Eine alte Redensart lautet: Wenn du das Schreiben lassen kannst, dann lass es. Gewöhnlich zitiert ein angesehener Literat diese Redewendung einem angehenden Literaten. Das passiert gewöhnlich nach der Lesung des angehenden Literaten. Dabei muss der angesehene Literat dezent lächeln. Und der angehende Literat muss als Antwort auf die vernichtende Replik des älteren Kollegen irgendwie schief lächeln und sagen: „Nun ja, ich kann das Schreiben auch lassen ...Hat es Ihnen denn nicht gefallen?“ Und tatsächlich – warum soll man schreiben? Ein Blatt Papier ist so rein und weiß. Ein leerer Bildschirm sieht ebenfalls aus, als sei er sich selbst genug. Warum soll man diese Reinheit verletzen?
Wenn ein Schriftsteller das Schreiben freiwillig lassen kann – dann ist er kein Schriftsteller. Dann hat er die Literatur gewählt, und nicht sie ihn. Er hat abgewogen, sich entschieden und eine rationale Wahl getroffen. Aber das ist eine Täuschung. Die „durchdachte, wohlüberlegte Wahl des Berufs Schriftsteller“ gibt es nicht. Wer sich bewusst dafür entscheidet, wird das Heer der Graphomanen vergrößern.
Der Philosoph José Ortega y Gasset bezeichnete das Leben als einen Schuss aus nächster Nähe. Im Grunde scheint auch der physiologische Akt der menschlichen Geburt wie ein Schuss zu sein. Der Vater schießt sein Sperma in die Mutter. Nach neun Monaten schießt die Mutter das Kind in die Welt. Aus nächster Nähe.
Auch die Literatur ist ein Schuss aus nächster Nähe. Allerdings ist es hier die Welt, die auf dich schießt. Du erwartest diesen Schuss überhaupt nicht, du hörst nicht einmal den Knall. Doch du spürst die Kugel in dir. Eine schwere Kugel. Ein Explosivgeschoss, das schon viele getroffen hat. Du bist verwundet. Du empfindest Schmerz und Unbehagen. Du beginnst zu bluten. Kein rotes Blut, sondern schwarzes, schnörkeliges Blut, das aus Buchstaben besteht.
Die ersten Tropfen finden das Papier von allein. Und du beobachtest erstaunt, wie diese ersten Tropfen fallen und sich in wundervolle Kleckse verwandeln. Wie schön ihre Konturen sind! Sie sind nicht schwarz, sie glänzen in allen Farben des Regenbogens, sie schillern, sie füllen die Fläche aus. Du bist verzaubert von dieser Metamorphose. Du hast nie zuvor etwas Ähnliches gesehen oder erlebt. Noch mehr Tropfen, immer mehr.
Sie verschmelzen zu ganzen Welten, lassen dich erstarren vor Begeisterung. Mehr und mehr Tropfen fließen aus deiner Wunde. Und endlich sprudelt dieses magische literarische Blut wie ein Strom aus dir hervor. Du vergisst die Wunde und blickst auf die phantastischen Welten, in die sich jeder dieser Tropfen verwandelt. Sie erheben sich auf deinem Schreibtisch. In der Wohnung ist es still. Du schaust dir an, was du hervorgebracht hast und was nun parallel zu der Welt existiert, in der du lebst. Es türmt sich ringsum, es wächst und formiert sich. Es ist sich selbst genug.
Und erst jetzt, wenn das erste Blut vergossen ist, musst du eine Wahl treffen. Das ist keineswegs die Wahl des Berufs. Du musst wählen, wie du damit weiterleben sollst. Diese Wahl umfasst tausend Kleinigkeiten. In deinem Leben wird sich vieles ändern. Unumkehrbar. Für immer und ewig. So richtig wirst du dich nie an dieses neue Gefühl gewöhnen. Und wenn du dich daran gewöhnst, heißt das, deine Wunde vernarbt allmählich und du wirst zu einem gewöhnlichen Literaturarbeiter.
