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Gesichtsverlust

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Seit drei Jahren gibt es ein französisches Gesetz, das die Vollverschleierung von muslimischen Frauen in der Öffentlichkeit verbietet. Vor einigen Tagen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg dieses Gesetz für rechtens erklärt. Das große Problem an der Bewertung dieses Urteils ist die erregte politische Atmosphäre. Das Gesetz wurde nämlich, obwohl es geschickterweise ganz allgemein, ohne Religionsbezug, die Verhüllung des Gesichts in der französischen Öffentlichkeit unter Strafe stellt, ausdrücklich auf den Weg gebracht, um die Angst vor dem Islam zu bedienen.



In Frankreich steht es unter Strafe, wenn Frauen ihr Gesicht in der Öffentlichkeit verschleiern - ein Gesetz ohne Religionsbezug. Eigentlich.

Und überhaupt gehen die allermeisten Angriffe auf das Tragen von Nikab (mit Augenschlitz) oder Burka (mit Gesichtsgitter), was in den europäischen Ländern bisher nur von jeweils einigen Hundert Frauen praktiziert wird, auf radikal-laizistische bis fremdenfeindliche Motive zurück. So ist die Auseinandersetzung darüber leider sehr schwer zu trennen von jener Vergiftung des demokratischen Diskurses, die die fremdenfeindlichen Parteien Europas seit einigen Jahren betreiben und die sich zuletzt in ihren Erfolgen bei der Europawahl bestaunen ließ.

Es geht da meist nicht um ein allgemeines Befremden angesichts von Frauen, die sich den Blicken entziehen. Es geht um eine spezifische Religiosität, die als Bedrohung empfunden wird. „Was in Europa Angst und Misstrauen schürt, das ist nicht die Verschleierung an sich, sondern die muslimische Verschleierung“, schreibt die Philosophin Martha Nussbaum. In ihrem Land, den USA, genießen die Religionen breite Entfaltungsmöglichkeiten – ein Recht, das in Amerika nicht zuletzt durch den Kampf der Katholiken gegen ihre Diskriminierung ausgebaut wurde.

Aber auch Europa hat eigentlich, infolge der Glaubensspaltung und der Konfessionskriege, einige Übung im Zurückstellen von Wahrheitsansprüchen, Übung in Toleranz. Dies gilt besonders für die Rechtsordnungen in Großbritannien und in Deutschland, in denen ein Burka-Verbot wohl im Moment auch am wenigsten vorstellbar wäre. Dabei sieht man die Vollverschleierten auch zunehmend hier bei uns: in der staubigen Variante rund um die Moscheen und Gemüseläden, in der Luxusvariante bei den reichen arabischen Touristinnen auf der Münchner Maximilianstraße oder auf der Düsseldorfer Königsallee.

Eine beliebte Propagandamethode der fremdenfeindlichen Parteien ist es, die Menschenrechte demonstrativ hochzuhalten – nicht um ihrer selbst willen, nicht zur besseren Verständigung, sondern zu Zwecken der Abwehr und des Ausschlusses. Deshalb muss man zunächst grundsätzlich festhalten, dass der westliche Pluralismus nicht ohne eine breite Anerkennung der negativen und positiven Religionsfreiheit zu haben ist, also der Gewissensfreiheit ebenso wie der freien Ausübung des Glaubens jeglicher Konfession. Es gibt in einer offenen Gesellschaft einfach keinen Anspruch darauf, nicht von Frömmigkeit gestört zu werden. Oder wie es die zwei Richterinnen, die in Straßburg gegen das französische Burka-Verbot stimmten, in ihrem Sondervotum formuliert haben: „Es gibt kein Recht, nicht schockiert oder provoziert zu werden von unterschiedlichen Modellen kultureller oder religiöser Identität, auch von solchen, die vom üblichen französischen oder europäischen Lebensstil sehr weit entfernt sind.“

