Im November 2000 gewann George W. Bush die amerikanische Präsidentenwahl; vieles spricht dafür, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zuging. Sein Gegenkandidat, der bisherige Vizepräsident Al Gore, hatte eine halbe Million mehr Wählerstimmen gewonnen; die entscheidende Mehrheit der Wahlmännerstimmen wurde aber, aufgrund eines umstrittenen Gerichtsurteils, Bush zugesprochen.
Al Gore hat in einem großen Buch Gedanken zu großen Fragen und zur Zukunft der Menschheit aufgeschrieben.
So blieb Gore, der sich dann vor allem auf sein ökologisches Engagement konzentrierte, das Schicksal Barack Obamas erspart: als Politiker an den großen Versprechungen gemessen zu werden, die er als Kandidat formuliert hatte. Muss das so sein? Ist Amerika, ist die Welt so kompliziert und so sehr den Interessen des großen Geldes ausgeliefert, dass Reformer als Politiker in jedem Fall scheitern müssen? Mit seinem neuen Buch versucht Gore eine Antwort auf diese Frage zu geben.
Am Titel gibt es nichts zu deuteln. Al Gores neues großes Buch heißt „Die Zukunft“, und von der Zukunft der Menschheit handelt es. Wenn vor 100 Jahren ein Buch so hieß, signalisierte das Emphase, Fortschrittsglauben, soziale oder technische Himmelsstürmerei. Heute verweist so ein Titel auf das angstvolle Bewusstsein kommender Katastrophen.
Nun ist Weltangst ja eher eine europäische Grundkonstante. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn ein Amerikaner der Zukunft ins Auge blickt, wird sich die Angst schon in Grenzen halten. So erdrückend sich die Probleme auch ausnehmen: Am Ende krempelt der Amerikaner einfach die Ärmel auf: Yes, we can.
Dabei macht Gore es sich nicht einfach. Sorgfältig untersucht er die Entwicklungen, die unsere Fähigkeit beschädigen, die Zukunft für unsere Kinder und Kindeskinder zu gestalten. Deftiger gesagt: Der Autor beschreibt den Untergang der aufgeklärten westlichen Zivilisation.
Was tun? Na, was schon: Ärmel aufkrempeln. Auf Faktencheck und Analyse folgt nach vielen Seiten ein sehr kurzer Schlussausblick. Gibt es doch noch Hoffnung? Ja, sagt Gore. Und die Hoffnung heißt – richtig geraten – Amerika. Die USA seien „das einzige Land, das die notwendige weltweite Führungsrolle übernehmen kann“.
O je. Nähme man diesen Satz tatsächlich als Fazit, müsste man das Buch ohne Umschweife in die Tonne schmeißen. Nicht wegen Anti-Amerikanismus, sondern wegen Al Gore. Härter kann man die Hoffnung auf Amerikas Fähigkeit, die Zukunft zu meistern, kaum dementieren, als Gore das hier tut. Das dritte Buchkapitel, „Machtfragen“, kulminiert in einer Abrechnung mit dem politischen System der Vereinigten Staaten. „Integrität und Effizienz der amerikanischen Demokratie“, schreibt Gore, seien „nahezu vollständig zusammengebrochen“, die daraus resultierende „Unfähigkeit, schwierige politische Entscheidungen zu treffen“, blockiere zugleich „die Fähigkeit der ganzen Welt, den Weg in eine nachhaltige Zukunft zu finden.“
Gore, der sich „als Politiker in der Entwöhnungsphase“ bezeichnet, stützt seinen dramatischen Befund nicht nur auf eigene Erfahrungen, sondern auch auf seine Analyse dessen, was er „die historische Verschiebung der Grenzlinie“ zwischen den „kapitalistischen und demokratischen Sphären“ nennt. Dass sein Vertrauen auf Amerikas Kraft seinem Misstrauen gegenüber dem jetzigen amerikanischen System widerspricht, ist offenkundig. Systemkritik, so radikal oder wenig radikal sie auch ausfällt, kommt ohne Korrektive nicht aus; sie leitet ihre Parameter aus idealen, also aus utopischen Zuständen ab. So ist es immer auch der Geist der Utopie, der sich in Verfassungstexten demokratischer Staaten, allen voran in der amerikanischen Verfassung, abbildet.
