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Der Prozess

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Wien – Josef S. darf eine halbe Stunde pro Woche Privatbesuch empfangen; in diese halbe Stunde drängen sich seine verzweifelten Eltern, die regelmäßig die 700 Kilometer von Jena nach Wien fahren, seine Schwester, Freunde. Neulich kam auch eine Abgeordnete der österreichischen Sozialdemokraten zu Besuch, ihre Sprechzeit wurde auf die halbe Stunde pro Woche angerechnet. Da bleibt viel Zeit für Einsamkeit, schließlich sitzt der 23-Jährige seit fast sechs Monaten in der Haftanstalt Josefstadt in Untersuchungshaft.



Die Haftanstalt Josefstadt in Wien. Hier sitzt Josef S. als einziger der Demonstranten und wartet.

Josef, katholisch erzogen, hat jetzt angefangen, beim Anstaltspfarrer zu ministrieren. Das gibt Trost, und die Zeit vergeht ein bisschen schneller. Die Zeit könnte ihm allerdings noch sehr lang werden im Gefängnis. Josef S. ist angeklagt wegen schweren Landfriedensbruchs, schwerer Sachbeschädigung, schwerer Körperverletzung. Darauf stehen in Österreich bis zu fünf Jahre Haft.

Bis zum 24. Januar dieses Jahres war der junge Mann ein unauffälliger Student der Werkstoffwissenschaften in Jena gewesen, er engagierte sich bei den Falken, einer Jugendgruppe mit Nähe zur Sozialdemokratie. Weil in Jena die NPD ziemlich stark ist und nicht nur linke Antifa-Grüppchen, sondern die halbe Stadt samt Bürgermeister regelmäßig auf Demonstrationen gegen Neonazis geht, sei auch sein Sohn früh politisiert worden, sagt der Vater, Bernd S., in Jena. „Aber wenn es um bürgerlichen Ungehorsam geht, hat unser Sohn immer eher deeskalierend gewirkt.“ Und dann betont der unglückliche Vater, sein Sohn sei bis zu jenem Tag im Januar noch nie polizeilich aufgefallen.

Stimmt. Josef S. ist nicht vorbestraft, seine Jenaer Professorin Dörte Stachel, die sich für den U-Häftling einsetzt, beschreibt ihn als „friedlichen, aufrechten Menschen“. Der Direktor des Instituts für Materialforschung in Jena, Markus Rettenmayr, hat im Namen des ganzen Kollegiums einen Brief an die Eltern geschrieben, „Bemerkungen zum Studenten der Werkstoffwissenschaft Josef S.“. Darin betont er, dass sein junger, höflicher Student sich „keine Versäumnisse und Aufschübe“ geleistet habe. „Die ihm vorgeworfene Bereitschaft zu Gewalttätigkeiten wurde bei uns zu keiner Zeit sichtbar.“ Und genau dieser Josef S. soll nun bei den Massenprotesten gegen den Akademikerball in Wien - 6000 Demonstranten, 2000 Polizisten, ein paar Hundert Ballbesucher – ein Rädelsführer gewesen sein, soll einen Polizeiwagen zertrümmert und eine Polizeiwache zerstört sowie mehrere Beamte angegriffen haben? So sieht es die Staatsanwaltschaft, so beschreibt es der Landesverfassungsschutz in einem dicken Ordner mit unscharfen Lichtbildern. Die Rede ist von einem Schaden von 500000 Euro, Minimum.

Der Akademikerball in der Wiener Hofburg – das ist ein jährlicher Aufreger in Österreichs Hauptstadt, wo die Rechtspopulisten mit 27 Prozent der Stimmen sehr stark sind und die rechtsextreme Burschenschaft Olympia ihre Anhänger hat. Lange von rechten Verbindungen als „Korporationsball“ organisiert, wird die Veranstaltung seit 2013 von der FPÖ betreut. Selten geht das umstrittene Tanzfest ohne Proteste und ohne Skandale ab, so nannte etwa FPÖ-Chef Karlheinz Strache die Ballbesucher schon mal „die neuen Juden“, weil man von wildgewordenen Demonstranten bedroht werde. Und fast immer gibt es einen massiven Polizeieinsatz. In diesem Jahr war die Innenstadt weiträumig abgesperrt, weil ganze Busladungen deutscher Chaoten erwartet wurden. Laut einer parlamentarischen Anfrage der Grünen hagelte es nach dem Ball Anzeigen: 517wegen Landfriedensbruch, 91 wegen Sachbeschädigung, 70 wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot.

Angeklagt und in Haft: Josef S., als Einziger. Er plädiert auf „unschuldig“.

