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Die antiken Dritten

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Wir befinden uns im Jahr eins nach Christus, und noch immer leistet ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf den Römern Widerstand. Doch der Zahn der Zeit nagt an den Helden, die in „Asterix und Obelix feiern Geburtstag“ alt geworden sind. „Waf hämmerft du da fo verbiffen, Fohnemann?“, fragt Automatix. „Ich hab was erfunden, Papa...ein Gebiss aus Stahl für zahnlose Herrschaften wie dich!“ Da fliegt dem greisen Schmied – „WAF?“ – gleich noch ein Zahn aus dem Kiefer. Dabei hat Sohnemann, einer Publikation in der aktuellen Ausgabe von Antiquity zufolge, nur eine keltische Errungenschaft konsequent weiterentwickelt: In einem 2300 Jahre alten Grab im französischen Le Chêne südöstlich von Paris haben Archäologen das wohl älteste Zahnimplantat Westeuropas gefunden. Der stark korrodierte Eisenstift lag anstelle des linken vorderen Schneidezahns inmitten der anatomisch noch immer korrekt angeordneten Originalzähne.



Zahnimplantate gab es schon vor 2300 Jahren.

„Am Grab dachte ich noch nicht an eine Dentalprothese“, sagt Projektleiter Guillaume Seguin von der Firma Archéosphère, der mit Forschern der Universität Bordeaux kooperierte. „Erst als die Zähne im Labor identifiziert waren und ich bemerkte, dass der Eisenstift den einzig fehlenden Zahn ersetzte, kam ich auf das Implantat.“ Ob es sich tatsächlich um eine Prothese handelt, zu welchem Zeitpunkt und mit welcher Absicht sie eingesetzt wurde, lässt sich aber wohl nicht mehr klären. Das Skelett ist für diese und andere Untersuchungen zu schlecht erhalten. In puncto Geschlechtsbestimmung glauben die Forscher sich dennoch festlegen zu können. „Die Person war klein, zierlich und hatte Frauenschmuck bei sich“, so Seguin. „Ein unterentwickelter keltischer Transvestit ist wirklich kaum vorstellbar – wir gehen also von einer Frau aus.“

Eine einzige Zahnlücke im ansonsten fast makellosen Gebiss kann die höchstens 30 Jahre alte Keltin beim Essen kaum und auch beim Sprechen nicht übermäßig behindert haben. Wozu also diente das Eisenimplantat, das einen lange verrotteten Aufsatz aus Knochen, Elfenbein oder Holz getragen haben könnte? Die Forscher diskutieren drei mögliche Szenarien.

So könnte die Prothese post mortem eingesetzt worden sein, um die unschöne Zahnlücke – etwa für die prunkvolle Beerdigung – zu verschließen. Kein neues Konzept: Auch die Ägypter wollten schon vor mehr als fünf Jahrtausenden die Körper ihrer Verstorbenen möglichst vollständig für das Totenreich erhalten – und mumifizierten sie deshalb. Da war manchmal schon zu Lebzeiten vorausschauendes Handeln gefragt, wie die Untersuchung eines mumifizierten Schädels aus dem Jahr 2008 zeigt. Der junge Ägypter hatte wegen Parodontose mehrere Zähne verloren. Drei davon muss er aufbewahrt haben, weil sie ihm bei der Mumifizierung mitgegeben wurden: in der Schädelhöhle.

Denkbar ist auch, dass der keltische Eisenstift zu Lebzeiten in die Öffnung implantiert wurde, die die Zahnwurzel hinterlassen hatte. Alternativ könnte die Prothese auch in einem verbliebenen Wurzelrest verankert worden sein. Eine Tortur mit doppeltem Risiko: Ein nicht steriler Eingriff und die immunologische Abstoßung von Eisen könnten lebensgefährliche Infektionen verursacht haben.

Ein Kelte wenigstens überlebte die Rosskur: In einem 400 Jahre jüngeren Grab, das nur 130 Kilometer vom aktuellen Fundort entfernt liegt, lag das Skelett eines jungen Mannes mit Eisenimplantat, das wohl ohne Entzündung angewachsen war. Die Prothese sollte ihm möglicherweise beim Kauen helfen: Dem Mann fehlte eine ganze Reihe von Backenzähnen.

