Burghausen – Ein Paar von Andres weißen Turnschuhen steht noch im Hausflur der Mutter, sie steigt manchmal hinein, um damit in den Garten zu gehen. Dort ist sie mit Andre gewesen, zwei Tage, bevor er starb. Manchmal glaubt sie, dass er jederzeit zur Tür hereinkommen könnte. Sie konnte sich ja nicht verabschieden, in dem Hinterhof in Burghausen, in dem ein Polizist ihn erschossen hat. Nicht seine Hand nehmen, kein Gebet sprechen.
Dort, wo Andre starb, brennen Mitte Oktober wieder zwei rote Grablichter. Dabei hatten sie all die Blumen und Kerzen doch längst weggeräumt. Die Kinder, die in dem hellgrünen Häuserriegel wohnen, sollen beim Spielen nicht länger an jenen Freitagabend im Juli erinnert werden.
Polizeieinsatz mit tödlichem Ausgang: Das oberbayerische Städtchen Burghausen steht unter Schock.
An den Mann, der auf dem schmalen Asphaltweg, neben der Fußballwiese, losrennt. An die beiden Polizisten in Zivil, die ihm folgen, „Halt, Polizei!“ schreien. An die zwei Schüsse, die kurz hintereinander fallen. Und an das viele Blut, das aus dem Nacken des Mannes spritzt, der regungslos am Boden liegt, neben ihm eine Sonnenbrille, ein Smartphone: nichts, womit er einen Menschen hätte bedrohen können.
Der Mann ist Andreas B., genannt Andre, geboren am 5. Januar 1981 in Krasnodar, Russland. Gestorben am 25. Juli 2014 in Burghausen, Oberbayern.
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Wann darf ein Polizist schießen? Das ist die Frage, die in den darauffolgenden Tagen und Wochen viele Menschen in Burghausen umtreibt. Jene, die Andre B. gut gekannt haben, aber auch solche, die einfach nicht verstehen können, warum ein Polizist einen Unbewaffneten erschießt, an der Haustür zur Wohnung seiner Freundin, in einem Hinterhof, in dem nur ein paar Meter entfernt Kinder zwischen den Wäschestangen Fußball spielen und Nachbarn auf den Balkonen ins Wochenende starten. Warum, fragen viele, schießt da ein Polizist auf einen, der einfach nur wegläuft?
Die Geschichte, die Andre B. das Leben kosten wird, beginnt im März. Da nimmt die Polizei einen Bekannten von Andre B. fest. Sie hat in dessen Handy seltsame Botschaften gefunden, die sie als Beweis für ein Drogengeschäft wertet. Es geht um drei Kilogramm Marihuana. Während der Vernehmung fragen die Beamten, ob Andre B. etwas damit zu tun habe. Sie halten das für naheliegend, B.ist vorbestraft, weil er mit Marihuana gehandelt hat. Er ist zum Wiederholungstäter geworden, erwischt, verurteilt, eingesperrt. Im Mai 2013 kommt er raus, nach vier Jahren und sieben Monaten. Zuletzt war er Freigänger.
Nein, Andre B. habe überhaupt nichts mit der neuen Sache zu tun, beteuert der Bekannte. Nach einer Vernehmungspause ändert er seine Meinung: Andre B. wird nun zum Drahtzieher. Es wird ein Haftbefehl gegen B. erlassen, am 2. April durchsuchen Ermittler die Wohnung auf dem Hof der Mutter und des Stiefvaters, in der Andre mit seiner Freundin lebt. Drogen finden die Ermittler nicht, nur leere Packungen anaboler Steroide. Dass Andre B. diese einwirft, ist nicht zu übersehen. Er ist Bodybuilder, hat Arme wie Stämme. Jeden Tag habe er im Fitnessstudio Hanteln gestemmt, sagt die Mutter.
Warum haben sie ihren Andre nicht dort gesucht und mitgenommen? Oder im Café in der Innenstadt, dem Treffpunkt der Clique? Oder am Badesee?
