München – Sabine Lühr-Tanck kann bis heute weder riechen noch schmecken. Voll arbeiten kann die Physiotherapeutin aus dem schleswig-holsteinischen Glücksburg auch noch nicht seit ihrem Unfall an einem Aprilnachmittag vor drei Jahren. Damals war sie wie so oft auf ihrem roten Hollandrad die wenigen Hundert Meter von ihrer Wohnung zur Praxis gefahren. Da öffnete die Fahrerin eines im Halteverbot abgestellten BMW plötzlich die Autotür. Lühr-Tanck stürzte, ihr Hinterkopf schlug auf den Asphalt. Die Ärzte stellten einen zweifachen Schädeldachbruch fest, Blutungen und Hirnquetschungen. Die damals 58-Jährige hatte keinen Helm getragen.
Unfallärzte sehen im Helm einen entscheidenden Lebensretter.
War sie deshalb, wenigstens teilweise, selber schuld an den schweren Verletzungsfolgen ihres unverschuldeten Sturzes? Nein, hat nun der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe entschieden. Auch Radfahrer, die keinen Helm tragen, haben im Falle eines Unfalls Anspruch auf vollen Schadensersatz durch den Verursacher. Das Nichttragen eines Fahrradhelms führe eben „nicht zu einer Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens“, urteilten die Karlsruher Richter am Dienstag.
Sie hoben damit ein höchst umstrittenes Urteil des Oberlandesgerichts Schleswig auf. Es hatte der helmlosen Radfahrerin ein Mitverschulden angelastet und ihr nur 80 Prozent des Schadensersatzes zuerkannt. Es könne „nach dem heutigen Erkenntnisstand grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens beim Radfahren einen Helm tragen wird“, hatten die norddeutschen Richter ihre Entscheidung begründet. Damit hatten sie sich bewusst gegen die bis dahin herrschende Rechtsprechung gestellt – was der BGH nun prompt wieder korrigierte.
Die obersten Richter räumten zwar ein, dass einem Geschädigten haftungsrechtlich durchaus ein Mitverschulden angelastet werden könne, auch wenn der Gesetzgeber keine Helmpflicht vorsieht. Aber das könne nur geschehen, „wenn das Tragen von Schutzhelmen zur Unfallzeit nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz erforderlich und zumutbar gewesen wäre“. Und das war es nach Überzeugung des Gerichts nicht: „Ein solches Verkehrsbewusstsein hat es zum Zeitpunkt des Unfalls der Klägerin noch nicht gegeben.“ Der Vorsitzende Richter Gregor Galke verwies zur Begründung auf Beobachtungen der Bundesanstalt für Straßenwesen. Danach trugen 2011 nur elf Prozent aller Radler innerorts einen Helm.
Diese Quote steigt zwar, aber nur allmählich. 2013 trugen 15 Prozent der beobachteten Fahrradfahrer einen Helm. Nach Ansicht von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) sollten es deutlich mehr sein: „Wir werben immer wieder dafür, dass der Helm schwere Schäden verhindern kann“, sagte Dobrindt am Dienstag. Eine Helmpflicht – auch über die Hintertür der Haftpflicht – lehnte der Minister jedoch ab: „Wir glauben, dass die Freiwilligkeit der richtige Weg ist.“
Tatsächlich denkt die Bundesregierung nicht daran, Radlern das Tragen eines Helms vorzuschreiben. Zwar kamen 2013 auf deutschen Straßen 354 Radfahrer bei Unfällen ums Leben und mehr als 13000 zogen sich schwere Verletzungen zu. Unfallärzte sehen zudem klare Belege dafür, dass Helme ihre Träger bei vielen Stürzen vor schweren Kopfverletzungen und sogar vor dem Tod bewahren können. Verkehrsforscher fürchten jedoch, dass die Pflicht, einen Helm zu tragen, viele Menschen davon abhalten könnte, aufs Rad zu steigen. In Australien sank die Zahl der regelmäßigen Radfahrer nach Einführung der Helmpflicht Anfang der 90er-Jahre um fast ein Drittel – und auch das kann eine Gesellschaft teuer zu stehen kommen. Wer aufs Auto umsteigt, belastet Umwelt und Verkehr, bewegt sich weniger; das Risiko, an einem Herz-Kreislauf-Leiden zu erkranken, steigt. Eine im März veröffentlichte Studie des Münsteraner Verkehrswissenschaftlers Gernot Sieg hat errechnet, dass der volkswirtschaftliche Schaden einer Helmpflicht erheblich höher ist als ihr Nutzen.
Sabine Lühr-Tanck fährt übrigens wieder auf ihrem Hollandrad. Es war beim Unfall kaum beschädigt worden.