Dass amerikanische Systemkritiker diese Differenz zwischen utopischem Anspruch und eingelöster Realität häufig unterschätzen, lässt sich womöglich erklären (etwa theologisch, mit Augustinus’ Theorie vom Gottesstaat: nur die civitas Dei ist perfekt, irdische Staatskonstruktionen hinken dem Ideal allenfalls hinterher). Aber: es lässt sich nicht ändern. Gores Buch nicht ernst zu nehmen, wäre dennoch ein Fehler. So paradox sich sein Amerika-Optimismus ausnimmt, so gut gelingt ihm die Beschreibung der drohenden Katastrophe.
Nüchtern gesagt, ist das Buch tatsächlich eine Bestandsaufnahme von allem, und somit das Ergebnis einer unglaublichen Recherche-, Interpretations- und Systematisierungsarbeit. Poetischer ausgedrückt liest es sich wie Dantes Gang durchs Inferno – ein ebenfalls streng systematisch gebautes Abbild zeitgenössischen Katastrophenbewusstseins – in einer Version fürs digitale Jahrtausend.
Bei allem bleibt Gore sachlich; nur zwei der sechs Kapitel flößen schon in ihren Überschriften Furcht ein. Das vierte, „Auswüchse“, führt Trends vor, deren jeder schon für sich genommen auf den nicht mehr umkehrbaren Untergang der alten Zivilisation weist: so die Manipulation menschlicher Entscheidungsfreiheit und menschlichen Glückstrebens durch konsumfixierte Marketingstrategien, das Wachstum der Städte oder die Verknappung nicht ersetzbarer elementarer Ressourcen wie Wasser oder Mutterboden. Im sechsten Kapitel, „Am Abgrund“, entfaltet Gore das Thema, mit dem er bisher zumeist in Verbindung gebracht wurde: die ökologische Zerstörung der Erde. Die heftigste Angstfaszination indes erzeugt die Lektüre des fünften Kapitels, das unter dem schlichten Titel „Die Neuerfindung von Leben und Tod“ die aberwitzige Entwicklung der Gentechnik beschreibt.
Doch die Hölle ist im ganzen Buch gegenwärtig. Die am Ende ausgemalten Schreckensvisionen scheinen auch in den beiden großen Anfangskapiteln auf, in denen Gore die „Welt-AG“, also das im Zeichen des durchdrehenden Kapitalismus vernetzte Globalkartell von Finanzmacht und Politik, dem Potenzial eines globalen „Weltgehirns“ gegenüberstellt, das mit den Kommunikations- und Mitbestimmungsmechanismen eben dieser Vernetzung entsteht. Liest man das genau, zeigt sich: Chancen zur Bewältigung der Zukunft sieht Gore in Wahrheit weniger in der Rekonstruktion amerikanischer Führungsstärke als in einer ethisch verantwortlichen Mobilisierung des Weltgehirns gegen die Welt-AG.
Dabei ist dem Autor klar, dass es naiv wäre, dem neuen Weltgehirn blind zu vertrauen. Wenn alles mit allem vernetzt ist – wie sollte sich dann das Weltgehirn in Opposition zur Welt-AG bringen lassen, ja sogar über deren Zukunft entscheiden? Oder schlicht marxistisch gefragt: Wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, bestimmt dann nicht auch die Welt-AG das Weltgehirn? Wie viel ist das Kommunikations- und „Mitbestimmungs“-Potenzial der sozialen Netzwerke wert – im Vergleich zu den Manipulationsmöglichkeiten, die jene Netzwerke den Strategen des Kapitals und ihren politischen Ausputzern an die Hand geben?
Seine Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma stützt Gore bemerkenswerterweise immer wieder auf einen großen europäischen Theologen, den lange Zeit als Kryptokommunist verfemten Jesuiten Teilhard de Chardin, und auf dessen These von der evolutionären Aufhebung des Gegensatzes von Geist und Materie in einer vernetzten neuen Welt, der „Noosphäre“.
Von dieser Idee ist Gore fasziniert, und angesichts der fortschreitenden Digitalisierung des Weltwissens kann man das gut verstehen. Die Frage bleibt allerdings, ob er im Bann der Faszination womöglich dazu neigt, das „alte“ humane Potenzial, also die Einsichtsfähigkeit und den Handlungsspielraum individuellen Denkens zu unterschätzen. Das läuft auf die sein Buch in gewisser Weise zusammenfassende Diskussion einer möglichen anthropogenetischen Singularität hinaus: Kann es, vielleicht schon in naher Zukunft, einen Punkt geben, an dem die Geschichte des intelligenten Homo sapiens endet – und jenseits dessen die Geschichte einer vernetzten Superintelligenz beginnt, die den Menschen als Subjekt der Schöpfung ablöst?
