Dieses Buch beginnt mit einem Ende. Der Mann der vielen Namen, der Schwert des Königs heißt, junger Falke, Dunkelklinge, zumeist und für sich selbst aber Vaelin Al Sorna, ist in die Hände seiner Feinde gefallen. Für sie ist er, da er ihren Kronprinzen in der Schlacht niedergehauen hat, der „Hoffnungstöter“; seit vielen Jahren sitzt er schon in Haft. Dort tritt ihm der Geschichtsschreiber des Feindesreichs gegenüber, ein kultivierter, taktvoller Mann, und bittet ihn, seine Geschichte aufschreiben zu dürfen.
Das erweist sich als ein langwieriger, widerspruchsvoller Vorgang, denn sein Gegenüber wappnet sein Herz und wahrt seine Geheimnisse. Nur so viel ist klar, dass der Statthalter der Provinz, die der Hoffnungstöter erobert hatte, dessen beschlagnahmtes Schwert sorgsam aufbewahrt und mit dem besten Waffenöl gepflegt hat, um es ihm nun mit scheuem Dank für seine strenge Rechtlichkeit zurückzugeben. Was ist das für ein Mann, der so viel Hass und Ehrfurcht auf sich zieht?
Willkommen in der Welt von „Blood Song“. Es ist ein Fantasy-Roman von fast 800 Seiten Umfang – Fantasy-Fans sind bekanntlich wölfische Leser. Die Handlung spielt, wie gewohnt, in einem diffusen Mittelalter. Die politischen Verhältnisse gestalten sich feudal, das heißt, im Zentrum stehen die persönlichen Beziehungen, mit aller Pietät und Rachsucht, die dazugehören. Und wie viele andere Werke des Genres hat sich auch das von Anthony Ryan von den zwei großen elitären Sozialverbänden des Mittelalters inspirieren lassen, den Mönchs- und den Ritterorden.
Shakespeare: Ideengeber für eine neue Art von Fantasy?
Und doch ist in diesem Buch etwas Neues verkörpert. Verabschiedet wird das klassische Grundmuster der „Quest“, das für die Fantasy-Literatur so typisch war, die Suche nach dem einen großen Schatz oder der Vorsatz zur entscheidenden Schlacht am Ende der Reise. Auf dem Weg dorthin wurde gern weidlich getrödelt, die Ereignisfolge verharrte im Episodisch-Beliebigen. Die Hauptfiguren entwickelten sich wenig; vor allem blieben sie nahezu anfechtungsfrei immer die Guten, während ihre Gegner so sehr damit beschäftigt waren, böse zu sein, dass sie wenig Gelegenheit zur Nuance hatten. So naht sich Stephen Kings Roland dem Dunklen Turm, so Harry Potter dem Endkampf mit Lord Voldemort; hier steckt auch die relative Schwäche des „Herrn der Ringe“. An die Stelle der kaleidoskopischen Abenteuerreihe setzt Ryan etwas anderes, das sich vielleicht als echte Geschichte bezeichnen ließe.
Beispiellos ist das nicht mehr. Das ganze Genre hat einen Aufschwung zur Komplexität genommen, seit die Fernsehserie „Game of Thrones“ des amerikanischen Senders HBO ihre Triumphe feiert. Zu verstehen ist diese Entwicklung nur vor dem Hintergrund der sich unablässig verändernden Wechselbeziehung der Medien Buch, Kino, Fernsehen (und als vierten Mitwirkenden muss man wohl die Computerspiele zählen). Sie bedrängen, aber sie verdrängen einander nicht.
Das hängt damit zusammen, wie diese verschiedenen Medien jeweils zu erzählen vermögen, genauer: wie sie Erzählung und Serialität miteinander verbinden. Dass das Kino den großen, abendfüllenden Solitär lieferte, bescherte ihm erst seinen Glanz und dann seine Krise. Es kam an einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr an gegen die Mühelosigkeit, mit der das Fernsehen seine Formate füllte: jeden Sonntag der gleiche Krimi. Mochten Mörder und Opfer wechseln – die Ermittler taten es nicht.
