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Wo, bitte, geht es zum Masterplan?

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Viele unserer im Zentrum herausgeputzten Städte haben irgendwo in einer Flussschlaufe oder hinter einem Pappelvorhang Altersfalten. Dort staut sich Industrieschrott, Szenenkunst, Alternativwirtschaft. Die Frage lautet deswegen nun vielerorts: Soll das Areal bereinigt, durchorganisiert und gefördert werden, oder soll es im kreativen Chaos allein weiterwuseln? Die Stadtentwicklungsmodelle gehen da auseinander.



Die Notre Dame Kirche: Nur eine von vielen Sehnswürdigkeiten in Bordeaux.

Frankreich, dessen Regionalmetropolen im Zeichen der Dezentralisierung seit dreißig Jahren nun langsam doch aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen, bietet ein paar aufschlussreiche Beispiele. Bordeaux etwa, das mit seiner gesamten Innenstadt seit 2007 Weltkulturerbe ist und damit neben Sankt Petersburg das ausgedehnteste Objekt auf der Unesco-Liste darstellt. Seit gut zehn Jahren fiebert die Metropole an der Garonne danach, den Stadtraum um das Bijou der Weinhändlerpaläste herum mit einem vielfältigen Entwicklungsprogramm würdig zu erneuern. Die Stadt Lyon liefert ein anderes Beispiel, auch sie ist in der Altstadt rechtsufrig der Saône ein Unesco-Weltkulturerbe, ging aber deutlich früher ins Rennen der urbanen Erneuerung und ist mit ihrem 1969 gegründeten Agglomerationsverbund Grand Lyon heute in Entwicklungsgebieten wie Lyon-Confluence schon weit voran.

„Wir stehen heute auf halber Strecke des Programms“, sagt Benoît Bardet, Leiter des Maison de la Confluence, in dem die 2003 angelaufene Umgestaltung des 150 Hektar umfassenden ehemaligen Hafenviertels von Lyon am Zusammenfluss zwischen Rhone und Saône dokumentiert wird. Das Programm auf dem Dockareal mit Bauten von international so renommierten Architekten wie Christian de Portzamparc oder Massimiliano Fuksas ist weitgehend abgeschlossen. Auch das vom japanischen Architekten Kengo Kuma im Auftrag von Toshiba und dem französischen Baukonzern Bouygues dort entworfene Pilotprojekt aus Büros und Wohnungen, das mehr Energie produzieren als verbrauchen soll, ist im Rohbau fertig.

Gleichwohl hat sich das Gesamtkonzept seit den Anfängen verändert. Das vor elf Jahren auf dem Gebiet begonnene Wechselspiel aus Solitären und kompakten Quartieren einheitlicher Bauhöhe wird von den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron in ihrem Masterplan für die zweite Bauphase im südöstlichen Teil der Halbinsel nicht mehr aufgegriffen. Die restaurierten niedrigen Bauten des ehemaligen Großmarkts werden dort auch neben zwei Hochhäusern stehen. Am Südzipfel der Halbinsel Confluence plustert bereits das Musée des Confluences seine Blechschuppen auf. Das Museum von Coop Himmelb(l)au soll Ende dieses Jahres eingeweiht werden. Am Nordrand der Halbinsel längs des alten Hauptbahnhofs Lyon-Perrache, der das Gebiet von der Innenstadt abschneidet, baut der ortsansässige Architekt Thierry Roche zwei Gefängnisse aus dem 19. Jahrhundert zu einem Komplex aus Universität, Studenten- und Alterswohnheimen um. Interessant ist daran, wie die beiden unterschiedlichen Gefängnisstrukturen miteinander verbunden werden. Strebte der ältere Gefängnisteil mit seiner klosterartigen Anlage utopisch nach Bekehrung der Häftlinge, setzte der andere mit seinem strahlenförmig panoptischen Flügelbau ausschließlich auf Überwachung. Der Architekt lockert den Überwachungstrakt mit großen Glasfassaden auf und durchbricht die Klausen im anderen Teil mit Durchgängen und Stegen.

