Es klang bedrohlich, was russische Nachrichtenagenturen am Sonntag vorab von einem Interview meldeten, das Präsident Wladimir Putin dem staatlichen Ersten Kanal gegeben hatte. Und Bedrohungen sind umso wirksamer, wenn sie die Phantasie anregen. „Es müssen umgehend substanzielle inhaltliche Verhandlungen anfangen“, forderte Putin, „nicht zu technischen Fragen, sondern zu Fragen der politischen Organisation der Gesellschaft und der Staatlichkeit im Südosten der Ukraine.“ Fragen der Staatlichkeit? Was er damit konkret meint, überließ Putin ebenso der Vorstellungskraft seiner Anhänger und Gegner wie die Frage, welches Gebiet er im Sinn hat, wenn er von der „Südostukraine“ spricht.
Was hat Putin vor?
Seit der Annexion der Krim im März fordert Moskau eine Föderalisierung der Ukraine – vorgeblich, um den überwiegend russischsprachigen Regionen im Osten und Süden mehr Eigenständigkeit zu geben. Die Regierung in Kiew hat ihre Bereitschaft bekundet, Macht abzugeben, möchte dafür aber ordentlich legitimierte Verhandlungspartner haben, die aus den Wahlen im Oktober hervorgehen sollen. Ob „Verhandlungen über die Staatlichkeit“ nur eine andere Formulierung für die alte Forderung nach Föderalisierung ist, oder ob Putin eine weitergehende Autonomie im Sinn hat, ließ er offen. Beispiele für andere Formen gibt es in Russlands Einflussgebiet einige: Die von Moskau unterstützte De-facto-Autonomie der Region in Transnistrien; die vorgeblich eigenständigen Staaten in den von Georgien abgetrennten Regionen Abchasien und Südossetien, und nicht zuletzt das Krim-Szenario mit Anschluss an Russland.
Der Schrecken über diese Formulierung war offenbar größer, als man im Kreml erwartet hatte. Noch am Nachmittag versuchte Putins Sprecher Dmitrij Peskow zu beruhigen: Moskau habe keineswegs vor, „Neurussland“ als eigenen Staat zu etablieren. Auch über diplomatische Kanäle versicherten die Russen westlichen Regierungen, es sei nicht ihre Absicht, die Region als Staat anzuerkennen.
In seinem angeblich bereits am Freitag aufgenommenen Interview forderte Putin noch einmal, dass Kiew die von Russland geförderten Separatisten als Verhandlungspartner anerkennt. Die anstehenden Wahlen sind da aus Moskauer Sicht eher ein Problem: Alle, die an diesem Wahlkampf teilnehmen, wollten ihre Entschlossenheit demonstrieren, sagte Putin. „Alle wollen zeigen, dass sie starke Mädels und Jungs sind.“ In solch einer „sich verschärfenden politischen Situation“ könne man nicht damit rechnen, dass Politiker für den Frieden eintreten.
Umkämpft waren im Osten der Ukraine lange nur die Städte Donezk und Luhansk und das Umland, bis in der vergangenen Woche Einheiten eine dritte Front im Süden aufmachten, die nach Einschätzung Kiews und seiner Unterstützer in Europa, den USA und der Nato aus regulären russischen Soldaten bestehen. Beobachtungen von Bürgern und Journalisten vor Ort bestätigten dieses Urteil.
Doch Putin nannte weder Donezk noch Luhansk beim Namen, noch verwendete er den Begriff „Neurussland“. Die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk erkennt Moskau bisher nicht an. Die aus dem 18. Jahrhundert stammende Bezeichnung Neurussland wird in russischen rechts-imperialistischen Kreisen für die Gebiete von Luhansk über Donezk, entlang des Schwarzen Meeres bis zur Republik Moldau gebraucht. Putin hatte sich diesen Begriff erstmals in seiner jährlichen Bürgersprechstunde im russischen Fernsehen im April zu eigen gemacht, zuletzt aber nicht mehr gebraucht. Erst in einer Botschaft an die Separatisten, die der Kreml in der Nacht auf Freitag verbreitete, hatte Putin wieder von Neurussland gesprochen und die Erfolge der prorussischen Einheiten im Kampf gegen die ukrainischen Streitkräfte gelobt.