Die „Wiener Einsatzgruppe Alarmabteilung“, kurz WEGA, eine Sondereinheit der Polizei, war in jener Nacht unterwegs, unter ihnen auch ein Zivilpolizist. Josef S. war aus Jena angereist, wie er der SZ über seinen Anwalt Clemens Lahner ausrichten lässt, weil er Freunde besuchen wollte; bei dieser Gelegenheit habe er sich an der Demonstration beteiligt. „Über Linke, SPD, Grüne, Kirchen und Gewerkschaft gibt es einen breiten Konsens, dass man den öffentlichen Raum nicht den Rechtsextremen überlassen darf.“ Er sei zum ersten Mal auf einer so großen Demonstration in Wien gewesen und ja, er stehe Burschenschaften kritisch gegenüber, da er sie „als chauvinistische Männerbünde betrachtet, die gleichzeitig als Karrierenetzwerke dienen, ein nationalistisch geprägtes Weltbild haben und oft auch Nähe zu rechtsradikalem Gedankengut aufweisen“.

Die Staatsanwaltschaft sagt, Josef S. sei inmitten des Schwarzen Blocks und mit gewaltbereiten Anarchisten unterwegs gewesen, habe randaliert und zerstört. In der Anklageschrift, die sich im Wesentlichen auf die Aussage des einen Zivilpolizisten beruft, der sich an die Fersen des jungen Mannes geheftet hatte, heißt es, S. habe gerufen „weiter, weiter, Tempo“, und andere angestachelt. Er habe „gestikulierende Anweisungen“ gegeben. Im Bericht des Verfassungsschutzes heißt es, S. habe „Wurfgegenstände“ genutzt, die „auf ein bewusstes, absichtliches schweres Verletzen der Exekutivkräfte“ zielten und den „brauchbaren Inhalt aus Mistkübeln“ geworfen. Die Verteidigung hält das alles für ausgemachten Humbug. Anwalt Clemens Lahner glaubt, Josef S. sei nur herausgepickt worden, weil er einen Pullover mit der Aufschrift „Boykott“ trug, den man auch im Dunkeln gut erkennen konnte. Die Anklage hält er für abwegig: Auf keinem Video oder Foto der tausendfach dokumentierten Demonstration sei Josef S. vermummt zu sehen. Ein Tongutachten hat ergeben, dass ein anderer, nicht er die Worte „weiter, weiter“ gerufen hat. Ein Ausschnitt aus einem ORF-Bericht belege, so Lahner, dass der Student einen Mülleimer aufgestellt – und nicht geworfen habe.
Auf Überwachungskameras von Geschäften in der Fußgängerzone ist S. nur laufend, nie prügelnd zu sehen. Der Zivilpolizist sei, sagt Lahner, selbst zeitweilig von anderen Polizisten festgenommen worden und habe S. gar nicht die ganze Zeit gesehen. In der Polizeidokumentation heißt es dazu in bestem Polizeideutsch: „Bei dem Versuch des zivilen Einsatzbeamten, S. zu folgen, wird der Beamte aufgehalten. Dadurch gerät die Person des S. außer Kontrolle und können allenfalls von ihm begangene weitere Taten nicht zugeordnet werden.“

Beim nächsten Gerichtstermin am 21.Juli soll ein Gutachten klären, ob S. Schmauchspuren an den Händen hatte, Polizeivideos sollen gesichtet, weitere Zeugen gehört werden. Dass der Deutsche trotz der extrem schwachen Beweislage freikommt, gilt als unwahrscheinlich. Der Richter meinte am ersten Verhandlungstag, die Verdachtslage habe sich erhärtet.

Gleichzeitig nehmen Protest und Solidarität für den schmächtigen Jenaer zu. In seiner Heimatstadt wurde ihm ein Preis für Zivilcourage verliehen. Die Unterstützergruppe der Aktion „Free Josef“ hat Zulauf. Auch in österreichischen Medien überwiegt das Kopfschütteln. Eine Kommentatorin im Standard meint, in einem kafkaesken Prozess drangsaliere „die Justiz einen jungen Mann. Treffen will sie damit alle, die für Antifaschismus auf die Straße gehen.“ Hier gehe es der konservativen Justiz darum, ein Exempel zu statuieren.

Die Eltern von Josef S. sind traurig – und pessimistisch. Sie beginne, den Glauben an den Rechtsstaat zu verlieren, sagt seine Mutter Sabine S. „Unser Lebensglück ist dahin. Dafür, dass er nichts getan hat, sind diese massiven Anschuldigungen schwer zu ertragen.“ An diesem Freitag fahren sie wieder die 700 Kilometer nach Wien, für eine halbe Stunde. Und ein Gespräch durch die Trennscheibe.

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