Montagabend um sechs am Strand von Santo André: Über dem Ozean verflüchtigt sich das restliche Tageslicht, der Strand ist menschenleer. Nur ein einzelner Mann steht mit dem Rücken zum Wasser und fotografiert ausdauernd einen Immobilienkomplex, der hinter einem schlichten grünen Zaun verborgen liegt. Die Wächter vor dem Anwesen kümmern sich nicht um den Mann. Drei Uniformierte stehen am Eingang zur Anlage, zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Militär- polizisten in Camouflage dekorieren das Gebüsch hinter der Sandlinie. Vor ein paar Wochen hätten sie sich noch die Mühe gemacht, den Mann mit dem Fotoapparat einigermaßen höflich zu verscheuchen. Aber jetzt sieht man das alles lockerer, an den Schranken herrscht allmählich wieder der Rhythmus von Süd-Bahia, bei dem alles etwas langsamer und lässiger zugeht. Noch ein paar Tage, dann wird Joachim Löw den letzten seiner täglichen Strand- läufe unternommen haben, dann werden die Leute, die hinter dem Zaun wohnen, ihre Sachen packen und verschwinden – vermutlich auf Nimmerwiedersehen.
Thomas Müller und seine Mannschaftskollegen verlassen das Traningscamp in Süd-Bahia.
Dass die deutschen Spieler in diesem Leben noch mal zurückkehren werden ins Campo Bahia, das ist unwahrscheinlich. Dass sie sich aber künftig mit einiger Sehnsucht und Wehmut an ihr brasilianisches WM-Quartier erinnern werden, das ist ebenfalls anzunehmen. Sie brauchen ihre Erinnerungen nicht mal zu verklären, selbst in der erlebten Gegenwart ist es schön in Santo André. So eine gute Unterkunft hat Deutschlands Nationalmannschaft noch nie gehabt, das stellt jetzt nicht nur Oliver Bierhoff fest, der Entdecker des Reiseziels und Initiator des Unternehmens. Das bestätigen auch die, die eigentlich keine Ahnung davon haben, dafür aber die nötige Begeisterungsfähigkeit mitbringen, etwa der schlaue Mönchengladbacher Christoph Kramer: „Wir haben das beste WM-Quartier aller 32 Mannschaften.“ Und das sagt auch einer, der es bestens beurteilen kann, weil er das nötige historische Wissen besitzt: Wolfgang Niersbach, der DFB-Präsident, der seit 1982 bei jeder deutschen WM dabei war, zieht den ehrenwerten Vergleich mit Erba, dem Hotel am Comer See von 1990, das in der Ahnengalerie der DFB-Unterkünfte den höchsten Adelsrang hat, weil es am Ende mit dem Titelgewinn verziert wurde. Was dem Campo Bahia ja auch noch widerfahren kann.
Die deutschen Fußballer haben schon an schlimmen Orten gewohnt während der Fifa-Turniere, in Argentinien 1978 hatte man sie in die Einöde von Asochinga verfrachtet, bald erfuhren die Spieler, dass die indianische Übersetzung des Dorfnamens – „toter Hund“ – ihre volle Berechtigung hatte. „Da war weit und breit nichts, nur Langeweile“, hat Bernd Hölzenbein mal erzählt.
„In Santo André ist allerdings auch nichts los“, sagt nun Oliver Bierhoff in einem Tonfall, als ob er etwas zugeben müsste. Aber in Wahrheit weiß der DFB-Manager gar nicht, wovon er spricht. Die Leute vom DFB nehmen am Dorfleben von Santo André allenfalls vereinzelt teil, sie gehen nicht mal im Dorf spazieren, des- wegen hat Bierhoff auch keine Ahnung davon, dass es in dieser erstaunlichen Gemeinde eine höchst lebendige Dorf- Disco gibt, die am Wochenende und an Feiertagen bis in die Morgenstunden in Betrieb ist. Am Samstag hat immerhin der DFB-Koch Holger Stromberg vorbeigeschaut. Feiertage gibt es hier im Übrigen in undurchschaubarer Häufigkeit. Sie sind den katholischen Heiligen gewidmet, von denen es in Süd-Bahia deutlich mehr zu geben scheint als im Heiligen Rom.