Das Straßburger Urteil aber erlaubt es nun Frankreich, zugunsten eines republikanischen Ideals des Zusammenlebens die Vollverschleierung zu untersagen. Dieses „französische Prinzip“ namens „Zusammenleben“, vivre ensemble, klingt zwar ein bisschen nach einem dieser französischen Beziehungsfilme, und das Gericht gibt selbst zu, dass es als rechtlicher Begriff „flexibel“ ist, sprich: sehr schwammig. Dennoch wird dem nationalen Gesetzgeber der Spielraum eingeräumt. Er darf seine Auffassung durchsetzen, dass die Burka gegen die in Revolutionszeiten verkündete Fraternité, die Brüderlichkeit, verstoße (wozu heute auch die Schwesterlichkeit zu rechnen wäre), auch deshalb, so das Gericht, weil es in dieser Frage „keinen europäischen Konsens“ gebe. „Das Gericht kann akzeptieren, dass es ein Staat für wichtig erachtet, in diesem Zusammenhang besonderes Gewicht auf die Interaktion zwischen Individuen zu legen.“

In den vergangenen Tagen seit dem Urteil frohlocken nun einerseits die Rechtspopulisten – in der Schweiz, in Österreich, in Dänemark – in der Hoffnung, jetzt auch ein Burka-Verbot durchsetzen zu können. Andererseits entrüsten sich Menschenrechtsorganisationen: Die Frauen, die angeblich vor Diskriminierung geschützt werden sollten, würden durch das Verbot erst recht gettoisiert.
Natürlich ist es unglücklich, dass dieses delikate Thema in die Fronten ressentimentgetriebener politischer Mobilisierung gerät. Dies sollte aber nicht davon abhalten, vorurteilsfrei darüber nachzudenken. Vor allem wäre es, gerade im Blick auf künftiges „Zusammenleben“ in Europa, sehr unklug, die offenkundige Verstörung, die die Vollverschleierung bei den allermeisten auslöst, einfach als reaktionär und intolerant zur Seite zu schieben.

Genau dies tut aber eine bestimmte liberale, verfassungsrechtliche Sichtweise, die in Deutschland fast schon eine Orthodoxie ist. Sie hat einen bestimmten Ursprung: Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht heraus – „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ heißt es im Grundgesetz – wurde in Kombination mit der Menschenwürde immer stärker das Recht entwickelt und ausgebaut, nicht nur mit seiner Persönlichkeit in der Gesellschaft sichtbar sein zu dürfen, sondern auch umgekehrt, wenn man es möchte, gerade nicht sichtbar zu sein. Anonymität ist Grundrecht – dazu gehört auch die derzeit, in NSA-Zeiten, sehr aktuelle Freiheit von Überwachung oder auch das „Recht auf Vergessenwerden“ im Internet.

In diesem Geist schreibt etwa der glänzende, mit polemischer Wucht begnadete Jura-Blogger Maximilian Steinbeis: „Ich will, wenn mir danach ist, mein Gesicht verbergen, eine große Sonnenbrille aufsetzen, einen Schal um mein Gesicht schlingen und unerkannt herumlaufen dürfen.“ Ein Vollverschleierungsverbot sei, so Steinbeis, „Ausdruck eines Gesellschaftsbilds oppressiver Transparenz, das mir Angst macht“.

Und im Straßburger Minderheitsvotum, mitverfasst von der deutschen Richterin Angelika Nußberger, steht ein Satz, der beinahe schon existenzialistisch klingt: „Kommunikation ist zugegebenermaßen essenziell für das Leben in Gesellschaft, aber das Recht des Respekts für die Privatsphäre umfasst auch das Recht, nicht zu kommunizieren und nicht mit anderen auf öffentlichen Plätzen in Kontakt zu treten – das Recht, ein Außenseiter zu sein.“ Demnach wäre also auch der Nichtausdruck der Persönlichkeit der vollverschleierten Frauen ein Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Und ihr Anblick wäre für die Umgebung zu ertragen, so wie der religiöse Mensch auch den Anblick des säkularen Alltags zu ertragen hat, zum Beispiel großflächige Bikini-Reklame der Firma Calzedonia. Und sei es nur durch einen Sehschlitz.