Al Gore: Die Zukunft. Sechs Kräfte, die die Welt verändern. Aus dem amerikanischen Englisch von Anna Emmert, Thomas Pfeiffer und Werner Roller. Siedler Verlag, 2014. 624 Seiten, 26,99 Euro.
Al Gore hat in einem großen Buch Gedanken zu großen Fragen und zur Zukunft der Menschheit aufgeschrieben.
So blieb Gore, der sich dann vor allem auf sein ökologisches Engagement konzentrierte, das Schicksal Barack Obamas erspart: als Politiker an den großen Versprechungen gemessen zu werden, die er als Kandidat formuliert hatte. Muss das so sein? Ist Amerika, ist die Welt so kompliziert und so sehr den Interessen des großen Geldes ausgeliefert, dass Reformer als Politiker in jedem Fall scheitern müssen? Mit seinem neuen Buch versucht Gore eine Antwort auf diese Frage zu geben.
Am Titel gibt es nichts zu deuteln. Al Gores neues großes Buch heißt „Die Zukunft“, und von der Zukunft der Menschheit handelt es. Wenn vor 100 Jahren ein Buch so hieß, signalisierte das Emphase, Fortschrittsglauben, soziale oder technische Himmelsstürmerei. Heute verweist so ein Titel auf das angstvolle Bewusstsein kommender Katastrophen.
Nun ist Weltangst ja eher eine europäische Grundkonstante. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn ein Amerikaner der Zukunft ins Auge blickt, wird sich die Angst schon in Grenzen halten. So erdrückend sich die Probleme auch ausnehmen: Am Ende krempelt der Amerikaner einfach die Ärmel auf: Yes, we can.
Dabei macht Gore es sich nicht einfach. Sorgfältig untersucht er die Entwicklungen, die unsere Fähigkeit beschädigen, die Zukunft für unsere Kinder und Kindeskinder zu gestalten. Deftiger gesagt: Der Autor beschreibt den Untergang der aufgeklärten westlichen Zivilisation.
Was tun? Na, was schon: Ärmel aufkrempeln. Auf Faktencheck und Analyse folgt nach vielen Seiten ein sehr kurzer Schlussausblick. Gibt es doch noch Hoffnung? Ja, sagt Gore. Und die Hoffnung heißt – richtig geraten – Amerika. Die USA seien „das einzige Land, das die notwendige weltweite Führungsrolle übernehmen kann“.
O je. Nähme man diesen Satz tatsächlich als Fazit, müsste man das Buch ohne Umschweife in die Tonne schmeißen. Nicht wegen Anti-Amerikanismus, sondern wegen Al Gore. Härter kann man die Hoffnung auf Amerikas Fähigkeit, die Zukunft zu meistern, kaum dementieren, als Gore das hier tut. Das dritte Buchkapitel, „Machtfragen“, kulminiert in einer Abrechnung mit dem politischen System der Vereinigten Staaten. „Integrität und Effizienz der amerikanischen Demokratie“, schreibt Gore, seien „nahezu vollständig zusammengebrochen“, die daraus resultierende „Unfähigkeit, schwierige politische Entscheidungen zu treffen“, blockiere zugleich „die Fähigkeit der ganzen Welt, den Weg in eine nachhaltige Zukunft zu finden.“
Gore, der sich „als Politiker in der Entwöhnungsphase“ bezeichnet, stützt seinen dramatischen Befund nicht nur auf eigene Erfahrungen, sondern auch auf seine Analyse dessen, was er „die historische Verschiebung der Grenzlinie“ zwischen den „kapitalistischen und demokratischen Sphären“ nennt. Dass sein Vertrauen auf Amerikas Kraft seinem Misstrauen gegenüber dem jetzigen amerikanischen System widerspricht, ist offenkundig. Systemkritik, so radikal oder wenig radikal sie auch ausfällt, kommt ohne Korrektive nicht aus; sie leitet ihre Parameter aus idealen, also aus utopischen Zuständen ab. So ist es immer auch der Geist der Utopie, der sich in Verfassungstexten demokratischer Staaten, allen voran in der amerikanischen Verfassung, abbildet.
Dass amerikanische Systemkritiker diese Differenz zwischen utopischem Anspruch und eingelöster Realität häufig unterschätzen, lässt sich womöglich erklären (etwa theologisch, mit Augustinus’ Theorie vom Gottesstaat: nur die civitas Dei ist perfekt, irdische Staatskonstruktionen hinken dem Ideal allenfalls hinterher). Aber: es lässt sich nicht ändern. Gores Buch nicht ernst zu nehmen, wäre dennoch ein Fehler. So paradox sich sein Amerika-Optimismus ausnimmt, so gut gelingt ihm die Beschreibung der drohenden Katastrophe.