Dann ließ sich das Kino etwas entscheidend Neues einfallen: die Serie von mittlerer Länge und enger Zusammengehörigkeit der einzelnen Folgen, die nicht, wie das Fernsehen es machte, immer wieder bei null begannen, und zwar zu fester Sendezeit und mit vertrautem Personal, ihre Geschichten doch voraussetzungslos erzählten. Doch nun kam „Star Wars“, ein abendübergreifendes Gesamtwerk, das ähnlich wie die Werke Homers oder das Nibelungenlied strukturiert war, in einer endlichen Zahl von Kapiteln oder Gesängen, die nur verstand, wer sich das Vorangegangene gemerkt hatte.
Damit war ein neuer langer Spannungsbogen geboren, der packender wirkte als die Kurzatmigkeit des Fernsehens. Erst als dieses das Muster nachzuahmen begann und seinem Zuschauer zumutete, dass er nicht vergessen haben durfte, wenn er begreifen wollte, überwand es seine bleierne Zeit. Wegbereiter wurden in den Neunzigerjahren die „Sopranos“, die Saga eines Mafia-Clans. Umso dringender brauchte das Fernsehen die neue Kohärenz seiner Serien, als im Zeitalter von Internet und DVD nunmehr jeder selbst entscheiden konnte, wann und wie er diese Filme anschauen wollte.
Als für diesen Zweck besonders geeignetes Genre hat sich die Fantasy erwiesen, zumindest ein gewisser Zweig. Sie hatte ihre Heimstatt ursprünglich in dickleibigen Büchern, welche sich gern als Tri-, Tetra- und selbst Heptalogien darboten. Aber solange sie ihre Buchdeckel nicht verließ, beschränkte sich ihre Wirkung auf die verschworene Fangemeinde. Die Fantasy, ließe sich sagen, wollte vom neuen Fernsehen erst gefunden werden.
Und sie wurde gefunden. Hinter der immens erfolgreichen Serie „Game of Thrones“ steckt ein Buchprojekt, das schon rund fünfzehn Jahre lief, ehe es mit seiner Verfilmung den großen Durchbruch schaffte: die Reihe „The Song of Ice and Fire“ des amerikanischen Autors George R. R. Martin. Wer sich in diesem verwickelten Kosmos zurechtfinden will, tut gut daran, sich einem freundlichen Pfadfinder anzuvertrauen, der vorab mit Erklärungen hilft.
Die erste Folge dient insgesamt der Exponierung des Personals, sie ist ziemlich anstrengend. Doch dann geschieht etwas Erstaunliches: In der zweiten Folge bereits hat man sich weit genug von den Zumutungen des Merkensollens, dieser wahren Gedächtnis-Migräne erholt, um sich ohne Mühsal den Figuren und ihren Verwicklungen zuwenden zu können. Man bangt für sie an den zahlreichen Wendepunkten, erlebt Menschen, die loyal sein wollen und sich doch zum Verrat gezwungen sehen, fühlt mit, wenn die Jungen verbittern und die Alten müde und sarkastisch werden.
Der Name der neuen Reihe, „Blood Song“, weckt zunächst den Verdacht des Plagiats. Aber im Reich der intelligenten Fantasy ist viel Platz für konkurrierende Entwürfe. Die Blütezeit aller großen Genres war an die Gleichartigkeit der gesellschaftlichen und künstlerischen Grundbedingungen geknüpft; so viel parallele Fruchtbarkeit kann es nur geben, wenn nicht jeder Autor bei Adam und Eva anfangen muss. Man denke an das altgriechische oder das elisabethanische Theater, an die Commedia dell’Arte oder das Wiener Volksstück im 19. Jahrhundert. Ja, am meisten gilt es von den dramatischen Gattungen. Eine solche stellt jedenfalls auch die neue Fantasy dar, die sich von ihren epischen Wurzeln gelöst hat und anstelle der sich bloß addierenden Episoden ein Geflecht der Notwendigkeiten setzt.
Durch zwei Merkmale vor allem zeichnet sich diese neue Fantasy aus: die Ambivalenz der Charaktere; und die Folgenschwere der Handlung. Diese mag immer noch voller Brüche und Neuanfänge stecken, aber die Ereignisse hinterlassen nunmehr ihre Widerhaken in der Seele der Protagonisten. Geschichte ist kontingent, nach wie vor, ja mehr als das, sie erscheint als schlechthin unsinnig; aber da ihr Unsinn sich als etwas darbietet, das nie wieder gutgemacht werden kann, gräbt sich die Kategorie der Erinnerung und damit des Schmerzes ein.