Es findet auch noch ein anderes öffentliches Leben in Santo André statt. In den Strandlokalen, Restaurants und Gäste- häusern wird nach einem geheimen Rollenplan eine abendliche Happy Hour abgehalten, die eher Happy Night bzw. Party Night heißen müsste. Die Band, die dort aufspielt, ist immer dieselbe, sie wird von einem jungen Weltenbummler angeführt, den die Mädchen mögen, weil er schön singt und gut aussieht; und die Gesellschaft, die ihm zuhört, ist auch immer dieselbe: Brasilianer mit etwas Vermögen, die sich hier in der Stille niedergelassen haben; ein paar Intellektuelle; Einwanderer aus den USA und Europa; Deutsche, die ihr Geld in São Paulo verdient haben und übergesiedelt sind. Und neuerdings gehören zur Dorf-Bohème auch die Künstler, die hier im Dienst der Campo-Bahia-Investoren ihren Sommer verbringen, weil sie immer noch am Design der Bar des DFB-Quartiers arbeiten. Vermittelt hatte sie der Düsseldorfer Galerist Helge Achenbach, über den zuletzt auch einiges in den Zeitungen zu lesen war: Achenbach, einst Fortuna-Präsident, wurde geradewegs in U-Haft genommen, nachdem er aus Brasilien kommend wieder in Deutschland gelandet war. Was aber nichts mit seiner Tätigkeit im Campo Bahia zu tun hatte, dort war auch er nur Auftragnehmer.
Die Bartenderin, die hinter der künstlerisch gestalteten Theke arbeitet, ist Deutsch-Brasilianerin und kam auf Vermittlung einer Agentur zu dem Job im Fußballer-Camp. Sie mixe, versichert sie energisch, nur Fruchtcocktails für die Spieler. Es gibt Gerüchte im Dorf, dass nach dem 4:0-Sieg gegen Portugal ein bisschen zu intensiv gefeiert wurde, und dass der Bundestrainer daraufhin ein Alkoholverbot erlassen habe. Bierhoff dementiert zumindest Letzteres: „Es gibt kein Verbot, abends ein Bier oder ein Glas Wein ist kein Problem“, sagt er. Die Spieler heutzutage seien ohnehin anders als zu seiner Zeit. Auf der koreanischen Insel Jeju fanden 2002 unter Rudi Völlers gütiger Aufsicht regelmäßig durchaus heftige Feiern statt, „aber hier ist die Ausgelassenheit noch nicht so da“, der ganze Tross sei friedlicher als üblich. „Die Betreuer sitzen sonst ja immer bis zwölf an der Bar, aber das ist hier anders, die gehen auch um zehn ins Bett“, erzählt Bierhoff.
Die tropische Atmosphäre mag ihren Teil zur Trägheit beitragen, die Nacht beginnt spätestens um halb sieben. Kann sein, dass die Bewohner des Campo aber auch nur erschöpft sind nach einem ganzen Tag des ständigen Miteinanders. Man müsse es sich „wie im Asterix-Dorf vorstellen“. Alles findet im Freien statt und alles auf einem Fleck, Unterhaltungen, Behandlungen, Besprechungen, Sport, Freizeit, Lukas Podolskis Albernheiten. Nach außen ist man abgeschottet, nach innen offen. „Wir sind ein Riesenteam, weil jeder jeden ständig sieht“, wie ein Betreuer es begeistert schildert. Am freien Tag nach den Spielen dürfen neben Frauen und Kindern auch die Funktionäre kommen (und werden nicht als störend empfunden). Durchs traute Bild fährt dann vielleicht wieder der „Lummerland-Express“, der Materialtransporter von Busfahrer Hochfellner, das einzige Automobil auf dem 14000 Quadratmeter-Areal. Und hinter der Palme versteckt sich womöglich gerade wieder der Spieler X (Name bekannt), um eine Zigarette zu rauchen.
Fragt man die Trainer und Spieler, was sie vom Campo halten, hört man Worte wie „unser Ruhepol“ (Jérôme Boateng), „extremer Wohlfühlfaktor“ (Joachim Löw) oder „perfekt“ (Manuel Neuer). Die Fußballübertragungen gibt’s im Bar-Kino als Gemeinschaftsprogramm, abends in den Zimmern findet Fernsehen bloß noch im Nachtprogramm von ARD und ZDF statt: „Mit Kultur- und Landschaftsbildern“, wie Neuer spottet, „das kann man vielleicht brauchen, wenn man zum Yoga geht.“ Und der Lagerkoller? „Ich habe es zunächst ja nur auf dem Papier gesehen, da dachte ich, es könnte zu eng sein. Aber dann hat unser Psychologe Hans-Dieter Herrmann gesagt: Es kann nicht eng genug sein“, erzählt Bierhoff.