Kein gewöhnlicher Literarbeiter? Der russische Romanautor Vladimir Sorokin
Der Philosoph Lew Schestow sagte einmal: „Ein Schriftsteller stirbt, wenn er seinen eigenen Stil entwickelt hat.“ Nein, er stirbt nicht. Er ist einfach nur zum Profi geworden. Ein ausgeprägter Stil ist der Versuch, den Strom des literarischen Bluts in die „richtigen“ Bahnen zu lenken. Darüber sind Tausende Schriftsteller gestolpert. Sie haben gelernt, mit ihrer Wunde so zurechtzukommen, dass sie rechtzeitig und in die richtige Richtung blutet.
Kaufen Sie literarische Wundauflagen der Marke „Erfolg“! Garantiert absolut trockener Stil und bequeme Lektüre! Tausende Schriftsteller schreiben in aller Ruhe ihr Leben lang ein und dasselbe Buch. Sie haben sich dafür entschieden. Sie sind berühmt, sie haben Tausende Leser, die auf ihre neuen Bücher warten. Die Leser wissen, was sie von diesen Schriftstellern zu erwarten haben. Die Schriftsteller wissen längst, was sie von sich zu erwarten haben. Der Verleger weiß erst recht, was er von einem solchen Schriftsteller zu erwarten hat. Und wartet, wie niemand sonst!
Er gibt ihm den weisen Ratschlag: Lieber Freund, mindestens alle zwei Jahre einen Roman. Dann ist alles gut – für dich, für mich und für den Leser. Sehr weise! Die meisten Profi-Schriftsteller beherzigen die Ratschläge ihrer Verleger. Sie bekommen gute Honorare, sie bekommen Preise, sie werden in Akademien aufgenommen. Sie sind wirkliche Profis. Kein einziger Tropfen literarischen Bluts spritzt ihnen zufällig aus den Wunden. Sie haben zu Hause saubere Fußböden. Die Wundauflagen der Marke „Erfolg“ sind bei jedem Wetter absolut zuverlässig. Depression oder Suff haben keinen Einfluss auf ihre Qualität. Die Profis haben sich mit Wundauflagen eingedeckt und bewahren ihren Vorrat an einem trockenen Ort auf.
Ich denke, man sollte diese superzuverlässigen Wundauflagen besser nicht benutzen. Man sollte sie nehmen und in den Mülleimer werfen. Und die Wunde nicht verheilen lassen. Im Gegenteil – man sollte täglich mit den Fingernägeln daran kratzen. Euer literarisches Blut soll in alle Richtungen spritzen. Frau, Kinder und Katze sollen schaudernd zurückweichen. Der Verleger soll schaudernd zurückweichen. Auf den Blutstropfen sollen die Regenbogen der Unvorhersehbarkeit schillern.
Das ist der Sieg über den „ausgeprägten Stil“. Es wird einen neuen Stil geben. Und einen neuen Verleger. Und überhaupt, ist es nicht besser, den nächsten Roman zu beginnen, als sei es der erste? Dieses Gefühl ist mit nichts zu vergleichen. Zuvor aber muss man reinen Tisch machen mit dem, was man zuvor erreicht hat.
Entzündet ein loderndes Feuer im Kamin. Nehmt den Roman, der schon erschienen ist, den die Kritiker schon gewürdigt haben, und werft ihn ins Feuer. Zusammen mit den lobenden Rezensionen. Bücher brennen bekanntlich langsam. Während der Roman in Flammen aufgeht, umringen euch seine Helden, mit denen ihr das ganze vergangene Jahr verbracht, an die ihr euch so gewöhnt habt! Deren Schwächen, deren Tugenden und deren Laster euch so wohlbekannt sind! Sie sind euch nah und vertraut, sie strecken ihre durchsichtigen Arme nach euch aus. Weicht ihrer Umarmung mit einem höflichen Lächeln aus und setzt eure Helden mit einem kräftigen Tritt vor die Tür! Vergesst sie ein für allemal! Ihr solltet euch nicht auf die „gesammelte Erfahrung des Literaten“ stützen. Kein „blutiger Mond, der sich in einer von Schrapnell zerfetzten Lärche verfangen hat“, keine „Alice, die als Hexe störrisch auf dem Scheiterhaufen verbrennt und Davids tätowierter Schulter fieberhaft zuflüstert: Geliebter, wie zerstörerisch du mich willst, wie zerstörerisch!“ Und kein barfüßiger kleiner Junge, „der dem Untergang geweiht beharrlich über die Sandbank rennt“.