Mit der Verstrickung wächst die emotionale Kraft. Vaelin, Hauptfigur im „Lied des Blutes“, noch Novize seines Ordens, begegnet dem Ketzerjäger Makril, der ihm betrunken erzählt, wie er einmal auf Befehl seines Vorgesetzten Frauen und Kinder der „Leugner“ in eine Scheune trieb und lebendig verbrannte. „Ich hätte nicht gedacht, dass Kinder so laut schreien können“, lallt er. Vaelin, erfüllt von Abscheu, will den Massenmörder mit raschem Entschluss erdolchen, da sieht er, dass im grauen Bart des Mannes Tränen glänzen: „Die Tränen bedeuteten, dass Makril ein Mann war, der seine Arbeit hasste. Außerdem war er ein Ordensbruder. Es erschien Vaelin falsch, jemanden zu töten, dessen Schicksal er in naher Zukunft womöglich teilen würde. Ein plötzlicher Entschluss reifte in ihm heran: ‚Ich werde kämpfen, aber nicht morden. Ich werde Männer töten, die mir im Kampf gegenübertreten, aber ich werde mein Schwert nicht gegen Unschuldige erheben. Ich werde keine Kinder umbringen.‘“
Es ist ein Entschluss, der sich im konkreten Fall schwer mit der gebotenen Trennschärfe umsetzen lässt. Die Gründe, weshalb Vaelin den Betrunkenen dann doch am Leben lässt, schillern in einer Mischung aus Eigennutz, Erbarmen und ethischem Prinzip. Am Ende des Buchs gibt er einem Kameraden, der ihm die Ehre einwendet, den Bescheid: „,Ehre? . . . Ehre ist nur ein Wort. Man kann es weder essen noch trinken, und doch redet alle Welt, wohin ich auch komme, unablässig davon, und für jeden bedeutet sie etwas anderes.‘“
Dass man Ehre nicht essen könne, ist ein Shakespeare-Zitat, ein Ausspruch des komisch-pragmatischen Ritters Falstaff. Die neue Fantasy hat sich ein ganz schönes Stück an Shakespeare herangearbeitet, vor allem was die Auffassung des Verhältnisses von Geschichte und Gewalt betrifft. „So sollt ihr hören, / Von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich, / Zufälligen Gerichten, blindem Mord, / Von Toden, durch Gewalt und List bewirkt, / Und Planen, die, verfehlt, zurückgefallen, / Auf der Erfinder Haupt . . .“ So fasst Horatio den Gehalt des „Hamlet“ zusammen; und ein ähnliches Fazit ließe sich auch beim „Lied des Blutes“ ziehen, selbst wenn es sich sprachlich nicht ganz auf derselben Höhe bewegt.
Der Hinweis auf Shakespeare könnte auch erklären helfen, warum die Leser, die sich von Fantasy angesprochen fühlen, sich nicht stattdessen lieber gleich an die Geschichte selbst, an die verbürgte Historie halten. Böte nicht eine gut geschriebene historische Monografie (kein historischer Roman! der kann das nicht) ähnlich niederschmetternde und erbauliche Erzählungen? Es hätte den erheblichen Vorzug, dass man die ungeheure Gedächtnisleistung, die diese Fülle von Namen und Vorgängen in jedem Fall abverlangt, sozusagen als Bildungsinvestition buchen dürfte – statt dass sie wie hier als illusionärer Gewinn eines bloßen Spiels verraucht.
Aber vielleicht hat gerade das, die Scheinbarkeit des vollen Ernstes, für die Leser seinen Reiz. Shakespeare verfährt bei der Verarbeitung seiner mittelalterlichen Stoffe ja ganz ähnlich. Möglicherweise erweist sich das dramatische Wesen der neuen Fantasy am deutlichsten darin, dass sie vom Drama die alte Aufgabe übernimmt, im Gemüt des Publikums die Reinigung von Furcht und Mitleid zu vollbringen (was immer man darunter genau verstehen will).
