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Am Puls der geteilten Stadt

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Der Abend hat sich schon herabgesenkt über Jerusalem, die Menschen drängt es nach Hause. Sie kommen vom Arbeiten, vom Einkaufen und nicht wenige natürlich auch vom Beten. An der Straßenbahnhaltestelle „Ammunition Hill“, ganz nah an der unsichtbaren Schnittstelle zwischen dem jüdischen West- und dem arabischen Ostteil der Stadt, steht eine Menschentraube und wartet auf die Einfahrt des Zuges. So zeigen es die Bilder einer Überwachungskamera, die am Morgen danach veröffentlicht werden. Sie zeigen die wartenden Fahrgäste, die Gleise, den dichten Verkehr auf der Straße daneben. Und sie zeigen ein Auto, das plötzlich ruckartig von der Straße abbiegt und mitten hineinrast in die Menge.

Auf dem Bahnsteig steht an diesem warmen, schrecklichen Mittwochabend auch eine junge Familie mit Kinderwagen. Sie werden als Erste getroffen. Zehn, zwanzig Meter weit fliegt das Baby durch die Luft. Im Krankenhaus gibt es keine Rettung mehr. Drei Monate nur wurde die kleine Haya alt. Acht weitere Menschen werden verletzt – und in einer Stadt wie Jerusalem ist schnell klar, dass dies kein Unfall sein kann. Es ist ein Anschlag. Der Fahrer des Amok-Autos rammt am Ende noch einen Pfeiler, zu Fuß versucht er zu fliehen und wird von der Polizei erschossen. 20 Jahre war er alt, ein Palästinenser aus dem Stadtteil Silwan, erst im Februar war er aus dem Gefängnis freigekommen. Jerusalem steht unter Schock.



Erhöhtes Sicherheitsaufgebot nach dem Auto-Anschlag

Es ist ein Terror ohne Bomben, ein Kampf ohne schwere Waffen – und niemand kann sich dagegen schützen. Doch es kann auch keiner sagen, dass diese Tat aus dem Nichts heraus geschehen ist. Seit dem Sommer schon kommt Jerusalem, wo 550000 jüdische Israelis und knapp 300000 Araber leben, nicht mehr zur Ruhe. Täglich fliegen Steine, Molotowcocktails, Feuerwerkskörper. Es ist ein schleichender Aufstand der arabischen Jugendlichen, der durch diesen Anschlag ins grelle Licht gerückt wird. „Jerusalem-Intifida“ wird er nun schon genannt, manchmal auch „Kinder-Intifada“ – oder auch „Straßenbahn-Intifada“, weil die Straßenbahn tatsächlich im Zentrum dieses Kampfes steht. Ausgerechnet die Straßenbahn.

Als sie vor drei Jahren ihren Betrieb aufnahm, sollte sie zum Symbol werden für das Zusammenwachsen der Stadt – eine Linie für beide Seiten, Juden wie Palästinenser. Die Panorama-Fenster bieten spektakuläre Ausblicke: auf die Häuserfronten mit dem hellen Jerusalem-Stein, der im Sonnenlicht magisch leuchtet; auf die Mauern der Altstadt mit ihren Zinnen und Toren; auf den hochheiligen Irrsinn an allen Ecken. Doch in manchen Gegenden von Jerusalem sollte man in diesen Tagen besser nicht an den Fenstern sitzen – eben wegen der Steine, die selbst die extradicken Scheiben vieler Züge mit hässlichen Rissen überzogen haben. Mehr als 150 Waggons mussten in den vergangenen Monaten bereits aus dem Verkehr gezogen und repariert werden, Wartehäuschen sind verwüstet, Ticketautomaten zerstört worden.

Die Straßenbahn also ist kein Symbol geworden für eine neue Zeit, sondern nur ein neues Zeichen für den alten Streit, für die alte Zerrissenheit. Für viele arabische Bewohner ist sie schlicht ein Instrument des Besatzungsregimes geworden, weil die Züge den Westteil mit der jüdischen Siedlung Pisgat Ze’ev im Osten verbinden – und leicht zu treffen sind, wenn sie dabei durch die arabischen Viertel fahren.

Eine Fahrt mit der Straßenbahn quer durch Jerusalem ist also eine Fahrt durch ein Minenfeld. 23 Haltestellen, 45 Minuten Fahrtzeit: Auf den Gleisen kann man dabei den Puls der Stadt fühlen, und rechts und links liegen die Stationen ihres Leidensweges. Die „Linie 1“, die auch die einzige Linie ist, startet auf dem Herzlberg, hoch oben über dem urbanen Dickicht. Es ist dies ein Ort der komprimierten israelischen Selbstvergewisserung: Der Zionismus-Begründer Theodor Herzl liegt hier begraben, dazu die Helden der Politik und der Kriege, die Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem ist auch nicht weit. Hier steigen Schulkinder in die Straßenbahn ein, einige Touristen, ältere Damen mit Einkaufswagen und zwei schwatzende Männer, deren Stimmen zu laut und deren Hemden zu weit aufgeknöpft sind.