Genau das trug bei den in Brüssel versammelten Staats- und Regierungschefs zum Entsetzen bei. Der Sondergipfel war einberufen worden, um die zwei Spitzenposten Ratspräsident und Hoher Repräsentant für Außenpolitik zu besetzen, doch zum wirklich schwierigen Thema wurde wieder einmal die Ukraine. Dabei trat der zum künftigen Ratspräsidenten bestimmte polnische Ministerpräsident Donald Tusk nicht als Hardliner auf, sondern eher als Kompromisssucher. Gegenüber Russland werde man einen mutigen Standpunkt einnehmen müssen, aber keinen radikalen, sagte Tusk vor Beginn der Beratungen über neue Sanktionen. Das klang ein bisschen vage, was durchaus der Stimmungslage in Brüssel entsprach.
Die dramatische Zuspitzung der Lage im Osten der Ukraine hat in der EU vor allem eines hervorgerufen: Ratlosigkeit. Die Gespräche in Minsk und vor allem der Handschlag von Kremlchef Wladimir Putin mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko hatten Hoffnungen auf eine zumindest leichte Entspannung beflügelt. Als dann klar wurde, dass Russland mit immer mehr eigenen Soldaten in der Ukraine eingreift und Putin ein Neurussland im Osten des Nachbarlandes propagiert, war das Entsetzen umso größer. „Absolut inakzeptabel“ sei das, sagte der britische Premierminister David Cameron. Eine Antwort der EU sei nötig.
Welche Antwort sich die Ukrainer wünschen, hörten die Gipfelteilnehmer vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko persönlich: eine weitere Verschärfung der vor einigen Wochen beschlossenen Sanktionen. Auf seiner Seite hatte er vor allem die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė, die in Brüssel die Meinung vertrat, Russland habe Europa praktisch den Krieg erklärt. Zum Gipfel brachte sie die Forderung mit, die EU-Staaten zum Export von Militärgütern in die Ukraine zu ermuntern. Durchsetzen konnte sie sich damit nicht. „Ich persönlich halte für Deutschland Waffenlieferungen für nicht angezeigt“, stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel klar. Denn: „Es gibt keine militärische Lösung des Konfliktes.“ Waffenlieferungen könnten den falschen Eindruck erwecken, dass dem doch so sei.
Eine ziemlich „breite Diskussion“, wie Merkel einräumte, gab es auch zur schließlich auf den Weg gebrachten Verschärfung der Ende Juli beschlossenen Wirtschaftssanktionen. Die Sanktionen hätten bisher nichts gebracht, monierte der Tscheche Bohuslav Sobotka, ein Sozialdemokrat. In einem System wie dem russischen werde über „Beschwernisse“ eben nicht offen gesprochen, gab Merkel zu bedenken.
„Wir sind sehr nah am point of no return“, warnte Poroschenko. Schon bald könne es zu einem Krieg im großen Maßstab kommen. Eine Befürchtung war das, die von seinen europäischen Kollegen durchaus geteilt wurde. Zur Ratlosigkeit trug auch das bei.
Was hat Putin vor?
Seit der Annexion der Krim im März fordert Moskau eine Föderalisierung der Ukraine – vorgeblich, um den überwiegend russischsprachigen Regionen im Osten und Süden mehr Eigenständigkeit zu geben. Die Regierung in Kiew hat ihre Bereitschaft bekundet, Macht abzugeben, möchte dafür aber ordentlich legitimierte Verhandlungspartner haben, die aus den Wahlen im Oktober hervorgehen sollen. Ob „Verhandlungen über die Staatlichkeit“ nur eine andere Formulierung für die alte Forderung nach Föderalisierung ist, oder ob Putin eine weitergehende Autonomie im Sinn hat, ließ er offen. Beispiele für andere Formen gibt es in Russlands Einflussgebiet einige: Die von Moskau unterstützte De-facto-Autonomie der Region in Transnistrien; die vorgeblich eigenständigen Staaten in den von Georgien abgetrennten Regionen Abchasien und Südossetien, und nicht zuletzt das Krim-Szenario mit Anschluss an Russland.
Der Schrecken über diese Formulierung war offenbar größer, als man im Kreml erwartet hatte. Noch am Nachmittag versuchte Putins Sprecher Dmitrij Peskow zu beruhigen: Moskau habe keineswegs vor, „Neurussland“ als eigenen Staat zu etablieren. Auch über diplomatische Kanäle versicherten die Russen westlichen Regierungen, es sei nicht ihre Absicht, die Region als Staat anzuerkennen.
In seinem angeblich bereits am Freitag aufgenommenen Interview forderte Putin noch einmal, dass Kiew die von Russland geförderten Separatisten als Verhandlungspartner anerkennt. Die anstehenden Wahlen sind da aus Moskauer Sicht eher ein Problem: Alle, die an diesem Wahlkampf teilnehmen, wollten ihre Entschlossenheit demonstrieren, sagte Putin. „Alle wollen zeigen, dass sie starke Mädels und Jungs sind.“ In solch einer „sich verschärfenden politischen Situation“ könne man nicht damit rechnen, dass Politiker für den Frieden eintreten.