Ryan jedenfalls, dessen Werk im Deutschen den Untertitel „Rabenschatten 1“ trägt, scheint entschlossen zu sein, auf diesem Weg fortzufahren. An seinem Buch sind deutlich jene Stellen abzulesen, wo offenbar die nächste Staffel andocken soll.
Das erweist sich als ein langwieriger, widerspruchsvoller Vorgang, denn sein Gegenüber wappnet sein Herz und wahrt seine Geheimnisse. Nur so viel ist klar, dass der Statthalter der Provinz, die der Hoffnungstöter erobert hatte, dessen beschlagnahmtes Schwert sorgsam aufbewahrt und mit dem besten Waffenöl gepflegt hat, um es ihm nun mit scheuem Dank für seine strenge Rechtlichkeit zurückzugeben. Was ist das für ein Mann, der so viel Hass und Ehrfurcht auf sich zieht?
Willkommen in der Welt von „Blood Song“. Es ist ein Fantasy-Roman von fast 800 Seiten Umfang – Fantasy-Fans sind bekanntlich wölfische Leser. Die Handlung spielt, wie gewohnt, in einem diffusen Mittelalter. Die politischen Verhältnisse gestalten sich feudal, das heißt, im Zentrum stehen die persönlichen Beziehungen, mit aller Pietät und Rachsucht, die dazugehören. Und wie viele andere Werke des Genres hat sich auch das von Anthony Ryan von den zwei großen elitären Sozialverbänden des Mittelalters inspirieren lassen, den Mönchs- und den Ritterorden.
Shakespeare: Ideengeber für eine neue Art von Fantasy?
Und doch ist in diesem Buch etwas Neues verkörpert. Verabschiedet wird das klassische Grundmuster der „Quest“, das für die Fantasy-Literatur so typisch war, die Suche nach dem einen großen Schatz oder der Vorsatz zur entscheidenden Schlacht am Ende der Reise. Auf dem Weg dorthin wurde gern weidlich getrödelt, die Ereignisfolge verharrte im Episodisch-Beliebigen. Die Hauptfiguren entwickelten sich wenig; vor allem blieben sie nahezu anfechtungsfrei immer die Guten, während ihre Gegner so sehr damit beschäftigt waren, böse zu sein, dass sie wenig Gelegenheit zur Nuance hatten. So naht sich Stephen Kings Roland dem Dunklen Turm, so Harry Potter dem Endkampf mit Lord Voldemort; hier steckt auch die relative Schwäche des „Herrn der Ringe“. An die Stelle der kaleidoskopischen Abenteuerreihe setzt Ryan etwas anderes, das sich vielleicht als echte Geschichte bezeichnen ließe.
Beispiellos ist das nicht mehr. Das ganze Genre hat einen Aufschwung zur Komplexität genommen, seit die Fernsehserie „Game of Thrones“ des amerikanischen Senders HBO ihre Triumphe feiert. Zu verstehen ist diese Entwicklung nur vor dem Hintergrund der sich unablässig verändernden Wechselbeziehung der Medien Buch, Kino, Fernsehen (und als vierten Mitwirkenden muss man wohl die Computerspiele zählen). Sie bedrängen, aber sie verdrängen einander nicht.
Das hängt damit zusammen, wie diese verschiedenen Medien jeweils zu erzählen vermögen, genauer: wie sie Erzählung und Serialität miteinander verbinden. Dass das Kino den großen, abendfüllenden Solitär lieferte, bescherte ihm erst seinen Glanz und dann seine Krise. Es kam an einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr an gegen die Mühelosigkeit, mit der das Fernsehen seine Formate füllte: jeden Sonntag der gleiche Krimi. Mochten Mörder und Opfer wechseln – die Ermittler taten es nicht.
Dann ließ sich das Kino etwas entscheidend Neues einfallen: die Serie von mittlerer Länge und enger Zusammengehörigkeit der einzelnen Folgen, die nicht, wie das Fernsehen es machte, immer wieder bei null begannen, und zwar zu fester Sendezeit und mit vertrautem Personal, ihre Geschichten doch voraussetzungslos erzählten. Doch nun kam „Star Wars“, ein abendübergreifendes Gesamtwerk, das ähnlich wie die Werke Homers oder das Nibelungenlied strukturiert war, in einer endlichen Zahl von Kapiteln oder Gesängen, die nur verstand, wer sich das Vorangegangene gemerkt hatte.