Vergesst Alice, vergesst David, vergesst den kleinen Jungen! Der Schleier des Vergessens soll sich über sie legen, über ihre kleine Stadt, über die Lavendelfelder, die dem Auge wehtun, über die schwatzhafte Mademoiselle Blanche, den lahmen Hirten und den alten Mercedes der idiotischen Nachbarn. Der Zauberspiegel der langbeinigen Beatrice, in dem sie sich nach der intimen Begegnung mit dem mürrischen Postboten so gerne betrachtete, soll zustauben. Der Glockenturm der alten Kirche auf dem Hügel soll mit Moos überwuchern. Und der felsige Weg, auf dem die zitternde Marie in ihrem zerrissenen Kleid an jenem denkwürdigen Morgen stand, soll sich auf ewig im Nichts verlieren ... Vergesst die vergangenen literarischen Siege.
Das Wichtigste ist, sich selbst zum Staunen zu bringen. Jener erste Leser, der in euch sitzt, muss den Mund aufsperren und stammeln: „Also so etwas hätte ich von dir nicht erwartet, Alter.“ Dabei geht es gar nicht um diesen Leser ... Es ist einfach ausgesprochen angenehm, Entdeckungen zu machen.
Aber nur zu schreiben, weil du es kannst, weil man ein neues Buch von dir erwartet, weil du Geld verdienen musst, verdammt, schließlich will deine Frau schon lange ein neues Auto haben, das alte ist nur noch Schrott, schon seit damals, als du deinen zweiten Roman geschrieben hast, und ihr wolltet doch nach Brasilien fahren, da warst du noch nie, und es ist doch so interessant! Dabei hast du gerade ein tolles Thema, der Verlag begreift das, muss das begreifen, verdammt, ein tolles Thema, ein Familiendrama, er ist Manager, mittlerer Kader, sie ist Staatsangestellte, sie sitzen am Morgen mit ihren iPads im Bett, abends liegt auch jeder mit seinem Tablet im Bett, sie haben nur einmal die Woche Sex, sie ist erschöpft von der Routine des Lebens, ihr Mann hat sich in einen Roboter verwandelt, jedes Mal, wenn sie zur Arbeit geht, kommt sie an einem jungen Obdachlosen vorbei, der unter der Brücke auf einer schmutzigen Decke hockt, jeden Morgen, jeden Morgen sieht sie das blasse, teilnahmslose Gesicht dieses Obdachlosen, ein junges Gesicht, ein interessantes Gesicht, ein rätselhaftes Gesicht, und eines Tages, als ihr Mann auf einer Dienstreise ist, lädt sie den Obdachlosen ein, und es entspinnt sich eine Affäre, der Obdachlose kommt aus Nordafrika, seine Familie wurde ermordet, ihm fehlt ein Bein, nein, das ist zu viel, ihm fehlen drei Finger an der rechten Hand, der Sex mit ihm ist überwältigend, wilder Sex mit einem schmutzigen Menschen aus einem anderen Jahrtausend, es ist etwas Überwältigendes, Ungeheures, aber sie braucht es, sie entdeckt den Mann für sich, sie entdeckt die Liebe, entdeckt endlich die Frau in sich, ein ganz neues Gefühl, ein erstaunliches Gefühl, ein überwältigendes Gefühl, sie wirft alles hin und fährt mit ihm nach Afrika, hilft den hungernden, kranken afrikanischen Kindern, er wiederum hilft ihr, den Kindern zu helfen, wofür die lokale Mafia ihn verprügelt, dann wird sie krank, eine schreckliche Krankheit, sie muss zur Behandlung nach Europa, er bekommt keine Einreisegenehmigung, eine herzzerreißende Szene im Krankenhaus, die Glaswand der Infektionsabteilung, sein Gesicht, gegen die Scheibe gepresst, die Tränen in seinen Augen, die sonst nie weinen, er folgt ihr mit seinen Blicken und schenkt ihr zum Abschied ein Amulett seiner Familie: die kleine Figur eines fünfbeinigen Leoparden ...