Als er, Löw und der DFB sich fürs Campo entschieden, war das Quartier nicht viel mehr als eine schöne Phantasie. Der Bau zog sich hin, es gab Anlass zur Unruhe. „Ich gebe zu“, sagt Bierhoff, „eine Woche, bevor wir hier ankamen, dachte ich: Es ist ein heißes Spiel!“ Die Vorberichte der Medien waren nach deutscher Art von Schreckensszenarien bestimmt. Als „Invasoren“ sähe man die Deutschen, „hinter der Fassade des Fischerdorfes gärt es“, so hieß es in einem Nachrichtenmagazin, das außerdem versprach, Löw und sein Team „sollten sich auf Straßensperren der Indianer einstellen“. Am Sonntag war tatsächlich eine Gruppe vom Stamm der Pataxo-Indianer am Campo. Sie überreichten Löw und Kapitän Philipp Lahm Pfeil und Bogen und andere Geschenke.
Thomas Müller und seine Mannschaftskollegen verlassen das Traningscamp in Süd-Bahia.
Dass die deutschen Spieler in diesem Leben noch mal zurückkehren werden ins Campo Bahia, das ist unwahrscheinlich. Dass sie sich aber künftig mit einiger Sehnsucht und Wehmut an ihr brasilianisches WM-Quartier erinnern werden, das ist ebenfalls anzunehmen. Sie brauchen ihre Erinnerungen nicht mal zu verklären, selbst in der erlebten Gegenwart ist es schön in Santo André. So eine gute Unterkunft hat Deutschlands Nationalmannschaft noch nie gehabt, das stellt jetzt nicht nur Oliver Bierhoff fest, der Entdecker des Reiseziels und Initiator des Unternehmens. Das bestätigen auch die, die eigentlich keine Ahnung davon haben, dafür aber die nötige Begeisterungsfähigkeit mitbringen, etwa der schlaue Mönchengladbacher Christoph Kramer: „Wir haben das beste WM-Quartier aller 32 Mannschaften.“ Und das sagt auch einer, der es bestens beurteilen kann, weil er das nötige historische Wissen besitzt: Wolfgang Niersbach, der DFB-Präsident, der seit 1982 bei jeder deutschen WM dabei war, zieht den ehrenwerten Vergleich mit Erba, dem Hotel am Comer See von 1990, das in der Ahnengalerie der DFB-Unterkünfte den höchsten Adelsrang hat, weil es am Ende mit dem Titelgewinn verziert wurde. Was dem Campo Bahia ja auch noch widerfahren kann.
Die deutschen Fußballer haben schon an schlimmen Orten gewohnt während der Fifa-Turniere, in Argentinien 1978 hatte man sie in die Einöde von Asochinga verfrachtet, bald erfuhren die Spieler, dass die indianische Übersetzung des Dorfnamens – „toter Hund“ – ihre volle Berechtigung hatte. „Da war weit und breit nichts, nur Langeweile“, hat Bernd Hölzenbein mal erzählt.
„In Santo André ist allerdings auch nichts los“, sagt nun Oliver Bierhoff in einem Tonfall, als ob er etwas zugeben müsste. Aber in Wahrheit weiß der DFB-Manager gar nicht, wovon er spricht. Die Leute vom DFB nehmen am Dorfleben von Santo André allenfalls vereinzelt teil, sie gehen nicht mal im Dorf spazieren, des- wegen hat Bierhoff auch keine Ahnung davon, dass es in dieser erstaunlichen Gemeinde eine höchst lebendige Dorf- Disco gibt, die am Wochenende und an Feiertagen bis in die Morgenstunden in Betrieb ist. Am Samstag hat immerhin der DFB-Koch Holger Stromberg vorbeigeschaut. Feiertage gibt es hier im Übrigen in undurchschaubarer Häufigkeit. Sie sind den katholischen Heiligen gewidmet, von denen es in Süd-Bahia deutlich mehr zu geben scheint als im Heiligen Rom.
Es findet auch noch ein anderes öffentliches Leben in Santo André statt. In den Strandlokalen, Restaurants und Gäste- häusern wird nach einem geheimen Rollenplan eine abendliche Happy Hour abgehalten, die eher Happy Night bzw. Party Night heißen müsste. Die Band, die dort aufspielt, ist immer dieselbe, sie wird von einem jungen Weltenbummler angeführt, den die Mädchen mögen, weil er schön singt und gut aussieht; und die Gesellschaft, die ihm zuhört, ist auch immer dieselbe: Brasilianer mit etwas Vermögen, die sich hier in der Stille niedergelassen haben; ein paar Intellektuelle; Einwanderer aus den USA und Europa; Deutsche, die ihr Geld in São Paulo verdient haben und übergesiedelt sind. Und neuerdings gehören zur Dorf-Bohème auch die Künstler, die hier im Dienst der Campo-Bahia-Investoren ihren Sommer verbringen, weil sie immer noch am Design der Bar des DFB-Quartiers arbeiten. Vermittelt hatte sie der Düsseldorfer Galerist Helge Achenbach, über den zuletzt auch einiges in den Zeitungen zu lesen war: Achenbach, einst Fortuna-Präsident, wurde geradewegs in U-Haft genommen, nachdem er aus Brasilien kommend wieder in Deutschland gelandet war. Was aber nichts mit seiner Tätigkeit im Campo Bahia zu tun hatte, dort war auch er nur Auftragnehmer.