Andre habe sich nicht versteckt, sagen seine Freunde. Im Gegenteil: „Mehr hätte man sich nicht präsentieren können“, sagt einer von ihnen. Für sie ist nicht bewiesen, dass Andre wieder auf die schiefe Bahn geraten ist. Ein früherer Schulkamerad sagt aber auch: „Wenn er was gemacht hat, dann gehört er eingesperrt und nicht erschossen. Der Andre war kein Riesendealer, der war nicht der Pablo Escobar von Burghausen. Der hat jedem geholfen.“
Die Polizei hat in den Tagen nach den Schüssen von einem „dicken Fisch“ gesprochen. Jeder, der mit einem Haftbefehl gesucht wird, ist dem Gesetz nach ein Verbrecher – und wenn so einer flüchtet, dann dürfen Fahnder als letztes Mittel schießen. Das Polizeiaufgabengesetz erlaubt dies, nicht nur als Notwehr, auch „zur Vereitlung der Flucht“. Doch war das, was sich an jenem 25. Juli ereignete, ein Fall für den Einsatz des härtesten Mittels, der Pistole? Durfte Michael K., 35 Jahre alt, Zivilfahnder, auf Andre B. schießen?
Michael K. und sein Kollege kennen Andre B. nur von einem Fahndungsfoto. Am Nachmittag des 25. Juli müssen sie zu einer Einsatzbesprechung wegen eines Fußballspiels. Sie sollen Fans überwachen. Die Herderstraße, in der Andre B.s Freundin Karolina S. bei ihrer Mutter lebt, liegt auf dem Weg. Als sie vorbeifahren, um nach dem Gesuchten zu sehen, kommt ein roter Audi, am Steuer Karolina S. Sie fragen bei der Einsatzleitung nach, ob sie nicht lieber auf B. warten sollen, doch sie werden zum Fußball beordert. Als weniger Nürnberg-Fans zu sehen sind als gedacht, kehren sie gegen 17.30 Uhr zurück. Kurz darauf parkt ein silberner Ford, darin ein Mann, auf den die Beschreibung passt.
Andre B. kommt vom Baden. Er geht die Straße entlang, ums Haus Richtung Innenhof. Die Herderstraße 2 ist der erste Eingang, gleich hinter der Hausecke. Die Zivilfahnder sind sich sicher: Das muss er sein. Sie folgen ihm. Der Kollege holt seinen Dienstausweis heraus, K. geht hinter ihm, zieht die Waffe, um sich und den Kollegen zu sichern, wie er später sagen wird. Der Gesuchte steht an der Eingangstür, will läuten. Herr B., sprechen sie ihn an, Polizei!
Dann geht alles ganz schnell.
Andre B. läuft los, die Polizisten hinterher. Beide rufen, halt, stopp, stehen bleiben! Polizei! Der erste Schuss: ein Warnschuss. Der zweite, nur Sekunden später, trifft Andre B. in den Nacken, durchschießt sein Halsmark aus einer Entfernung von fünf bis acht Metern. Er fällt auf sein Gesicht, ist sofort gelähmt. Auch sein Herz setzt aus. Michael K., so schildert es sein Kollege, greift zu seinem Handy und ruft seinen Einsatzleiter an, meldet Schusswaffengebrauch, so heißt es im Polizeijargon, wenn ein Beamter im Einsatz zur Waffe greift. 42 Mal haben deutsche Polizisten 2013 gezielt auf Menschen geschossen, acht Menschen sind dabei gestorben. Viermal schossen Polizisten auf einen flüchtenden Verbrecher. Keiner von ihnen wurde verletzt oder getötet, geht aus Zahlen der Innenministerkonferenz hervor.
Er habe doch auf die Beine gezielt, sagt der Schütze Michael K. immer wieder. Michael K. hat nicht mit seiner eigenen, sondern mit einer Ersatzwaffe geschossen. Das Gutachten zeigt keinerlei Mängel. Um statt der Beine den Nacken zu treffen, reicht aber schon eine kleine Abweichung des Schusswinkels, sagen Experten.
Als der Schuss fällt, läuft K.s Kollege leicht versetzt vor ihm, er hat nachher ein Pfeifen im Ohr. Zuerst tastet er seinen eigenen Oberkörper ab, aus Angst, selbst getroffen zu sein. Dann kontrolliert er Andre B.s Puls am Hals. Er fühlt nichts mehr.
