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Wachsende Wut am Perlfluss

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Peking – „Ein Land, zwei Systeme“. So lautete das Versprechen Chinas an Hongkong, als die damals noch britische Kronkolonie 1997 zurückkehrte zum chinesischen Vaterland. Die britisch-chinesischen Verträge und das Hongkonger Grundgesetz sahen vor, dass die Stadt einen „hohen Grad an Autonomie“ behalten sollte; außerdem sollten die Hongkonger Bürger 2017 erstmals frei ihren Regierungschef wählen dürfen. Der Termin, der damals noch in weiter Ferne lag, ist nun zum Greifen nah. Die versprochenen freien und allgemeinen Wahlen aber sind nicht in Sicht. Aus Peking kommen vielmehr vermehrt scharfe Warnungen Richtung Hongkong, und in Hongkong selbst sehen sich nach einem in drohendem Ton abgefassten „Weißbuch“ von vergangener Woche all jene bestätigt, die immer sagten, dass Peking sein Versprechen nicht ernst meine.



Benny Tai gehört zu den Gründen der Protestbewegung Occupy Central.

Bei den Demokraten der Sieben-Millionen-Einwohnerstadt wachsen Enttäuschung und Ärger. Der Konflikt spitzt sich zu. Für den 1. Juli, den Jahrestag der Rückkehr Hongkongs nach China, sind große Demonstrationen angekündigt. Für diesen Freitag schon plant das demokratische Lager mit einem selbst organisierten „Referendum“ den ersten einer Reihe von Schritten und Aktionen, die am Ende das Herz des Finanzzentrums lahmlegen könnten: dann, wenn die Aktivisten der lange angekündigten Aktion „Occupy Central“ zur Tat schreiten und das Zentrum Hongkongs besetzen. Ein Datum für die Aktion steht noch nicht fest.

In den kommenden Tagen und Wochen wird also der Streit zwischen dem demokratischen und dem prochinesischen Lager die Stadt noch mehr beherrschen. Dabei wird oft nicht mit sauberen Mitteln gekämpft. Von Freitag bis Sonntag sollen die Hongkonger in dem inoffiziellen Referendum über drei Modelle politischer Wahl abstimmen, die sie sich für ihre Zukunft wünschen. Die Organisatoren erhoffen sich bei der symbolischen Abstimmung eine starke Beteiligung von wenigstens 200000 oder 300000 Leuten; das soll den Druck auf Peking erhöhen, am Ende tatsächlich freie Wahlen zuzulassen.

Dabei sehen sie sich seit fast einer Woche im Kreuzfeuer von Hackerangriffen, die ihre Computersysteme lahmgelegt haben und Interessenten die Registrierung unmöglich machen. Organisatoren wie Robert Chung von der Universität Hongkong vermuten den Ursprung der Angriffe in China. „Das ist eine Form technischer Gewalt“, sagte Chung bei einer Pressekonferenz am Mittwoch.

„Sie versuchen, die Stimme der Hongkonger Bürger zum Schweigen zu bringen“, meinte auch Co-Organisator Chan Kin-man von der Occupy-Central-Bewegung. „Sie wollen die Leute davon abhalten, Nein zu sagen zu ihren falschen Wahlen.“ Der Plan der Regierung in Peking sieht zur Zeit vor, die Wahlen 2017 zwar stattfinden zu lassen; allerdings sollen nur Kandidaten antreten dürfen, die von einer pekingfreundlichen Wahlkommission zuvor handverlesen wurden.

Ebenfalls durch Hackerangriffe lahmgelegt wurden in den vergangenen Tagen die Webseiten der pekingkritischen Zeitung Apple Daily. Deren Verleger Jimmy Lai rief die Menschen dennoch auf, am Referendum teilzunehmen. Lais Apple Daily und Next Magazine mussten zuletzt den Wegfall wichtiger Anzeigenkunden wie der HSBC und der Standard Chartered Bank verkraften: Hongkonger Medienberichten zufolge strichen die beiden Banken nach Druck aus Peking ihre Anzeigen bei Lais Blättern, was sie später abstritten.

Der Druck aus Peking wuchs weiter, als Chinas Staatsrat am 10. Juni ein „Weißbuch“ über Hongkong vorstellte. Darin hieß es, die Zentralregierung in Peking habe „allgemeine Jurisdiktion“ über Hongkong und der versprochene „hohe Grad an Autonomie“ sei „beschränkt auf den Grad der Autonomie, den die zentrale Führung gewährt“. Das Weißbuch, urteilte Sophie Richardson, China-Direktorin bei der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch, sei „ein klares Signal von Peking an Hongkong, dass über allgemeine Wahlen nicht einmal bei wachsendem öffentlichem Druck“ nachgedacht werde. Das Papier, so Richardson, werde „die Spannungen in Hongkong erhöhen“. Prochinesische Politiker und Geschäftsleute verbreiten sich derweil in einer Flut von Kommentaren über angebliche „Radikale“, welche die Occupy-Central-Bewegung gekapert hätten. In einer der schärfsten Erklärungen warnte Zhou Nan, der ehemalige Direktor der Nachrichtenagentur Xinhua in Hongkong, „antichinesische Kräfte“ wollten Occupy Central benutzen, „um die Kontrolle über Hongkong zu erhalten“. Glücklicherweise stehe „die Volksbefreiungsarmee bereit“, um mit „möglichen Unruhen fertigzuwerden“.

Demokratische Politiker wie der Rechtsanwalt Martin Lee äußerten ihre Enttäuschung darüber, dass Großbritanniens Regierung beim gerade beendeten Staatsbesuch des chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang in London die wachsenden Ängste der Hongkonger nicht zum Thema gemacht habe. Das Schweigen des britischen Premierministers David Cameron sei „enttäuschend“ und „unverantwortlich“, sagte Lee.

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