Die Bartenderin, die hinter der künstlerisch gestalteten Theke arbeitet, ist Deutsch-Brasilianerin und kam auf Vermittlung einer Agentur zu dem Job im Fußballer-Camp. Sie mixe, versichert sie energisch, nur Fruchtcocktails für die Spieler. Es gibt Gerüchte im Dorf, dass nach dem 4:0-Sieg gegen Portugal ein bisschen zu intensiv gefeiert wurde, und dass der Bundestrainer daraufhin ein Alkoholverbot erlassen habe. Bierhoff dementiert zumindest Letzteres: „Es gibt kein Verbot, abends ein Bier oder ein Glas Wein ist kein Problem“, sagt er. Die Spieler heutzutage seien ohnehin anders als zu seiner Zeit. Auf der koreanischen Insel Jeju fanden 2002 unter Rudi Völlers gütiger Aufsicht regelmäßig durchaus heftige Feiern statt, „aber hier ist die Ausgelassenheit noch nicht so da“, der ganze Tross sei friedlicher als üblich. „Die Betreuer sitzen sonst ja immer bis zwölf an der Bar, aber das ist hier anders, die gehen auch um zehn ins Bett“, erzählt Bierhoff.
Die tropische Atmosphäre mag ihren Teil zur Trägheit beitragen, die Nacht beginnt spätestens um halb sieben. Kann sein, dass die Bewohner des Campo aber auch nur erschöpft sind nach einem ganzen Tag des ständigen Miteinanders. Man müsse es sich „wie im Asterix-Dorf vorstellen“. Alles findet im Freien statt und alles auf einem Fleck, Unterhaltungen, Behandlungen, Besprechungen, Sport, Freizeit, Lukas Podolskis Albernheiten. Nach außen ist man abgeschottet, nach innen offen. „Wir sind ein Riesenteam, weil jeder jeden ständig sieht“, wie ein Betreuer es begeistert schildert. Am freien Tag nach den Spielen dürfen neben Frauen und Kindern auch die Funktionäre kommen (und werden nicht als störend empfunden). Durchs traute Bild fährt dann vielleicht wieder der „Lummerland-Express“, der Materialtransporter von Busfahrer Hochfellner, das einzige Automobil auf dem 14000 Quadratmeter-Areal. Und hinter der Palme versteckt sich womöglich gerade wieder der Spieler X (Name bekannt), um eine Zigarette zu rauchen.
Fragt man die Trainer und Spieler, was sie vom Campo halten, hört man Worte wie „unser Ruhepol“ (Jérôme Boateng), „extremer Wohlfühlfaktor“ (Joachim Löw) oder „perfekt“ (Manuel Neuer). Die Fußballübertragungen gibt’s im Bar-Kino als Gemeinschaftsprogramm, abends in den Zimmern findet Fernsehen bloß noch im Nachtprogramm von ARD und ZDF statt: „Mit Kultur- und Landschaftsbildern“, wie Neuer spottet, „das kann man vielleicht brauchen, wenn man zum Yoga geht.“ Und der Lagerkoller? „Ich habe es zunächst ja nur auf dem Papier gesehen, da dachte ich, es könnte zu eng sein. Aber dann hat unser Psychologe Hans-Dieter Herrmann gesagt: Es kann nicht eng genug sein“, erzählt Bierhoff.
Als er, Löw und der DFB sich fürs Campo entschieden, war das Quartier nicht viel mehr als eine schöne Phantasie. Der Bau zog sich hin, es gab Anlass zur Unruhe. „Ich gebe zu“, sagt Bierhoff, „eine Woche, bevor wir hier ankamen, dachte ich: Es ist ein heißes Spiel!“ Die Vorberichte der Medien waren nach deutscher Art von Schreckensszenarien bestimmt. Als „Invasoren“ sähe man die Deutschen, „hinter der Fassade des Fischerdorfes gärt es“, so hieß es in einem Nachrichtenmagazin, das außerdem versprach, Löw und sein Team „sollten sich auf Straßensperren der Indianer einstellen“. Am Sonntag war tatsächlich eine Gruppe vom Stamm der Pataxo-Indianer am Campo. Sie überreichten Löw und Kapitän Philipp Lahm Pfeil und Bogen und andere Geschenke.