Damit war ein neuer langer Spannungsbogen geboren, der packender wirkte als die Kurzatmigkeit des Fernsehens. Erst als dieses das Muster nachzuahmen begann und seinem Zuschauer zumutete, dass er nicht vergessen haben durfte, wenn er begreifen wollte, überwand es seine bleierne Zeit. Wegbereiter wurden in den Neunzigerjahren die „Sopranos“, die Saga eines Mafia-Clans. Umso dringender brauchte das Fernsehen die neue Kohärenz seiner Serien, als im Zeitalter von Internet und DVD nunmehr jeder selbst entscheiden konnte, wann und wie er diese Filme anschauen wollte.
Als für diesen Zweck besonders geeignetes Genre hat sich die Fantasy erwiesen, zumindest ein gewisser Zweig. Sie hatte ihre Heimstatt ursprünglich in dickleibigen Büchern, welche sich gern als Tri-, Tetra- und selbst Heptalogien darboten. Aber solange sie ihre Buchdeckel nicht verließ, beschränkte sich ihre Wirkung auf die verschworene Fangemeinde. Die Fantasy, ließe sich sagen, wollte vom neuen Fernsehen erst gefunden werden.
Und sie wurde gefunden. Hinter der immens erfolgreichen Serie „Game of Thrones“ steckt ein Buchprojekt, das schon rund fünfzehn Jahre lief, ehe es mit seiner Verfilmung den großen Durchbruch schaffte: die Reihe „The Song of Ice and Fire“ des amerikanischen Autors George R. R. Martin. Wer sich in diesem verwickelten Kosmos zurechtfinden will, tut gut daran, sich einem freundlichen Pfadfinder anzuvertrauen, der vorab mit Erklärungen hilft.
Die erste Folge dient insgesamt der Exponierung des Personals, sie ist ziemlich anstrengend. Doch dann geschieht etwas Erstaunliches: In der zweiten Folge bereits hat man sich weit genug von den Zumutungen des Merkensollens, dieser wahren Gedächtnis-Migräne erholt, um sich ohne Mühsal den Figuren und ihren Verwicklungen zuwenden zu können. Man bangt für sie an den zahlreichen Wendepunkten, erlebt Menschen, die loyal sein wollen und sich doch zum Verrat gezwungen sehen, fühlt mit, wenn die Jungen verbittern und die Alten müde und sarkastisch werden.
Der Name der neuen Reihe, „Blood Song“, weckt zunächst den Verdacht des Plagiats. Aber im Reich der intelligenten Fantasy ist viel Platz für konkurrierende Entwürfe. Die Blütezeit aller großen Genres war an die Gleichartigkeit der gesellschaftlichen und künstlerischen Grundbedingungen geknüpft; so viel parallele Fruchtbarkeit kann es nur geben, wenn nicht jeder Autor bei Adam und Eva anfangen muss. Man denke an das altgriechische oder das elisabethanische Theater, an die Commedia dell’Arte oder das Wiener Volksstück im 19. Jahrhundert. Ja, am meisten gilt es von den dramatischen Gattungen. Eine solche stellt jedenfalls auch die neue Fantasy dar, die sich von ihren epischen Wurzeln gelöst hat und anstelle der sich bloß addierenden Episoden ein Geflecht der Notwendigkeiten setzt.
Durch zwei Merkmale vor allem zeichnet sich diese neue Fantasy aus: die Ambivalenz der Charaktere; und die Folgenschwere der Handlung. Diese mag immer noch voller Brüche und Neuanfänge stecken, aber die Ereignisse hinterlassen nunmehr ihre Widerhaken in der Seele der Protagonisten. Geschichte ist kontingent, nach wie vor, ja mehr als das, sie erscheint als schlechthin unsinnig; aber da ihr Unsinn sich als etwas darbietet, das nie wieder gutgemacht werden kann, gräbt sich die Kategorie der Erinnerung und damit des Schmerzes ein.
