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Alles aus Sorge

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Karlsruhe – An den Tag, als Lena abgeholt wurde, erinnert sich Nicole Seibel noch genau. Ein Abend im April 2013, der Fernseher lief leise, ihr Mann saß auf der Couch, und ihre Tochter Lena, damals drei Monate alt, schlief bereits. Plötzlich hörte Nicole Seibel ein Kratzen an der Haustür. Sekunden später stand die Polizei im Wohnzimmer der Familie. Ein Noteinsatz, um Lena zu holen: Das Kindeswohl sei dringend gefährdet. Die Eltern waren geschockt, dann packten sie eilig ein paar Sachen zusammen. Von ihrer Tochter verabschieden durften sie sich nicht.



Wenn das Jugendamt sein Wohl gefährdet sieht, darf das Jugendamt den Eltern ihr Kind wegnehmen.

Vorausgegangen war ein wochenlanger Streit mit dem Jugendamt Frankfurt. Die Wohnung sei in desolatem Zustand gewesen, die Stofftiere im Kinderbett riskant für einen Säugling, der Vorrat an Milchpulver zu gering: All das hatte die Jugendamtsmitarbeiter alarmiert. Dabei war Lena gut ernährt, altersgemäß entwickelt, sauber gekleidet. Trotzdem wurde das drei Monate alte Baby in eine Pflegefamilie gegeben. Dort blieb es vier Monate lang. Bis Rechtsanwalt Stefan Günther die Rückkehr Lenas in die Familie gerichtlich durchsetzte. Was den Anwalt besonders aufbringt: Die Eltern müssen vor der Herausnahme nicht angehört werden, die Einschätzung des Jugendamtes reiche aus, um die Familien fürs Erste zu trennen. „Bei einem derart schwerwiegenden Eingriff ist das zu wenig“, glaubt Günther. Er hat Verfassungsbeschwerde eingelegt.

Seine Chancen, in Karlsruhe zu gewinnen, dürften nicht schlecht stehen. Derzeit häufen sich die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen von Jugendämtern und Gerichten korrigiert – und zwar zugunsten der Eltern. Konfliktgeladene Fälle sind das, wie jener der Zwillinge, die nach der Geburt in Obhut genommen und schließlich in eine Pflegefamilie gegeben wurden. Zunächst im allseitigen Einverständnis, denn die Mutter war zu krank, der viel ältere Vater bereits zu betagt, um sich um die Kinder zu kümmern. Als die Eltern die Zwillinge später zurückforderten, sperrte sich das Jugendamt. Es kam zum Prozess, und am Ende entzog das Amtsgericht Hanau den Eltern wesentliche Teile ihres Sorgerechts, bestätigt schließlich durch das Oberlandesgericht Frankfurt. Karlsruhe kassierte die Entscheidung – die Gründe reichten nicht, um Eltern die Kinder wegzunehmen.

So hatte das Jugendamt die Gefährdung der Kinder unter anderem damit begründet, dass der Vater den Sohn mit Kuchen habe füttern wollen, und die Mutter der Tochter Glitzerarmbänder angezogen hatte – trotz Ermahnung durch die Pflegeeltern, das Kind werde die Glitzersteinchen in den Mund stecken.
Oder ein Fall aus Niedersachsen: Das Oberlandesgericht Celle entzog den getrennt lebenden Eltern weitgehend das Sorgerecht für die fünfzehnjährige Tochter. Ein Gutachter hatte eine „kindeswohlgefährdende symbiotische Beziehungsgestaltung“ zwischen Mutter und Tochter diagnostiziert.

Kindeswohlgefährdend? Nach dem Bericht einer Reha-Klinik, in der sie ein paar Wochen verbrachte, schien das Mädchen seine psychischen Probleme überwunden zu haben. Und ihr Englischlehrer beschrieb die Gymnasiastin als beliebte, bemerkenswert motivierte Schülerin; sogar eine „ beste Freundin“ habe sie.