Andre B.s Freundin Karolina S. hört die Stimmen und die Schüsse im dritten Stock der Herderstraße 2. Es sind die weißen Schuhe, an denen sie Andre erkennt. Sie rennt, um ihr, um sein Leben, will ihm helfen. Doch die Polizisten lassen sie nicht zu ihm, die Spuren müssten gesichert werden. Karolina soll eine Decke holen, sie werfen sie über Andre B., auch über den Kopf. Der Notarzt ist da noch nicht einmal eingetroffen. „Ich hab mich einfach zu ihm gesetzt, und der Polizist, der geschossen hat, stand vor mir. Was überhaupt das Krankeste ist, wenn dein Freund da liegt, und du musst den Mörder noch anschauen.“
Mörder. Für viele Menschen in Burghausen ist ein Polizist, der einen Menschen auf der Flucht erschießt, ein Mörder. Mit Plakaten haben sie demonstriert, am Tag danach, „Polizei Mörder“, stand darauf. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Michael K. wegen fahrlässiger Tötung. Bis zur endgültigen Entscheidung, ob sie ihn anklagt oder das Verfahren einstellt, äußert sie sich nicht. Die Ermittlungen führt eine interne Stelle beim Landeskriminalamt. Bis zum Abschluss des Verfahrens ist Michael K. suspendiert, wie in solchen Fällen üblich. Über die Sekunden, die auch sein Leben verändert haben, will er nicht reden. Er wird abgeschirmt, soll massiv bedroht worden sein. Auch sein Anwalt schweigt. Nach den Schüssen sei er ruhig gewesen, in sich gekehrt. Die Situation schien ihn bedrückt und belastet zu haben, sagt ein Zeuge, selbst Polizist. Einen Gefühlsausbruch habe er nicht gesehen, sagt ein anderer.
Vieles würde man Michael K. gern fragen. Zum Beispiel, warum plötzlich so eine Eile herrschte, Andre B. festzunehmen. Auch Steffen Ufer fragt sich das, der Münchner Strafverteidiger vertritt B.s Mutter als Nebenklägerin. Für Ufer geht es vor allem um die Verhältnismäßigkeit: Die Waffe zu ziehen, um einen zu fangen, der in der Stadt offen herumgelaufen sei, das zeuge von „Jagdfieber“. „Für mich ist es unvorstellbar, mit so einer Einstellung zu einem Marihuanahändler zu gehen“, sagt Ufer. In Kalifornien sei die Droge legal zu erhalten, bei den Nachbarn in den Niederlanden auch – und in Bayern werde einer deswegen erschossen.
Auf dem Sideboard in ihrer Küche hat Lili B. Fotos von Andre aufgestellt, dort liegt auch seine Sonnenbrille. Und das Handy, eine Bankkarte – all das hat sie von der Polizei zurückbekommen. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hat Lili B. versprochen, sich dahinterzuklemmen. Zu ihrem „großen Verlust“ spreche er ihr seine aufrichtige Anteilnahme aus, schreibt er auf schwarzumrandetem Briefbogen. „Sie dürfen versichert sein, dass es mir ein großes Anliegen ist, die Umstände seines Todes genauestens aufzuklären.“
Ob es aber jemals einen Prozess geben wird, ist ungewiss.
Dort, wo Andre starb, brennen Mitte Oktober wieder zwei rote Grablichter. Dabei hatten sie all die Blumen und Kerzen doch längst weggeräumt. Die Kinder, die in dem hellgrünen Häuserriegel wohnen, sollen beim Spielen nicht länger an jenen Freitagabend im Juli erinnert werden.
Polizeieinsatz mit tödlichem Ausgang: Das oberbayerische Städtchen Burghausen steht unter Schock.
An den Mann, der auf dem schmalen Asphaltweg, neben der Fußballwiese, losrennt. An die beiden Polizisten in Zivil, die ihm folgen, „Halt, Polizei!“ schreien. An die zwei Schüsse, die kurz hintereinander fallen. Und an das viele Blut, das aus dem Nacken des Mannes spritzt, der regungslos am Boden liegt, neben ihm eine Sonnenbrille, ein Smartphone: nichts, womit er einen Menschen hätte bedrohen können.
Der Mann ist Andreas B., genannt Andre, geboren am 5. Januar 1981 in Krasnodar, Russland. Gestorben am 25. Juli 2014 in Burghausen, Oberbayern.
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Wann darf ein Polizist schießen? Das ist die Frage, die in den darauffolgenden Tagen und Wochen viele Menschen in Burghausen umtreibt. Jene, die Andre B. gut gekannt haben, aber auch solche, die einfach nicht verstehen können, warum ein Polizist einen Unbewaffneten erschießt, an der Haustür zur Wohnung seiner Freundin, in einem Hinterhof, in dem nur ein paar Meter entfernt Kinder zwischen den Wäschestangen Fußball spielen und Nachbarn auf den Balkonen ins Wochenende starten. Warum, fragen viele, schießt da ein Polizist auf einen, der einfach nur wegläuft?