Mit der Verstrickung wächst die emotionale Kraft. Vaelin, Hauptfigur im „Lied des Blutes“, noch Novize seines Ordens, begegnet dem Ketzerjäger Makril, der ihm betrunken erzählt, wie er einmal auf Befehl seines Vorgesetzten Frauen und Kinder der „Leugner“ in eine Scheune trieb und lebendig verbrannte. „Ich hätte nicht gedacht, dass Kinder so laut schreien können“, lallt er. Vaelin, erfüllt von Abscheu, will den Massenmörder mit raschem Entschluss erdolchen, da sieht er, dass im grauen Bart des Mannes Tränen glänzen: „Die Tränen bedeuteten, dass Makril ein Mann war, der seine Arbeit hasste. Außerdem war er ein Ordensbruder. Es erschien Vaelin falsch, jemanden zu töten, dessen Schicksal er in naher Zukunft womöglich teilen würde. Ein plötzlicher Entschluss reifte in ihm heran: ‚Ich werde kämpfen, aber nicht morden. Ich werde Männer töten, die mir im Kampf gegenübertreten, aber ich werde mein Schwert nicht gegen Unschuldige erheben. Ich werde keine Kinder umbringen.‘“
Es ist ein Entschluss, der sich im konkreten Fall schwer mit der gebotenen Trennschärfe umsetzen lässt. Die Gründe, weshalb Vaelin den Betrunkenen dann doch am Leben lässt, schillern in einer Mischung aus Eigennutz, Erbarmen und ethischem Prinzip. Am Ende des Buchs gibt er einem Kameraden, der ihm die Ehre einwendet, den Bescheid: „,Ehre? . . . Ehre ist nur ein Wort. Man kann es weder essen noch trinken, und doch redet alle Welt, wohin ich auch komme, unablässig davon, und für jeden bedeutet sie etwas anderes.‘“
Dass man Ehre nicht essen könne, ist ein Shakespeare-Zitat, ein Ausspruch des komisch-pragmatischen Ritters Falstaff. Die neue Fantasy hat sich ein ganz schönes Stück an Shakespeare herangearbeitet, vor allem was die Auffassung des Verhältnisses von Geschichte und Gewalt betrifft. „So sollt ihr hören, / Von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich, / Zufälligen Gerichten, blindem Mord, / Von Toden, durch Gewalt und List bewirkt, / Und Planen, die, verfehlt, zurückgefallen, / Auf der Erfinder Haupt . . .“ So fasst Horatio den Gehalt des „Hamlet“ zusammen; und ein ähnliches Fazit ließe sich auch beim „Lied des Blutes“ ziehen, selbst wenn es sich sprachlich nicht ganz auf derselben Höhe bewegt.
Der Hinweis auf Shakespeare könnte auch erklären helfen, warum die Leser, die sich von Fantasy angesprochen fühlen, sich nicht stattdessen lieber gleich an die Geschichte selbst, an die verbürgte Historie halten. Böte nicht eine gut geschriebene historische Monografie (kein historischer Roman! der kann das nicht) ähnlich niederschmetternde und erbauliche Erzählungen? Es hätte den erheblichen Vorzug, dass man die ungeheure Gedächtnisleistung, die diese Fülle von Namen und Vorgängen in jedem Fall abverlangt, sozusagen als Bildungsinvestition buchen dürfte – statt dass sie wie hier als illusionärer Gewinn eines bloßen Spiels verraucht.
Aber vielleicht hat gerade das, die Scheinbarkeit des vollen Ernstes, für die Leser seinen Reiz. Shakespeare verfährt bei der Verarbeitung seiner mittelalterlichen Stoffe ja ganz ähnlich. Möglicherweise erweist sich das dramatische Wesen der neuen Fantasy am deutlichsten darin, dass sie vom Drama die alte Aufgabe übernimmt, im Gemüt des Publikums die Reinigung von Furcht und Mitleid zu vollbringen (was immer man darunter genau verstehen will).
Ryan jedenfalls, dessen Werk im Deutschen den Untertitel „Rabenschatten 1“ trägt, scheint entschlossen zu sein, auf diesem Weg fortzufahren. An seinem Buch sind deutlich jene Stellen abzulesen, wo offenbar die nächste Staffel andocken soll.