Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345

Bitte, committe dich

$
0
0
Jule Müller hat einen neuen Freund. Zumindest geht es stark in die Richtung. Sehr stark. „Ich will mich nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen“, sagt sie, „aber es fühlt sich alles ganz toll an.“ „Vergeben“ steht neben ihrem Profilfoto bei „imgegenteil.de“. Das ist die Steigerung von „sucht nicht mehr“. Ziel erreicht – in doppelter Hinsicht.



Das Dating-Portal "imgegenteil.de" ist ein professionalisierter Verkupplungsversuch zweier Freundinnen. Sie fotografieren und porträtieren alle User. 

Denn Jule Müller ist nicht einfach nur einer der etwa 80 Singles, die seit November 2013 für den Partner-Blog porträtiert worden sind – es ist ihr Blog: Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Anni Kralisch-Pehlke beschloss Jule Müller eines Nachts in einer Neuköllner Bar, ihre amateurhaften Verkupplungsversuche im Freundeskreis mithilfe des Internets zu professionalisieren. „Wir wollten etwas schaffen, woran wir Spaß haben, was aber im besten Fall nicht nur uns glücklich macht, sondern auch andere“, sagt Kralisch-Pehlke. Binnen einer Stunde stand das Konzept ihres Blogs: Müller fotografiert die Singles in ihren Wohnungen, Kralisch-Pehlke schreibt einen Text dazu. An den Start ging imgegenteil.de mit neun Singles aus ihrem Freundeskreis.

Das ist dann auch schon der Kern des Erfolgs von imgegenteil.de, der Grund dafür, dass Müller und Kralisch-Pehlke schon mehr als tausend Bewerbungen aus ganz Deutschland bekommen haben, die sie mit nur „minimaler Selektion“ abarbeiten: Man hat immer das Gefühl, dass hier Kumpels der Macherinnen angepriesen werden – mit dieser derben Berliner Herzlichkeit. Pro Woche sind es drei bis vier. Diese persönliche Note, das Liebevolle, Hausgemachte, das Idealistische und Schöne, hebt imgegenteil.de von klassischen Online-Dating-Plattformen ab. Ihr Ziel war ein Angebot, „wo Leute wie unsere Freunde mitmachen können, ohne sich zu schämen“. Gefallen hat die Seite auch der Jury der Lead Awards, die sie am Mittwoch in der Kategorie „Online Independent“ für den Medienpreis nominierte.

Noch können die beiden Gründerinnen von imgegenteil.de nicht leben, „aber wir sind sehr zuversichtlich, dass das bald klappt“, sagt Kralisch-Pehlke. 100000 bis 150000 Besucher hat die Seite pro Monat. Gleich am ersten Tag hat sich ein Investor aus San Francisco gemeldet, „seitdem kommen regelmäßig Internetmenschen aus dem In- und Ausland auf uns zu und halten uns relativ große Summen unter die Nase“. Zugegriffen haben sie bisher nicht, weil es noch nicht ganz gepasst hat. Geld verdienen steht nicht im Vordergrund ihrer Seite, auch wenn Selbstausbeutung dauerhaft keine Option sein wird. Deswegen sind die beiden Frauen in Gesprächen mit „mehreren großen Firmen“. Trotz Werbung soll die Seite auf jeden Fall „dezent und ästhetisch wertvoll“ bleiben. Kostenlos sowieso. Solange imgegenteil.de noch auf Partnersuche ist, müssen die beiden auf Erspartes zurückgreifen.

Anni Kralisch-Pehlke ist schon knapp fünf Jahre verheiratet. Sie lebt mit ihrem Mann in einer Berliner Altbauwohnung und findet, sie habe einfach Glück gehabt, dass aus der Clubaffäre durch einen Zufall Liebe wurde. „In der Großstadt hast du ja tausend Optionen“, sagt die 31-Jährige und verweist damit auf die Rastlosigkeit und Entscheidungsschwäche ihrer Altersgenossen, die der Singer-Songwriter Gisbert zu Knyphausen so wunderbar auf den Punkt bringt: „Mein Herz ist immer unterwegs / auf der Suche nach was Besserem und einer Liebe die mir steht / Denn in Gedanken sieht die Zukunft immer farbenfroh aus / doch sie liegt nie in dieser Stadt und auch nicht bei dir.“ Angebote wie die Dating-App Tinder, mit der man in Sekunden zig Singles begutachten kann, leisten dieser Unentschlossenheit Vorschub. Jule Müller nennt Typen, „die sich nicht committen können und wollen“, nur „Wurst-Männer“.