Früher Zahnersatz war meist symbolisch und für das Jenseits gedacht. Von den Etruskern in Nord- und Mittelitalien aber wurde die Zahnprothetik zur frühen Meisterschaft getrieben. Hier wurden sogar mehrere Zähne mit Goldstreifen oder -draht verbunden und als Brücke im Gebiss verankert. Hier könnten die nördlichen Nachbarn inspiriert worden sein, auch wenn sie in der Technik auf keltisches Do-it-yourself setzten, wie die Forscher schreiben.

Mit der etruskischen Zivilisation ging auch deren zahnmedizinisches Wissen unter. Problemzähne wurden über Jahrhunderte nur mehr ohne Betäubung und meist ersatzlos gezogen. Auch die reichen Schichten waren davon nicht ausgenommen. Sie litten sogar besonders, als das Luxusprodukt Zucker auf den Markt kam und sogar – der letzte Schrei! – in der Zahnpasta landete. Prominentes Opfer war Queen Elizabeth I., deren schwarze Zähne der deutsche Reisende Paul Hentzner im Jahr 1598 bemängelte. Angeblich entstand so eine kurzlebige Mode: Wer von Karies verschont blieb, färbte sich die Zähne dunkel. Soll ja keiner denken, man könne sich den Zucker nicht leisten.

Erst im 18. Jahrhundert wurden Teil- und Vollprothesen entwickelt, deren Zähne zunehmend besser am Unterbau und deren Unterbau zunehmend besser am Kiefer verankert waren – um die „Dritten“ nicht mehr alle paar Minuten aus dem Mund zu katapultieren. Zum Essen taugten sie aber nur bedingt und wurden vor den Mahlzeiten meist entfernt.

Wie untauglich diese Prothesen noch waren, musste auch George Washington am eigenen Leibe erfahren. Seine Prothesen klackten, quietschten, schmerzten, schoben die Lippen des ersten amerikanischen Präsidenten vor und ließen ihn beim Sprechen zischen. Kein Wunder, dass Washington der Überlieferung nach nur in Notfällen lächelte. Dabei fertigten seine Gebissmacher die Prothesen nach dem Stand der Technik: Washingtons letzter verbliebener Zahn etwa durfte durch ein Loch im Unterbau aus Nilpferdelfenbein gucken und fand sich in guter Gesellschaft: Rinder-, Esels- und Pferdezähne waren hier montiert – wie auch menschliche Zähne.

Tatsächlich waren natürliche Zähne über lange Zeit das Material der Wahl. Organische Substanzen wie Holz und Knochen wurden zu schnell im Mund abgebaut und stanken, während die neu erfundenen Porzellanzähne noch nicht bruchfest waren. Und zimperlich durften Zahnlose ohnehin nicht sein.
Wer es sich leisten konnte, ließ faule Zähne im Beisein von Spendern – den Ärmsten der Armen – ziehen. Diese Donoren mussten dann Zähne lassen, bis ein passendes Exemplar gefunden war, das in die offene Wunde des Empfängers transplantiert werden konnte. Einen Haken gab es: Die Zähne überlebten selten, die daran haftenden Syphiliserreger schon. Billiger, aber nicht weniger bedenklich waren die Zähne Hingerichteter und anderer Toter.

Das änderte sich erst am 18. Juni 1815, als mehr als 50000 Soldaten Napoleons Niederlage auf belgischem Boden mit ihrem Leben bezahlten. Die meisten waren jung und gesund mit jungen und gesunden Zähnen. Als „Waterloo Teeth“ wurden sie das „Must-have“ der europäischen und transatlantischen High Society, auch schon als längst die Schlachtfelder der Krim und des Amerikanischen Bürgerkriegs Nachschub lieferten.

Manch einer aber hatte genug von den Zähnen der Toten und setzte auf die Entwicklung bruchsicherer und überzeugend gefärbter Porzellanzähne, die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und nach gegen die natürliche Konkurrenz durchsetzten. Kautschuk half, die Prothesen individuell anzupassen, und Zahnärzte mussten ihre Patienten nicht mehr niederringen: Eine Betäubung genügte.

Anders als in der Eisenzeit werden Implantate heutzutage übrigens aus Titan gefertigt und unter sterilen Bedingungen eingesetzt. Doch auch dies mag künftig einmal antiquiert erscheinen. Harvard-Forscher haben kürzlich gezeigt, dass schwaches Laserlicht Stammzellen anregen kann, das Zahnmaterial Dentin zu bilden. Sie möchten nun untersuchen, ob sich so körpereigene Zähne regenerieren lassen.

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