Es soll ja so etwas geben, dass sich jemand etwas in den Kopf setzt, wider alle Erfahrung und Vernunft, und dann wird die fixe Idee praktiziert, koste es, was es wolle. Im Leben geht schon der Versuch oft in die Irre. In den erzählenden Künsten haben solche Ideen größere Chancen. Das liegt zum einen daran, dass erfundene Gestalten mitsamt fixer Idee erfunden werden können, und zum anderen hat es damit zu tun, dass spätestens nach ein paar Stunden Schluss ist und alle Bewährungsproben, für die große Liebe etwa oder die finale Läuterung, in einem Nirgendwo jenseits des gefallenen Vorhangs stattfinden müssen. Eine gute Dramaturgie, prächtige Bilder, interessante Zeiten können sogar dafür sorgen, dass Leser oder Zuschauer erst eine Weile nach der Vorstellung merken, dass sie längst ins schwarze Loch der Abstraktion gefallen sind. Von drei Filmen im Wettbewerb des Filmfestivals in Venedig ist hier zu berichten, denen das leider nicht gelingt.
Eine sentimentale Abenteuergeschichte: "The Cut" von Fatih Akin.
Der erste ist „The Cut“ des Hamburger Regisseurs Fatih Akin, eine prächtige, für deutsche Verhältnisse auch teure Produktion, der ein großer Rumor vorausging. Der Film sei eine Auseinandersetzung mit dem Massenmord, hieß es, der in den Jahren 1915/16 im Osmanischen Reich an den Armeniern verübt worden sei. Aber das stimmt nicht. Die Geschichte beginnt zwar mit dem großen Schlachten, dem damals bis zu zwei Drittel der armenischen Bevölkerung des Reichs zum Opfer fielen, vor allem im Osten Anatoliens. Aber die Todesmärsche, die Lager und die Massenhinrichtungen dienen in diesem Film nur als – wenn auch ausführlich erzählter – Anlass eines ganz anderen Geschehens, nämlich der unendlich mühsamen und dann auch nur zum Teil gelingenden Zusammenführung einer Familie. „The Cut“ ist eine sentimentale Abenteuergeschichte vor geschichtlichem und vor allem sehr orientalischem Hintergrund, der sich nicht im Mindesten um historische Ableitungen, politische Auseinandersetzungen oder moralische Urteile schert. Gewiss, über den mordenden Soldaten weht der rote Halbmond. Aber sie hätten, ohne die eigentliche Intrige zu beschädigen, auch durch die Ustascha oder die Truppen des Imperators Palpatine ersetzt werden können.
Vielleicht ist die radikale Entpolitisierung der Preis dafür, überhaupt einen Publikumsfilm zu drehen, in dem der Massenmord an den Armeniern zum Gegenstand wird – zumal von einem Regisseur, der aus einer Familie türkischer Einwanderer stammt: Fatih Akin empfing schließlich, schon lange bevor der Film irgendwo zu sehen war, Drohungen türkischer Nationalisten. Aber ist der Preis nicht etwas zu hoch? Oder war es umgekehrt, so nämlich, dass das Bedürfnis, einen Publikumsfilm zu drehen, von vornherein alles intellektuelle Potenzial zum Erlöschen brachte? Über gut zehn Jahre erstreckt sich die Geschichte, in der Nazaret, der junge Schmied aus Mardin (Tahar Radim), nach dem großen Morden nach seinen beiden Töchtern sucht, und auch wenn am Ende ein paar weiße Strähnen in seine dunklen Locken geflochten sind, so behält er doch, allen Strapazen zum Trotz, dasselbe Gesicht und dieselbe Statur, und immer wieder blickt er den Zuschauer mit seinen schönen, milden, dunklen Knopfaugen an. Wenn er zu Beginn, in dem Idyll, das der Katastrophe vorausgeht, seine Kinder liebkost, so tut er das auf dem Niveau einer Vorabendserie, und wenn er auf seiner langen Reise von einem Seifenfabrikanten aufgelesen wird, dann trifft er auf einen weisen alten Mann wie aus einem orientalischen Märchen.