Nüchtern gesagt, ist das Buch tatsächlich eine Bestandsaufnahme von allem, und somit das Ergebnis einer unglaublichen Recherche-, Interpretations- und Systematisierungsarbeit. Poetischer ausgedrückt liest es sich wie Dantes Gang durchs Inferno – ein ebenfalls streng systematisch gebautes Abbild zeitgenössischen Katastrophenbewusstseins – in einer Version fürs digitale Jahrtausend.
Bei allem bleibt Gore sachlich; nur zwei der sechs Kapitel flößen schon in ihren Überschriften Furcht ein. Das vierte, „Auswüchse“, führt Trends vor, deren jeder schon für sich genommen auf den nicht mehr umkehrbaren Untergang der alten Zivilisation weist: so die Manipulation menschlicher Entscheidungsfreiheit und menschlichen Glückstrebens durch konsumfixierte Marketingstrategien, das Wachstum der Städte oder die Verknappung nicht ersetzbarer elementarer Ressourcen wie Wasser oder Mutterboden. Im sechsten Kapitel, „Am Abgrund“, entfaltet Gore das Thema, mit dem er bisher zumeist in Verbindung gebracht wurde: die ökologische Zerstörung der Erde. Die heftigste Angstfaszination indes erzeugt die Lektüre des fünften Kapitels, das unter dem schlichten Titel „Die Neuerfindung von Leben und Tod“ die aberwitzige Entwicklung der Gentechnik beschreibt.
Doch die Hölle ist im ganzen Buch gegenwärtig. Die am Ende ausgemalten Schreckensvisionen scheinen auch in den beiden großen Anfangskapiteln auf, in denen Gore die „Welt-AG“, also das im Zeichen des durchdrehenden Kapitalismus vernetzte Globalkartell von Finanzmacht und Politik, dem Potenzial eines globalen „Weltgehirns“ gegenüberstellt, das mit den Kommunikations- und Mitbestimmungsmechanismen eben dieser Vernetzung entsteht. Liest man das genau, zeigt sich: Chancen zur Bewältigung der Zukunft sieht Gore in Wahrheit weniger in der Rekonstruktion amerikanischer Führungsstärke als in einer ethisch verantwortlichen Mobilisierung des Weltgehirns gegen die Welt-AG.
Dabei ist dem Autor klar, dass es naiv wäre, dem neuen Weltgehirn blind zu vertrauen. Wenn alles mit allem vernetzt ist – wie sollte sich dann das Weltgehirn in Opposition zur Welt-AG bringen lassen, ja sogar über deren Zukunft entscheiden? Oder schlicht marxistisch gefragt: Wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, bestimmt dann nicht auch die Welt-AG das Weltgehirn? Wie viel ist das Kommunikations- und „Mitbestimmungs“-Potenzial der sozialen Netzwerke wert – im Vergleich zu den Manipulationsmöglichkeiten, die jene Netzwerke den Strategen des Kapitals und ihren politischen Ausputzern an die Hand geben?
Seine Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma stützt Gore bemerkenswerterweise immer wieder auf einen großen europäischen Theologen, den lange Zeit als Kryptokommunist verfemten Jesuiten Teilhard de Chardin, und auf dessen These von der evolutionären Aufhebung des Gegensatzes von Geist und Materie in einer vernetzten neuen Welt, der „Noosphäre“.
Von dieser Idee ist Gore fasziniert, und angesichts der fortschreitenden Digitalisierung des Weltwissens kann man das gut verstehen. Die Frage bleibt allerdings, ob er im Bann der Faszination womöglich dazu neigt, das „alte“ humane Potenzial, also die Einsichtsfähigkeit und den Handlungsspielraum individuellen Denkens zu unterschätzen. Das läuft auf die sein Buch in gewisser Weise zusammenfassende Diskussion einer möglichen anthropogenetischen Singularität hinaus: Kann es, vielleicht schon in naher Zukunft, einen Punkt geben, an dem die Geschichte des intelligenten Homo sapiens endet – und jenseits dessen die Geschichte einer vernetzten Superintelligenz beginnt, die den Menschen als Subjekt der Schöpfung ablöst?
Al Gore: Die Zukunft. Sechs Kräfte, die die Welt verändern. Aus dem amerikanischen Englisch von Anna Emmert, Thomas Pfeiffer und Werner Roller. Siedler Verlag, 2014. 624 Seiten, 26,99 Euro.