Umkämpft waren im Osten der Ukraine lange nur die Städte Donezk und Luhansk und das Umland, bis in der vergangenen Woche Einheiten eine dritte Front im Süden aufmachten, die nach Einschätzung Kiews und seiner Unterstützer in Europa, den USA und der Nato aus regulären russischen Soldaten bestehen. Beobachtungen von Bürgern und Journalisten vor Ort bestätigten dieses Urteil.
Doch Putin nannte weder Donezk noch Luhansk beim Namen, noch verwendete er den Begriff „Neurussland“. Die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk erkennt Moskau bisher nicht an. Die aus dem 18. Jahrhundert stammende Bezeichnung Neurussland wird in russischen rechts-imperialistischen Kreisen für die Gebiete von Luhansk über Donezk, entlang des Schwarzen Meeres bis zur Republik Moldau gebraucht. Putin hatte sich diesen Begriff erstmals in seiner jährlichen Bürgersprechstunde im russischen Fernsehen im April zu eigen gemacht, zuletzt aber nicht mehr gebraucht. Erst in einer Botschaft an die Separatisten, die der Kreml in der Nacht auf Freitag verbreitete, hatte Putin wieder von Neurussland gesprochen und die Erfolge der prorussischen Einheiten im Kampf gegen die ukrainischen Streitkräfte gelobt.
Genau das trug bei den in Brüssel versammelten Staats- und Regierungschefs zum Entsetzen bei. Der Sondergipfel war einberufen worden, um die zwei Spitzenposten Ratspräsident und Hoher Repräsentant für Außenpolitik zu besetzen, doch zum wirklich schwierigen Thema wurde wieder einmal die Ukraine. Dabei trat der zum künftigen Ratspräsidenten bestimmte polnische Ministerpräsident Donald Tusk nicht als Hardliner auf, sondern eher als Kompromisssucher. Gegenüber Russland werde man einen mutigen Standpunkt einnehmen müssen, aber keinen radikalen, sagte Tusk vor Beginn der Beratungen über neue Sanktionen. Das klang ein bisschen vage, was durchaus der Stimmungslage in Brüssel entsprach.
Die dramatische Zuspitzung der Lage im Osten der Ukraine hat in der EU vor allem eines hervorgerufen: Ratlosigkeit. Die Gespräche in Minsk und vor allem der Handschlag von Kremlchef Wladimir Putin mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko hatten Hoffnungen auf eine zumindest leichte Entspannung beflügelt. Als dann klar wurde, dass Russland mit immer mehr eigenen Soldaten in der Ukraine eingreift und Putin ein Neurussland im Osten des Nachbarlandes propagiert, war das Entsetzen umso größer. „Absolut inakzeptabel“ sei das, sagte der britische Premierminister David Cameron. Eine Antwort der EU sei nötig.
Welche Antwort sich die Ukrainer wünschen, hörten die Gipfelteilnehmer vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko persönlich: eine weitere Verschärfung der vor einigen Wochen beschlossenen Sanktionen. Auf seiner Seite hatte er vor allem die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė, die in Brüssel die Meinung vertrat, Russland habe Europa praktisch den Krieg erklärt. Zum Gipfel brachte sie die Forderung mit, die EU-Staaten zum Export von Militärgütern in die Ukraine zu ermuntern. Durchsetzen konnte sie sich damit nicht. „Ich persönlich halte für Deutschland Waffenlieferungen für nicht angezeigt“, stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel klar. Denn: „Es gibt keine militärische Lösung des Konfliktes.“ Waffenlieferungen könnten den falschen Eindruck erwecken, dass dem doch so sei.
Eine ziemlich „breite Diskussion“, wie Merkel einräumte, gab es auch zur schließlich auf den Weg gebrachten Verschärfung der Ende Juli beschlossenen Wirtschaftssanktionen. Die Sanktionen hätten bisher nichts gebracht, monierte der Tscheche Bohuslav Sobotka, ein Sozialdemokrat. In einem System wie dem russischen werde über „Beschwernisse“ eben nicht offen gesprochen, gab Merkel zu bedenken.
„Wir sind sehr nah am point of no return“, warnte Poroschenko. Schon bald könne es zu einem Krieg im großen Maßstab kommen. Eine Befürchtung war das, die von seinen europäischen Kollegen durchaus geteilt wurde. Zur Ratlosigkeit trug auch das bei.