Die Geschichte, die Andre B. das Leben kosten wird, beginnt im März. Da nimmt die Polizei einen Bekannten von Andre B. fest. Sie hat in dessen Handy seltsame Botschaften gefunden, die sie als Beweis für ein Drogengeschäft wertet. Es geht um drei Kilogramm Marihuana. Während der Vernehmung fragen die Beamten, ob Andre B. etwas damit zu tun habe. Sie halten das für naheliegend, B.ist vorbestraft, weil er mit Marihuana gehandelt hat. Er ist zum Wiederholungstäter geworden, erwischt, verurteilt, eingesperrt. Im Mai 2013 kommt er raus, nach vier Jahren und sieben Monaten. Zuletzt war er Freigänger.
Nein, Andre B. habe überhaupt nichts mit der neuen Sache zu tun, beteuert der Bekannte. Nach einer Vernehmungspause ändert er seine Meinung: Andre B. wird nun zum Drahtzieher. Es wird ein Haftbefehl gegen B. erlassen, am 2. April durchsuchen Ermittler die Wohnung auf dem Hof der Mutter und des Stiefvaters, in der Andre mit seiner Freundin lebt. Drogen finden die Ermittler nicht, nur leere Packungen anaboler Steroide. Dass Andre B. diese einwirft, ist nicht zu übersehen. Er ist Bodybuilder, hat Arme wie Stämme. Jeden Tag habe er im Fitnessstudio Hanteln gestemmt, sagt die Mutter.
Warum haben sie ihren Andre nicht dort gesucht und mitgenommen? Oder im Café in der Innenstadt, dem Treffpunkt der Clique? Oder am Badesee?
Andre habe sich nicht versteckt, sagen seine Freunde. Im Gegenteil: „Mehr hätte man sich nicht präsentieren können“, sagt einer von ihnen. Für sie ist nicht bewiesen, dass Andre wieder auf die schiefe Bahn geraten ist. Ein früherer Schulkamerad sagt aber auch: „Wenn er was gemacht hat, dann gehört er eingesperrt und nicht erschossen. Der Andre war kein Riesendealer, der war nicht der Pablo Escobar von Burghausen. Der hat jedem geholfen.“
Die Polizei hat in den Tagen nach den Schüssen von einem „dicken Fisch“ gesprochen. Jeder, der mit einem Haftbefehl gesucht wird, ist dem Gesetz nach ein Verbrecher – und wenn so einer flüchtet, dann dürfen Fahnder als letztes Mittel schießen. Das Polizeiaufgabengesetz erlaubt dies, nicht nur als Notwehr, auch „zur Vereitlung der Flucht“. Doch war das, was sich an jenem 25. Juli ereignete, ein Fall für den Einsatz des härtesten Mittels, der Pistole? Durfte Michael K., 35 Jahre alt, Zivilfahnder, auf Andre B. schießen?
Michael K. und sein Kollege kennen Andre B. nur von einem Fahndungsfoto. Am Nachmittag des 25. Juli müssen sie zu einer Einsatzbesprechung wegen eines Fußballspiels. Sie sollen Fans überwachen. Die Herderstraße, in der Andre B.s Freundin Karolina S. bei ihrer Mutter lebt, liegt auf dem Weg. Als sie vorbeifahren, um nach dem Gesuchten zu sehen, kommt ein roter Audi, am Steuer Karolina S. Sie fragen bei der Einsatzleitung nach, ob sie nicht lieber auf B. warten sollen, doch sie werden zum Fußball beordert. Als weniger Nürnberg-Fans zu sehen sind als gedacht, kehren sie gegen 17.30 Uhr zurück. Kurz darauf parkt ein silberner Ford, darin ein Mann, auf den die Beschreibung passt.
Andre B. kommt vom Baden. Er geht die Straße entlang, ums Haus Richtung Innenhof. Die Herderstraße 2 ist der erste Eingang, gleich hinter der Hausecke. Die Zivilfahnder sind sich sicher: Das muss er sein. Sie folgen ihm. Der Kollege holt seinen Dienstausweis heraus, K. geht hinter ihm, zieht die Waffe, um sich und den Kollegen zu sichern, wie er später sagen wird. Der Gesuchte steht an der Eingangstür, will läuten. Herr B., sprechen sie ihn an, Polizei!
Dann geht alles ganz schnell.