Doch diese Auffassung macht es sich in ihrer toleranten Radikalität zu einfach. Keine Frage: Nicht hervorzutreten, in Ruhe gelassen zu werden, das gehört in bestimmtem Maße notwendig zu einer freiheitlichen Gesellschaft. Doch wenn alle sich immer von der Gemeinschaft abschotteten, wenn alle Bürger von jenem Recht pausenlos Gebrauch machen würden – dann gäbe es überhaupt keine Menschen mehr, aus denen sich eine liberale, demokratische Gesellschaft konstituieren könnte; dann gäbe es nicht nur kein „Zusammenleben“, sondern es gäbe auch gar keinen Rechtsstaat und keine demokratischen Institutionen, die das Zusammenleben und das Inanspruchnehmen von Grundrechten überhaupt erst möglich machen.
Das heißt: Auch bürgerliche Rechte auf Privatsphäre, auf Schutz religiöser Minderheiten, auf Indifferenz können nur dann entstehen und garantiert werden, wenn nicht alle Bürger die öffentliche Kommunikation und Sichtbarkeit verweigern. Man stelle sich nur einmal vor, alle Verfassungsrichter würden bei der Verkündung eines Urteils ihr Gesicht verhüllen und ihren Namen verschweigen – etwa weil sie in Ausübung ihres Persönlichkeitsrechtes alle nicht als Personen, sondern lieber nur als Vertreter eines Verfassungsorgans wahrgenommen werden möchten. Dies würde mit einigem Recht nicht als liberal, sondern als repressiv empfunden werden.

Religiöse Trachten von Gläubigen sind, so hat Jan Philipp Reemtsma in einem Aufsatz geschrieben, zu tolerieren, „solange sie die Spielregeln der säkularen Gesellschaft respektieren“. Die Frage ist: Tun Burka- und Nikab-Trägerinnen das? Und tun es ihre Männer? Man kann durchaus dafür argumentieren, dass eine komplette Verhüllung des Gesichts in der demokratischen Öffentlichkeit eine prinzipielle Ablehnung an der Teilnahme an ebendieser Öffentlichkeit darstellt.
Das ergibt sich erst einmal allgemein aus dem kulturellen Kontext: Das Gesicht ist nun einmal – nicht nur in der europäischen Tradition, aber bildgeschichtlich und politisch in besonderer Weise dort – Träger der Persönlichkeit und der Individualität, das Fenster des Menschseins, das man nicht einfach so zumachen kann.

Dies drückt sich in der Wertschätzung des Porträts aus von den charakteristischen Marmorköpfen der alten Römer bis zur massenhaften Digitalfotografie mit ihren „Selfies“. Und es gehört selbstverständlich zu diesem Ausdruck bürgerlicher Individualität mit dem Gesicht hinzu, dass auch alle Frauen daran teilhaben.
Die Versuche, selbst die Vollverschleierung noch feministisch zu adeln und nicht als Erniedrigung oder zumindest Exklusion der Frauen anzusehen – etwa unter Berufung auf die durchaus kenntnisreiche türkische Soziologin Nilüfer Göle, die in Paris lehrt – dürften wenigen einleuchten, die sich für die Gleichberechtigung der Frauen einsetzen. Insofern ist die Vollverschleierung, anders als inzwischen das normale Kopftuch, nicht einfach nur eine Provokation der „kulturellen oder religiösen Identität“, sondern auch ganz konkret eine Provokation des liberaleren weiblichen Selbstverständnisses anderer Frauen im öffentlichen Raum.