Es sind Bilder der Wanderschaft und Genreszenen, die diesen Film beherrschen. Immer ist Nazaret unterwegs, manchmal mit, manchmal ohne Ranzen, manchmal mit, manchmal ohne Schuhe, manchmal mit, manchmal ohne Bart. Er läuft, so weit die Füße tragen, auf sich windenden Schotterstraßen, auf Eisenbahngleisen, über Hügelrücken im Gegenlicht. Dazu spielen gelegentlich ein paar elektrische Gitarren mit viel Hall nach Motiven aus der armenischen Volksmusik. Und Aleppo sieht aus, wie man sich das historische Aleppo vorstellt, und Havanna tut das auch, und in North Dakota ist der Wilde Westen zu Hause, was sonst. Das Exotische ist hier Kolorit, und es wird nicht plausibler dadurch, dass in diesem Film alle Völker in ihren Sprachen reden dürfen, aber nur die Armenier die einzig internationale Sprache sprechen müssen: schlechtes Englisch. Das muss vielleicht so sein, denn das Herz spricht ja ebenfalls nur eine Sprache, und auch sie ist universal. Aber so kommt es, dass sich der Zuschauer schon lange vor dem finalen Wiedersehen des Eindrucks nicht erwehren kann, einem Unternehmen wider Erfahrung und Vernunft beizuwohnen, der fixen Idee eines historisch brisanten Abenteuerfilms, und die Schönheit der Landschaften mildert diese Wirkung nicht. Im Gegenteil: Spätestens bei der letzten Umarmung auf einem Friedhof in verschneiter Prärie stellt sich dringend die Frage, was die beiden Sympathieträger jetzt wohl miteinander anfangen werden.
Die fixe Idee, der zwei nicht mehr ganz junge, aber doch eher wohlhabende Damen aus der kleinen Stadt Valence im Südosten Frankreichs anhängen, ist ein Mann. Von Beruf inspiziert er Steuern, und auch sonst gäbe es, abgesehen vielleicht von einer gewissen Bereitschaft zur Empathie gegenüber Frauen, nicht viel Bemerkenswertes über ihn zu sagen. In „3 cœurs“ („3 Herzen“), einem Film des französischen Regisseurs Benoît Jacquot, verpasst eben jener Inspektor (Benoît Poelvoorde) den letzten Zug nach Paris, bleibt bis zum nächsten Morgen in der Provinz hängen und lernt auf einem langen Spaziergang durch die Nacht seine Zufallsbekanntschaft Sylvie (Charlotte Gainsbourg) kennen und schätzen. Da dies auf Gegenseitigkeit beruht, kommt es zu einer Verabredung in Paris, zu der aber der Held aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstande zu spät kommt, worauf er sich wieder in die Provinz begibt, dort aber zufällig nicht auf Sylvie trifft, sondern auf deren Schwester Sophie (Chiara Mastroianni). Und so nimmt eine Intrige ihren Lauf, in der es Zufälle hagelt wie in einer „opera buffa“ – und das alles offenbar nur, um eine nicht besonders komische, sondern eher tragische Idee zu befördern: die melodramatische Vorstellung der unbedingten (auch im Sinne von: grundlosen) Liebe, um derentwillen bürgerliche Existenzen zerstört, Kinder verlassen und Menschen fast um den Verstand gebracht werden. Doch weil dies ein französischer Film ist und der Salon keine Katastrophen duldet, sind die Folgen beherrschbar und die Darsteller sympathisch.
Die dritte fixe Idee heißt Clara. Einst, behauptet der amerikanische Regisseur David Gordon Green in seinem Film „Manglehorn“, war sie die Geliebte von A. J. Manglehorn, doch scheiterte das Verhältnis am Unvermögen des Helden, sich, wie es im Film so schön heißt, „zu öffnen“. Jetzt sind vierzig Jahre vergangen, und der alte Manglehorn betreibt passenderweise einen Schlüsseldienst in einer texanischen Kleinstadt. Die Tage gehen dahin, während der Held jeden Tag an seine verlorene Liebe schreibt, die Briefe ungeöffnet zurückbekommt und ansonsten als Misanthrop, Zyniker und Anwalt des einfachen, aber ehrlichen Lebens durch eine Welt zieht, die hauptsächlich aus armen Vororten, Imbissbuden und alten, aber moderat schrägen Figuren besteht. Selbstverständlich wird der graue Wolf von allerhand Versuchen heimgesucht, ihn wieder zu einem halbwegs guten Menschen machen – und selbstverständlich gelingt das auch: Denn die Metapher muss ja aufgelöst und das Herz des großen Schlossöffners selber aufgeschlossen werden. Das wäre nichts weiter als noch eine amerikanische, wider alle Erfahrung und Vernunft angelegte Läuterungsphantasie, wenn A.J.Manglehorn nicht einen Darsteller hätte, bei dem es fast gleichgültig ist, welchen allegorischen Blödsinn er spielt: Leicht und angenehm wäre es, Al Pacino noch viel länger zuzuschauen als nur die eineinhalb Stunden, die dieser Film währt.