Andre B. läuft los, die Polizisten hinterher. Beide rufen, halt, stopp, stehen bleiben! Polizei! Der erste Schuss: ein Warnschuss. Der zweite, nur Sekunden später, trifft Andre B. in den Nacken, durchschießt sein Halsmark aus einer Entfernung von fünf bis acht Metern. Er fällt auf sein Gesicht, ist sofort gelähmt. Auch sein Herz setzt aus. Michael K., so schildert es sein Kollege, greift zu seinem Handy und ruft seinen Einsatzleiter an, meldet Schusswaffengebrauch, so heißt es im Polizeijargon, wenn ein Beamter im Einsatz zur Waffe greift. 42 Mal haben deutsche Polizisten 2013 gezielt auf Menschen geschossen, acht Menschen sind dabei gestorben. Viermal schossen Polizisten auf einen flüchtenden Verbrecher. Keiner von ihnen wurde verletzt oder getötet, geht aus Zahlen der Innenministerkonferenz hervor.
Er habe doch auf die Beine gezielt, sagt der Schütze Michael K. immer wieder. Michael K. hat nicht mit seiner eigenen, sondern mit einer Ersatzwaffe geschossen. Das Gutachten zeigt keinerlei Mängel. Um statt der Beine den Nacken zu treffen, reicht aber schon eine kleine Abweichung des Schusswinkels, sagen Experten.
Als der Schuss fällt, läuft K.s Kollege leicht versetzt vor ihm, er hat nachher ein Pfeifen im Ohr. Zuerst tastet er seinen eigenen Oberkörper ab, aus Angst, selbst getroffen zu sein. Dann kontrolliert er Andre B.s Puls am Hals. Er fühlt nichts mehr.
Andre B.s Freundin Karolina S. hört die Stimmen und die Schüsse im dritten Stock der Herderstraße 2. Es sind die weißen Schuhe, an denen sie Andre erkennt. Sie rennt, um ihr, um sein Leben, will ihm helfen. Doch die Polizisten lassen sie nicht zu ihm, die Spuren müssten gesichert werden. Karolina soll eine Decke holen, sie werfen sie über Andre B., auch über den Kopf. Der Notarzt ist da noch nicht einmal eingetroffen. „Ich hab mich einfach zu ihm gesetzt, und der Polizist, der geschossen hat, stand vor mir. Was überhaupt das Krankeste ist, wenn dein Freund da liegt, und du musst den Mörder noch anschauen.“
Mörder. Für viele Menschen in Burghausen ist ein Polizist, der einen Menschen auf der Flucht erschießt, ein Mörder. Mit Plakaten haben sie demonstriert, am Tag danach, „Polizei Mörder“, stand darauf. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Michael K. wegen fahrlässiger Tötung. Bis zur endgültigen Entscheidung, ob sie ihn anklagt oder das Verfahren einstellt, äußert sie sich nicht. Die Ermittlungen führt eine interne Stelle beim Landeskriminalamt. Bis zum Abschluss des Verfahrens ist Michael K. suspendiert, wie in solchen Fällen üblich. Über die Sekunden, die auch sein Leben verändert haben, will er nicht reden. Er wird abgeschirmt, soll massiv bedroht worden sein. Auch sein Anwalt schweigt. Nach den Schüssen sei er ruhig gewesen, in sich gekehrt. Die Situation schien ihn bedrückt und belastet zu haben, sagt ein Zeuge, selbst Polizist. Einen Gefühlsausbruch habe er nicht gesehen, sagt ein anderer.
Vieles würde man Michael K. gern fragen. Zum Beispiel, warum plötzlich so eine Eile herrschte, Andre B. festzunehmen. Auch Steffen Ufer fragt sich das, der Münchner Strafverteidiger vertritt B.s Mutter als Nebenklägerin. Für Ufer geht es vor allem um die Verhältnismäßigkeit: Die Waffe zu ziehen, um einen zu fangen, der in der Stadt offen herumgelaufen sei, das zeuge von „Jagdfieber“. „Für mich ist es unvorstellbar, mit so einer Einstellung zu einem Marihuanahändler zu gehen“, sagt Ufer. In Kalifornien sei die Droge legal zu erhalten, bei den Nachbarn in den Niederlanden auch – und in Bayern werde einer deswegen erschossen.
Auf dem Sideboard in ihrer Küche hat Lili B. Fotos von Andre aufgestellt, dort liegt auch seine Sonnenbrille. Und das Handy, eine Bankkarte – all das hat sie von der Polizei zurückbekommen. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hat Lili B. versprochen, sich dahinterzuklemmen. Zu ihrem „großen Verlust“ spreche er ihr seine aufrichtige Anteilnahme aus, schreibt er auf schwarzumrandetem Briefbogen. „Sie dürfen versichert sein, dass es mir ein großes Anliegen ist, die Umstände seines Todes genauestens aufzuklären.“
Ob es aber jemals einen Prozess geben wird, ist ungewiss.