Schon nach wenigen Stationen ist der Zug drangvoll. Ultra-Orthodoxe mit mächtigen Hüten und Bärten füllen die Gänge, junge Soldatinnen sind sitzend mit ihren Smartphones beschäftigt, es wird viel geredet und noch mehr telefoniert. Es ist ein buntes Treiben, das so bunt dann wiederum auch nicht ist, weil allein der jüdische Teil der Jerusalemer Bevölkerung die Straßenbahn bevölkert – zumindest bis zur Haltestelle „City Hall“, die ziemlich exakt an jener Grünen Linie liegt, die bis zum Sechstagekrieg von 1967 die Stadt in zwei Teile geteilt hatte.

Unweit dieser Haltestelle kann man auch das Büro von Daniel Seidemann finden. Der 63-Jährige ist Anwalt, Major der Reserve in der israelischen Armee, und vor allem ist er einer der besten Kenner Jerusalems, das er den „vulkanischen Kern des Nahost-Konflikts“ nennt. Als Brückenbauer war er an allen Friedensgesprächen der vergangenen 20 Jahre beteiligt, wenn es um Lösungen für die Stadt ging, die Israelis wie Palästinenser als ihre Hauptstadt beanspruchen. Doch langsam gehen selbst ihm die Lösungen aus. „Es herrscht hier heute auf beiden Seiten ein Hass, wie ich ihn noch nie erlebt habe“, sagt er.

Getragen wird der Aufruhr in den arabischen Vierteln von Jugendlichen und Kindern. Von den rund 800 Krawallmachern, die in den vergangenen hundert Tagen festgenommen wurden, seien wohl 600 noch nicht einmal volljährig, schätzt Seidenmann. „Die Eltern schicken sie nicht, es gibt auch keine politische Führung“, meint er, „aber die Kinder haben hervorragende Sensoren und wissen, dass sie keine Zukunft haben.“ Die Wut, die mal diffus ist und mal konkret, treibt sie auf die Straße, und dass die Straßenbahn dabei zum Angriffsziel Nummer eins wird, verwundert ihn nicht. „Sie zerstören damit die PR-Phantasiewelt von der gelungenen Koexistenz in Jerusalem“, erklärt er.

Was dies für Folgen hat, ist deutlich zu sehen, wenn man an der Haltestelle „City Hall“ wieder in die Straßenbahn einsteigt und Richtung Damaskustor und zu den arabischen Vierteln fährt. Die Waggons sind nur noch spärlich gefüllt, nachts verkehrt die Tram als Geisterzug. Die Haltestelle „Ammunition Hill“ ist nach dem Anschlag auf ewig als Ort des Schreckens gezeichnet. Und ein paar Stationen weiter ist ohnehin Tag für Tag zu sehen, in welchen Abgrund der Hass diese Stadt zu treiben droht: Schuafat ist das Epizentrum dieses Aufruhrs, und wer hier aus der Tram steigt, steht mitten in einem Trümmerfeld. Die Wartehäuschen sind komplett zerstört, die Metallstreben zeigen noch Brandspuren, und von den Fahrkartenautomaten sind nur Betonstümpfe geblieben. Seit vielen Wochen schon toben hier die Kämpfe, und den Grund dafür zeigt ein riesiges Banner, das gegenüber der Haltestelle an der Moschee prangt. Zu sehen ist darauf Mohammed Khdeir, der 16 Jahre alt war, als er am 2. Juli genau hier in ein Auto gezerrt wurde. Drei jüdische Extremisten entführten ihn, es war ihre Rache für den Tod dreier zuvor von Hamas-Männern entführter Siedlerkinder. Sie schlugen auf ihn ein und verbrannten ihn bei lebendigem Leib. Kurz darauf brach in Gaza der Krieg aus und in Schuafat die Intifada.

„Ich bin keine dieser Frauen aus der Propaganda, die singen, wenn sie ihren Sohn verloren haben“, sagt Suha Khdeir, die Mutter Mohammeds, „aber ich will wenigstens wissen, dass sein Blut nicht ohne Sinn vergossen wurde.“ In der Hand hält sie ein Taschentuch, von Zeit zu Zeit wischt sie sich über die Augen. Sie ist gerade aus Mekka zurückgekommen, auch das zählt zur Trauerbewältigung. Der Sohn ist jetzt ein Märtyrer, sein Bild hängt in Schuafat an vielen Ecken, und sein Vermächtnis sind die Steine. „Wenigstens wissen die Israelis jetzt, dass sie nicht einfach so ein Kind töten können“, sagt Suha Khdeir. „Ich hoffe, dass die Unruhen weitergehen, bis wir Palästina befreit haben.“

Immer geht es ganz schnell ums große Ganze in dieser Stadt, bei einer trauernden Mutter genauso wie bei den Politikern. Premierminister Benjamin Netanjahu hat als Reaktion auf die Unruhen und den Anschlag den Palästinensern nun mit einer „eisernen Faust“ gedroht, Präsident Reuven Rivlin hat auf der Beerdigung für das getötete Baby verkündet, „die Mörder sollen wissen, dass uns keine Macht der Welt aus Jerusalem vertreiben kann“. So setzt auch die leere Straßenbahn unbeirrt ihre Fahrt fort von Schuafat zu den Siedlern nach Pisgat Ze’ev. Wie schon der Startpunkt am Herzlberg liegt auch die Endhaltestelle hoch über dem Dickicht der Stadt. Sie trägt den Namen Heil Ha-Avir, zu deutsch: Luftwaffe.

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