Aber auch aus engerer staatsrechtlicher Perspektive ergeben sich Schwierigkeiten: Es ist vielleicht nicht unmöglich, aber sehr schwierig, Grundrechte in Anspruch zu nehmen, wenn der Rechteinhaber nicht einfach nur scheu ist oder gelegentlich Schal und Sonnenbrille wie Maximilian Steinbeis oder einen Skihelm oder eine Karnevalsmaske trägt, sondern wenn er – hier: sie – eine technische Vorkehrung getroffen hat, die einen außerhalb der eigenen vier Wände grundsätzlich nicht als unterscheidbare Person in Erscheinung treten lässt. „Pluralismus und Demokratie“, sagen die Straßburger Richter, „müssen auch auf Dialog und einem Geist des Kompromisses beruhen.“ Allerdings verweist die verweigerte Partizipation, die hier augenfällig wird, auch auf den stets prekären Zustand der Demokratie überhaupt: Beteiligung daran kann ja immer nur gewünscht, aber nicht zwingend eingefordert werden, und das gilt weiß Gott nicht nur für Vollverschleierte.

Wenn die Kritiker des Straßburger Urteils nach der Verhältnismäßigkeit des Verbots fragen, darf man auch nach der Verhältnismäßigkeit der Vollverschleierung im Rahmen der Gebote des Islams fragen. Sie ist ja in der jetzigen Form eine radikalisierende Erfindung aus jüngerer Zeit. Dies hat zwar möglicherweise – so eine gängige Meinung in Sachen Religionsfreiheit – den säkularen Staat gar nicht zu interessieren, weil es reicht, dass eine bestimmte Praxis als ein Gebot des Glaubens aufgefasst wird. Aber die Bürger, die ins öffentliche Leben treten und sich nicht verhüllen, interessiert diese Frage trotzdem, wozu ja auch die große gemäßigte Mehrheit der muslimischen Bürger gehört. Es ist zur Bewertung des Konfrontationspotenzials einer religiösen Praxis eben schon ein Unterschied, ob es sich um die allgemeine Ausübung einer Weltreligion handelt oder um deren allerstrengste, extrem abweichende Auslegung. Die Behauptung des Straßburger Sondervotums, die Burka- und Nikab-Trägerinnen seien einfach „treu zu ihren Traditionen“, ist daher ziemlich fragwürdig – erst recht wenn man weiß, dass nach der jüngsten Erhebung ein Viertel der vollverschleierten Musliminnen in Frankreich Konvertiten sind.

Gleichwohl hat ein Gesetz, das Gesichtsverhüllung verbietet, auch selbst etwas Intolerantes. Das gilt für Sonderfälle wie Brandopfer oder Lichtkranke, aber auch darüber hinaus angesichts heute allgegenwärtiger Blicke nicht nur von Menschen, sondern von Maschinen, die ihre Kameras zur Gesichtserkennung einsetzen. Das Gesicht ist nicht nur stolze Individualität, es hat auch seine eigene Problemgeschichte vom fröhlichen Flirt bis zur totalitären Erfassung. Man sollte nicht zu triumphal-abendländisch damit herumlaufen. Wer sein Gesicht zeigt, zeigt bekanntlich auch nicht immer sein „wahres“. Es ist eine Maske im sozialen Spiel. Weiteres Unbehagen stellt sich schnell ein, weil man mit einer Kritik der Vollverschleierung viele falsche Freunde gewinnt. Das sind die Leute, deren fanatischer Kampf gegen den Islam ein, milde gesagt, sehr selektiver Einsatz für die Menschenrechte ist und von denen man sehr ungern Leserbriefe erhält.

Das ist aber kein Grund, über die gewichtigeren Einwände nicht offen zu debattieren, wo es geht, auch mit den Betroffenen selbst – das einfache Laufenlassen ist hingegen eine allzu bequeme Haltung. Es braucht eben doch ein bisschen „vivre ensemble“, ein bisschen Zusammenleben. Eine Portion französischer Republikanismus ist nicht gleich Unterdrückung. Es muss weiter Streit darüber geben, ob aus dem Verhalten der Vollverschleierten – so eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Religionsfreiheit aus den Siebzigerjahren – „fühlbare Beeinträchtigungen für das Gemeinwesen oder die Grundrechte anderer erwachsen“. Die Argumente, die zugunsten eines Burka-Verbots vorgebracht werden, sind nicht alle falsch. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob diese Argumente auf dem Wege des Verbots ihre Wirksamkeit entfalten werden.

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