Die größte Schwierigkeit des neuen Stadtviertels für einmal 16000 Einwohner und 25000 Arbeitsplätze, das sich gern mit Großprojekten wie der Hamburger Hafencity vergleicht, ist indessen die Autobahn am Ostufer. Auf ihr donnern täglich hunderttausend Fahrzeuge vorbei. Ziel ist es nun, durch eine Westumfahrung der Stadt – ein Projekt von zwei Milliarden Euro – diese Achse in einen Boulevard zu verwandeln und so das Areal endgültig in die Innenstadt zurückzuholen.

Doch die Confluence-Halbinsel ist nur eines der vier Entwicklungsgebiete von Grand Lyon. Ein anderes ist das Viertel um den TGV-Durchgangsbahnhof Lyon-Part-Dieu. Diese auf eine durchgehende Betonfläche gestelzte Überbauung aus den 60er- und 70er-Jahren mit Verkehrsschneisen, Riesenparkplätzen und einem Großeinkaufszentrum steht beispielhaft für ein Stadtmodell, das hoffnungslos überholt scheint. Trotzdem haben sich die Pariser Architekten François Decoster, Djamel Klouche und Caroline Poulin für eine Konservierung der Bausubstanz entschieden. Das in monotonem Grau-Braun verwitterte Nebeneinander von Büroklötzen und Freiflächen soll durchgrünt und mit Konzepten wie „fußgängerfreundliche Böden“ oder „aktive Bausockel“ attraktiv gemacht werden. 650000 Quadratmeter neue Bürofläche sollen zu dem schon bestehenden Angebot von einer Million hinzukommen.

Braucht Lyon so viel Büroraum? Der Sprecher der Mission Lyon Part-Dieu beteuert, das Angebot der Metropole, die sich in einer Liga mit Barcelona, Mailand oder Frankfurt am Main sieht, sei weitgehend ausgelastet. Jedenfalls will das Part-Dieu-Viertel mit einem Bouquet von Hochhäusern der Stadt eine neue Skyline verpassen, legt zugleich aber Wert drauf, dank der Mischnutzung mit 2000 neuen Wohnungen und einem ansehnlichen Kulturangebot nicht einfach ein Abklatsch des Pariser Geschäftssatelliten La Défense zu werden. Zwei Millionen Einwohner umfasst der Ballungsraum Lyon, und der aus 58 Gemeinden bestehende Verbund Grand Lyon ist politisch wie wirtschaftlich und kulturell aktiv. Auch der in Frankreich gerade angekündigten großen Verwaltungsreform, die den nach der Französischen Revolution entstandenen Départements bis 2020 den Garaus machen will, ist Grand Lyon schon voraus. Bereits im kommenden Jahr wird Grand Lyon alle Kompetenzen des Départements Rhône übernehmen und den Stadtumbau selber steuern.

So weit ist man in Bordeaux nicht. Der Erneuerungsschub begann dort vor knapp zwanzig Jahren unter dem Bürgermeister Alain Juppé und beschleunigt sich seither zum Wettlauf der Projekte. Es galt zunächst, das geschlossene Stadtbild aus dem 18. Jahrhundert an der Garonne zum Fluss hin zu öffnen. Die rußgeschwärzte Stadtfassade wurde gereinigt und präsentiert sich heute längs des Quai in ihrer ganzen Pracht. Das ehemalige Hafen- und Industrieviertel auf dem gegenüberliegenden Flussufer, bis vor Kurzem noch ein Niemandsland, soll dem klassischen Stadtbild würdig Antwort geben. Mit dem Masterplan wurde das holländische Büro MVRDV von Winy Maas beauftragt. Ein paar neue Gebäude von unterschiedlicher Qualität stehen schon. Erschließung durch zeitgenössische Bauten und Pflege der alten folge in Bordeaux derselben Logik, betont die Stadtkulturdirektorin Brigitte Proucelle. So hat die Stadt ein Gremium geschaffen, das jedes Neubauprojekt in Hinsicht auf das Unesco-Erbe prüft. Die vor einem Jahr eingeweihte 70 Meter hohe Hebebrücke „Jacques Chaban-Delmas“ zwei Kilometer flussabwärts wurde in ihrem Design denn auch mehrmals retouchiert, bevor es zum Bau kam. Diese ständige Abgleichung zwischen Alt und Neu erspart der Stadt Konfliktsituationen wie jene, in die Dresden sich unlängst mit seiner neuen Waldschlösschenbrücke hineinmanövrierte.