Eine sentimentale Abenteuergeschichte: "The Cut" von Fatih Akin.
Der erste ist „The Cut“ des Hamburger Regisseurs Fatih Akin, eine prächtige, für deutsche Verhältnisse auch teure Produktion, der ein großer Rumor vorausging. Der Film sei eine Auseinandersetzung mit dem Massenmord, hieß es, der in den Jahren 1915/16 im Osmanischen Reich an den Armeniern verübt worden sei. Aber das stimmt nicht. Die Geschichte beginnt zwar mit dem großen Schlachten, dem damals bis zu zwei Drittel der armenischen Bevölkerung des Reichs zum Opfer fielen, vor allem im Osten Anatoliens. Aber die Todesmärsche, die Lager und die Massenhinrichtungen dienen in diesem Film nur als – wenn auch ausführlich erzählter – Anlass eines ganz anderen Geschehens, nämlich der unendlich mühsamen und dann auch nur zum Teil gelingenden Zusammenführung einer Familie. „The Cut“ ist eine sentimentale Abenteuergeschichte vor geschichtlichem und vor allem sehr orientalischem Hintergrund, der sich nicht im Mindesten um historische Ableitungen, politische Auseinandersetzungen oder moralische Urteile schert. Gewiss, über den mordenden Soldaten weht der rote Halbmond. Aber sie hätten, ohne die eigentliche Intrige zu beschädigen, auch durch die Ustascha oder die Truppen des Imperators Palpatine ersetzt werden können.
Vielleicht ist die radikale Entpolitisierung der Preis dafür, überhaupt einen Publikumsfilm zu drehen, in dem der Massenmord an den Armeniern zum Gegenstand wird – zumal von einem Regisseur, der aus einer Familie türkischer Einwanderer stammt: Fatih Akin empfing schließlich, schon lange bevor der Film irgendwo zu sehen war, Drohungen türkischer Nationalisten. Aber ist der Preis nicht etwas zu hoch? Oder war es umgekehrt, so nämlich, dass das Bedürfnis, einen Publikumsfilm zu drehen, von vornherein alles intellektuelle Potenzial zum Erlöschen brachte? Über gut zehn Jahre erstreckt sich die Geschichte, in der Nazaret, der junge Schmied aus Mardin (Tahar Radim), nach dem großen Morden nach seinen beiden Töchtern sucht, und auch wenn am Ende ein paar weiße Strähnen in seine dunklen Locken geflochten sind, so behält er doch, allen Strapazen zum Trotz, dasselbe Gesicht und dieselbe Statur, und immer wieder blickt er den Zuschauer mit seinen schönen, milden, dunklen Knopfaugen an. Wenn er zu Beginn, in dem Idyll, das der Katastrophe vorausgeht, seine Kinder liebkost, so tut er das auf dem Niveau einer Vorabendserie, und wenn er auf seiner langen Reise von einem Seifenfabrikanten aufgelesen wird, dann trifft er auf einen weisen alten Mann wie aus einem orientalischen Märchen.