Die 32-Jährige hat einige davon kennengelernt. Vier Jahre war sie Single, und „dieses ewige Spielchen, den anderen im Unklaren darüber zu lassen, was man möchte“, hat sie endgültig satt. Ihr neuer Freund habe sie damit beeindruckt, „dass er sehr schnell sehr offen über seine Gefühle gesprochen hat, dass er mich super findet und es mit uns probieren möchte“, sagt sie. „Ich dachte fast: Da kann was nicht stimmen.“ Sie nimmt sich selbst von der Kritik gar nicht aus. „Wir sind schon auch selbst dran schuld, dass wir keinen Partner finden“, sagt Jule Müller. Sie glaubt, dass sich die Leute mehr Zeit nehmen müssen, Menschen kennenzulernen. „Ein bisschen Mut und Durchhaltevermögen“ brauche man in Liebesdingen, die Bereitschaft dazu gehe vielen ab, „wegen der enormen Auswahl an Menschen in der Großstadt und aus Angst vor Zurückweisung“.

Mehr noch als ein Blog ist imgegenteil.de also eine Diagnose: Bei aller oberflächlichen Unkonventionalität träumen auch tätowierte Hipster vom spießigen kleinen Glück – Zweisamkeit, gemeinsame Wohnung, Kinder. Sie stehen sich auf der Suche danach aber selbst im Weg. „Man will ja immer cool sein“, sagt Anni Kralisch-Pehlke, cool im Sinne von unangreifbar, sie meint das durchaus kritisch.

Trotzdem verstärkt imgegenteil.de diese Tendenz noch. Denn man erfährt viel über die – auffällig gleichförmige – Vintage-Wohnungseinrichtung der Porträtierten, über Lieblingsserien und Hassobjekte, aber nichts wirklich Intimes. Klar höre sie im Laufe der Interviews eine ganze Menge, „aber möchtest du, dass etwa deine Ängste öffentlich breitgetreten werden?“, gibt Kralisch-Pehlke zu bedenken. „Wir dürfen nicht vergessen: Es ist das Internet!“ Auch in der Ambivalenz dem Medium gegenüber ist imgegenteil.de ein Spiegel der Generation der 20- bis 40-Jährigen.

„Was mich wirklich bewegt, steht nicht in meinem Porträt“, sagt Anni, 25, eine Namensvetterin der imgegenteil.de-Gründerin, die sich im Frühjahr hat porträtieren lassen. Sie versteht Text und Fotos als „eine Art Teaser“. „Für mich war das eher eine Mutprobe“, sagt sie, jemanden kennenzulernen sei nur ein Nebeneffekt. „Mich hat interessiert, wie Jule und Anni mich darstellen.“ Und dann spricht sie doch noch über die Schwierigkeit, außerhalb von Clique und Stammbar jemanden zu treffen. „Das Commitment fehlt bei den Menschen. Alle daten alle, kaum einer hat Lust auf was Festes. Und darauf habe ich langsam keine Lust mehr.“ Sie spricht den imgegenteil.de-Macherinnen aus der Seele. „Wir haben keinen Bock, Leute zu porträtieren, die nur mal schnell über jemanden drüberrutschen wollen“, sagt Anni Kralisch-Pehlke. Imgegenteil.de meint es ernst mit der Liebe in Zeiten des Internets.

Und Jule Müller? Die ist überglücklich, dass ihr neuer Freund den ersten Schritt gemacht hat. Sie sei zu schüchtern. Die beiden kannten sich von ihren Fotos bei imgegenteil.de, waren sich jedoch nie begegnet, ihn hatte ein anderes Team porträtiert. Als Müller ihm die Bilder zur Abnahme schickte, begann er mit ihr zu flirten. Es sei auch schon vorgekommen, dass ein Single aus dem Blog in einer Bar auf sein Porträt angesprochen wurde, sagt Anni Kralisch-Pehlke. Auch entfernte Bekannte hätten sich mithilfe von imgegenteil.de schon ineinander verliebt: „Man sieht den Leuten ja nicht an, ob sie Single sind.“ Ihnen sei „egal, wie die Leute zusammenkommen. Hauptsache, sie kommen zusammen.“

Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345