Dass Bordeaux’ Ansatz weder Abstriche bei der architektonischen Qualität noch bei der urbanen Nutzbarkeit bedeutet, zeigt ein Gang durch die Stadt. Das am Nordrand der Stadt entstehende neue Fußballstadion vom Büro Herzog & de Meuron ist mit seinem rechtwinkligen Grundriss und seinen 644 weißen Stahlpfeilern eine kühne Übertragung der Ovalformen von Peking und München ins klassizistische Raster. Etwas weniger überzeugend mag der Erweiterungsbau des Stadtarchivs aussehen, den das holländische Architektenpaar Robbrecht und Daem in eine seitlich aufgeschlitzte ehemalige Lagerhalle des Industrieufers La Bastide einbaut. Interessant ist hingegen, was weiter nördlich passiert. Unmittelbar anschließend an die Massensiedlung Les Aubiers aus den frühen 70er-Jahren entsteht dort das neue Öko-Viertel „Ginko“ mit einem kleinteiligen und stilistisch vielfältigen Wohnbauprogramm. Im Unterschied zu Lyon und Paris hat Bordeaux seine Großsiedlungen vom Reißbrett nicht in die entlegene Vorstadt gebaut. Das Ensemble „Le Grand Parc“ liegt sogar sehr zentral und mutiert, vom Büro Lacaton & Vassal renoviert, gerade munter zum Vorzeigeobjekt ohne besondere soziale Probleme. Harte Kontraste und scharfe Bruchkanten liegen der Bürgerstadt Bordeaux nicht, die mit ihrer Lebensqualität seit einigen Jahren von überall her junge Leute aus den Kreativbereichen anzieht. Zwischen Pflastersteinambiente und smartem Betondesign macht sich ein neuer Lebensstil breit, der auch das Zeremoniell um die großen Châteaus in den „Wine Bars“ vorteilhaft mit leichteren Tropfen auflockert.

Am sympathischsten ist Bordeaux aber dort, wo es in seinem Entwicklungsprogramm Freiräume für Parallelinitiativen lässt. Im populären Wohnquartier um die spätgotische Kirche Saint-Michel, ein Wahrzeichen der Stadt, läuft seit drei Jahren ein umfassendes Stadtsanierungsprogramm. Statt die zunächst argwöhnische Bevölkerung bloß mit der üblichen Bürgerbefragung zu beruhigen, lässt die Regierung dort die Kunstaktivisten von der Gruppe Chahuts frei gewähren, die mit Happenings, improvisierten Textlesungen und Fotoinstallationen zusammen mit der Bevölkerung die Bauarbeiten kritisch begleitet. Chahuts verstehe sich jedoch nicht einfach als Missionar der kulturellen Bürgerbeteiligung, warnt die Gründerin Caroline Melon: Eher als verordnete Kulturdemokratie bräuchten die Stadtbürger heute Ansporn zur Selbstermächtigung.

Das genau passiert auf dem anderen Ufer der Garonne. Auf der Brache einer ehemaligen Militärkaserne ist dort die Vereinigung Darwin am Werk. Sie betreibt unter dem wohlwollenden Blick der Stadtregierung das, was sie „transgression positive“ nennt. Ausgehend von einer rechtmäßig erworbenen Grundstückparzelle breitet sie sich am Rand der Legalität mit einem ökologisch orientierten, aber wirtschaftlich knallharten Unternehmermodell auf dem Gebiet aus und hat schon 100 Kleinunternehmen in ihr Co-Working-Konzept eingebunden. Darwin habe erkannt, dass nicht die Größten und nicht die Intelligentesten, sondern die Anpassungsfähigsten sich im Existenzkampf durchsetzen, erklärt der Entwicklungsleiter Sylvain Barfety von „Darwin-Exosystème“. Für sein Surfen in der Halblegalität ist das Projekt im vergangenen Jahr mit dem vom französischen Architektenverband vergebenen Preis „Projets citoyens“ ausgezeichnet worden.

Lyon und Bordeaux zeigen also: Stadtumbau, einst großräumig am Reißbrett betrieben, läuft heute auf dem Terrain den Masterplänen davon, noch bevor deren Tinte ganz trocken ist. Wie feste Raster sich in flexible Muster auflösen können, das ist derzeit am Beispiel der Denkmalstadt Bordeaux besser als anderswo zu sehen – und auch zu lernen.

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