab es die Stones schon mehr als 35 Jahre. An diesem Dienstagabend in der ausverkauften Berliner Waldbühne, wo die Band das erste von zwei Deutschlandkonzerten ihrer aktuellen Welttournee spielte, verstand die Zeilen selbstverständlich trotzdem jeder als gloriose Ode an die Sechziger. Das Jahrzehnt, in dem die Rolling Stones die STONES wurden: die prototypischste, sagenumwobenste, die le-gen-där-ste Rockband, die die Popkultur am Jüngsten Tag hervorgebracht haben wird.

Erlebt haben diese Zeit natürlich längst nicht mehr alle der 22000 Zuschauer. Die Stones-Zunge auf den T-Shirts ist nicht mal mehr Ersatzrebellion. Sie ist eines der Popzitate, das fünfzig Jahre überlebt hat und sie ist das Symbol des wunderbaren Schwindels, der die diese Band umgibt. Denn bei aller beachtlichen, fast gespenstischen Jugendlichkeit von Jagger, der schlangentanzend und nervös zuckend unermüdlich über die Bühne hetzt, aber auch der Frische von Keith Richards und Ron Wood: den Rock’n’Roll, den sie meinen, gibt es schon eine gute Weile nicht mehr. Und das letzte wirklich große Album der Band war womöglich, Hand aufs Herz: „Some Girls“. 1978. Aber ihre großen Songs – „Midnight Rambler“, „Gimme Shelter“, „Brown Sugar“ und „Honky Tonk Women“ – klangen auch an diesem Abend immer noch so, wie sie zu klingen haben, also genauso dringlich, beschwörend, laut. Sagen die Ohren, sagt die Magengrube, das Gehirn aber, die verdammte Vernunft unter der Schädeldecke, die weiß schon: In Wahrheit ist das hier ein Feierabendritual für spektakelgeile Kirmes-Trottel wie uns alle, die alt genug sind, um sich wieder jung fühlen zu wollen: „It’s Only Rock’n’Rock (But ILike It)“. Niemand patscht so schön auf der Tasttatur der ewigen Sechziger herum, Sex, pling, Zynismus, pling-pling, Chaos, wumm, und bisschen Rebellentum, bumm.

Am Ende steht man als Schlaumeier aber natürlich doch ganz blöd da. Wenn Jagger für „Sympathy For The Devil“ im schwarz-roten Federumhang auf einer in rotem Licht glühenden Bühne als Miss Mick zur ersten Strophe ansetzt – „Let me please introduce myself“ – dann ist das doch so nah an einer Teufelsbeschwörung, wie man der eben kommen kann, wenn man zwei, drei Stunden vorher vor seiner Mietwohnung brav in die U-Bahn eingestiegen ist. Wirklich geheimnisvoll ist er da und grazil, und so spitzbübisch dämonisch, dass es einem schon die Schuhe auszieht. 

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