Es sind Bilder der Wanderschaft und Genreszenen, die diesen Film beherrschen. Immer ist Nazaret unterwegs, manchmal mit, manchmal ohne Ranzen, manchmal mit, manchmal ohne Schuhe, manchmal mit, manchmal ohne Bart. Er läuft, so weit die Füße tragen, auf sich windenden Schotterstraßen, auf Eisenbahngleisen, über Hügelrücken im Gegenlicht. Dazu spielen gelegentlich ein paar elektrische Gitarren mit viel Hall nach Motiven aus der armenischen Volksmusik. Und Aleppo sieht aus, wie man sich das historische Aleppo vorstellt, und Havanna tut das auch, und in North Dakota ist der Wilde Westen zu Hause, was sonst. Das Exotische ist hier Kolorit, und es wird nicht plausibler dadurch, dass in diesem Film alle Völker in ihren Sprachen reden dürfen, aber nur die Armenier die einzig internationale Sprache sprechen müssen: schlechtes Englisch. Das muss vielleicht so sein, denn das Herz spricht ja ebenfalls nur eine Sprache, und auch sie ist universal. Aber so kommt es, dass sich der Zuschauer schon lange vor dem finalen Wiedersehen des Eindrucks nicht erwehren kann, einem Unternehmen wider Erfahrung und Vernunft beizuwohnen, der fixen Idee eines historisch brisanten Abenteuerfilms, und die Schönheit der Landschaften mildert diese Wirkung nicht. Im Gegenteil: Spätestens bei der letzten Umarmung auf einem Friedhof in verschneiter Prärie stellt sich dringend die Frage, was die beiden Sympathieträger jetzt wohl miteinander anfangen werden.
Die fixe Idee, der zwei nicht mehr ganz junge, aber doch eher wohlhabende Damen aus der kleinen Stadt Valence im Südosten Frankreichs anhängen, ist ein Mann. Von Beruf inspiziert er Steuern, und auch sonst gäbe es, abgesehen vielleicht von einer gewissen Bereitschaft zur Empathie gegenüber Frauen, nicht viel Bemerkenswertes über ihn zu sagen. In „3 cœurs“ („3 Herzen“), einem Film des französischen Regisseurs Benoît Jacquot, verpasst eben jener Inspektor (Benoît Poelvoorde) den letzten Zug nach Paris, bleibt bis zum nächsten Morgen in der Provinz hängen und lernt auf einem langen Spaziergang durch die Nacht seine Zufallsbekanntschaft Sylvie (Charlotte Gainsbourg) kennen und schätzen. Da dies auf Gegenseitigkeit beruht, kommt es zu einer Verabredung in Paris, zu der aber der Held aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstande zu spät kommt, worauf er sich wieder in die Provinz begibt, dort aber zufällig nicht auf Sylvie trifft, sondern auf deren Schwester Sophie (Chiara Mastroianni). Und so nimmt eine Intrige ihren Lauf, in der es Zufälle hagelt wie in einer „opera buffa“ – und das alles offenbar nur, um eine nicht besonders komische, sondern eher tragische Idee zu befördern: die melodramatische Vorstellung der unbedingten (auch im Sinne von: grundlosen) Liebe, um derentwillen bürgerliche Existenzen zerstört, Kinder verlassen und Menschen fast um den Verstand gebracht werden. Doch weil dies ein französischer Film ist und der Salon keine Katastrophen duldet, sind die Folgen beherrschbar und die Darsteller sympathisch.
Die dritte fixe Idee heißt Clara. Einst, behauptet der amerikanische Regisseur David Gordon Green in seinem Film „Manglehorn“, war sie die Geliebte von A. J. Manglehorn, doch scheiterte das Verhältnis am Unvermögen des Helden, sich, wie es im Film so schön heißt, „zu öffnen“. Jetzt sind vierzig Jahre vergangen, und der alte Manglehorn betreibt passenderweise einen Schlüsseldienst in einer texanischen Kleinstadt. Die Tage gehen dahin, während der Held jeden Tag an seine verlorene Liebe schreibt, die Briefe ungeöffnet zurückbekommt und ansonsten als Misanthrop, Zyniker und Anwalt des einfachen, aber ehrlichen Lebens durch eine Welt zieht, die hauptsächlich aus armen Vororten, Imbissbuden und alten, aber moderat schrägen Figuren besteht. Selbstverständlich wird der graue Wolf von allerhand Versuchen heimgesucht, ihn wieder zu einem halbwegs guten Menschen machen – und selbstverständlich gelingt das auch: Denn die Metapher muss ja aufgelöst und das Herz des großen Schlossöffners selber aufgeschlossen werden. Das wäre nichts weiter als noch eine amerikanische, wider alle Erfahrung und Vernunft angelegte Läuterungsphantasie, wenn A.J.Manglehorn nicht einen Darsteller hätte, bei dem es fast gleichgültig ist, welchen allegorischen Blödsinn er spielt: Leicht und angenehm wäre es, Al Pacino noch viel länger zuzuschauen als nur die eineinhalb Stunden, die dieser Film währt.