Ausgangspunkt der Karlsruher Interventionen ist der hohe Rang des Elternrechts. „Eine Trennung der Kinder von ihren Eltern stellt den stärksten Eingriff in dieses Recht dar und unterliegt strenger verfassungsgerichtlicher Kontrolle“, schreiben die Richter. Sie sprechen eine mitunter bittere Wahrheit aus: „Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts des Staates, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen.“ Erst wenn das Fehlverhalten der Eltern ein solches Ausmaß erreiche, dass sich eine „erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ – erst dann darf der Staat den Eltern die Kinder wegnehmen.

Der Staat, das Jugendamt, die Gerichte: Schießen sie übers Ziel hinaus? Greifen sie zu früh in die Rechte der Eltern ein, weil sie nicht zu spät kommen wollen? Weil sie nicht warten wollen, bis wieder ein Kind in einem verwahrlosten Haushalt verhungert? Solche Fälle sitzen den Jugendämtern im Nacken: „Die Furcht ist da“, hat Günter Bär beobachtet, einer jener Anwälte, die erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt haben.

Aber mit Verallgemeinerungen muss man vorsichtig sein; in Karlsruhe landen nur die Fälle, in denen alles schiefgelaufen ist. Gewiss, die Zahl der „Inobhutnahmen“ ist gestiegen. Auch der Entzug des Sorgerechts kommt immer häufiger vor, eine Entwicklung, die durch die Änderung des Kinderschutzgesetzes vor neun Jahren angestoßen worden war. Nach Einschätzung von Christine Behringer-Zeis, Leiterin des Bamberger Jugendamts, spielen aber auch gesellschaftliche Veränderungen hinein: eine Zunahme von Suchtproblemen oder die wachsende Zahl überforderter Eltern. Inzwischen reagiere aber auch die Bevölkerung sensibler auf schwierige Verhältnisse bei Nachbarsfamilien. Wobei mancher zu schnell zum Telefon greift: Bei einem Drittel der zuletzt 16000 „Gefährdungseinschätzungen“ in Bayern haben die Jugendämter falschen Alarm festgestellt.

Außerdem: Die zentrale Botschaft der Karlsruher Entscheidungen lautet ja nicht, die Ämter müssten ganz die Finger von problematischen Familien lassen. Das Gericht mahnt vielmehr, zunächst „mildere“ Mittel zum Einsatz zu bringen: sozialpädagogische Betreuung, psychologische Hilfen, Unterstützung im Haushalt. Erst wenn ambulante Dienste wirkungslos bleiben, darf der Staat zum scharfen Schwert des Sorgerechtsentzugs greifen. In Bamberg sei dies der übliche Weg, sagt Christine Behringer-Zeis. Man biete zum Beispiel ein Haushaltstraining an oder bringe die Eltern – als erste Warnung – zum „Erörterungsgespräch“ mit dem Richter.

Hilfe vor Sorgerechtsentzug: Dass dieser Weg erfolgversprechend ist, zeigt inzwischen auch der Fall von Lena Seibel. Das Mädchen, das vergangenes Jahr von der Polizei abgeholt worden war, ist inzwischen fast neunzehn Monate alt, von Montag bis Freitag geht es in die Krippe. An zwei Tagen in der Woche ist eine Familienhelferin da. Sie begleitet Nicole Seibel und Lena in den Zoo, zum Schwimmen oder ins Café. „Sie haben mir auch bei der Wohnungseinrichtung geholfen“ sagt Seibel. Dennoch gibt es Meinungsverschiedenheiten. Lena ist oft krank, hat Durchfall, Kinderkrankheiten, zuletzt eine Gehirnerschütterung. Zu viel, finden die Familienhelferinnen. „Mit dem Amt stehen wir immer noch auf Kriegsfuß“ sagt Seibel. „Seit sie uns Lena weggenommen haben, ist das Vertrauen zerstört.“ Sie geht mit Lena zum Arzt, seit Kurzem auch zur Frühförderung, denn die Kleine will immer noch nicht laufen. Die Mutter, inzwischen 22 Jahre alt, arbeitet mit den Familienhelferinnen zusammen. „Geht ja nicht anders“ sagt sie und zuckt mit den Schultern. „Ich zieh’ das jetzt durch – und hoffe, dass wir irgendwann eine ganz normale Familie sein können.“

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