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Alter, das ist ein gutes Thema, das muss einfach etwas werden. Das wird schon, das wird schon, keine Bedenken! Alles wird gut, und alle sind zufrieden: der Verleger, der Leser, die Ehefrau. Zum Teufel damit! Zum Teufel mit dem neuen Auto für die Frau. Zum Teufel mit Brasilien. Man darf die Literatur nicht zu einem weichen Sessel machen. Oder zu einer kastrierten Katze.
Besser einen echten weichen Sessel kaufen, sich mit einer Flasche Bier hineinsetzen, die kastrierte Katze auf den Schoß nehmen und in die Glotze starren. Schreiben muss man dabei gar nicht unbedingt. Wenn du es lassen kannst, schlecht zu schreiben, dann lass es. Schreib nicht schlecht! Das hört sich absurd an, nicht wahr? Aber ich habe Schriftsteller erlebt, die mir sagten: Es ist ein neuer Roman von mir erschienen. Alter, du brauchst ihn nicht zu lesen, der Roman ist schlecht.
Das klingt furchtbar. Und der Mann verstellt sich offenbar nicht, das ist keine Pose. Er weiß, dass er einen schlechten Roman geschrieben hat. Er wusste schon beim Schreiben, dass er einen Scheißroman schreibt.
Warum? Na ja, irgendwie muss man die Hände beschäftigen. Es ist eine Qual, nicht zu schreiben. Das stimmt. Nicht zu schreiben ist eine Qual. Wenn dich erst einmal diese Kugel aus nächster Nähe getroffen hat, ist es leichter zu schreiben, als nicht zu schreiben. Nicht zu schreiben ist eine Qual, eine echte Qual ...
Vor allem, wenn einem das Schreiben tatsächlich nicht gelingen will – wenn, wie man auf Russisch sagt, „es sich nicht schreibt“.
Eines Tages, während einer längeren Schaffenspause, fuhr ich nach einem geselligen Abend stark angetrunken nach Hause. Unterwegs im Taxi kam mir eine großartige Idee für einen neuen Roman, die mein benebeltes Gehirn wie ein Blitz erhellte. Die quälenden Monate des Wartens hatten eine Ende! Ich stürzte in die Wohnung, setzte mich noch im Mantel an die Schreibmaschine (es war noch im Vor-Computer-Zeitalter) und tippte drei Seiten von meinem künftigen Roman. Hurra! Es war vollbracht!
Zufrieden ließ ich mich ins Bett fallen. Beim Aufwachen fiel es mir wieder ein, ich las mir durch, was ich geschrieben hatte – und zerriss es, warf es in den Papierkorb. Seither schreibe ich nicht mehr in betrunkenem Zustand, weder, wenn das Schreiben gut läuft, noch, wenn es nicht läuft.
Was hilft einem, nicht zu schreiben? Drogen? Zum Glück ist die Literatur viel stärker als Heroin, Kokain und LSD. Unsere Droge – die Literatur – kennt nichts Vergleichbares, sie ist konkurrenzlos. Und trotzdem: Wie soll man diesen Zustand ertragen, wenn es einfach nicht läuft – wenn „es sich nicht schreibt“? Das Archiv aufräumen? Sport treiben? Eine Affäre mit einem Obdachlosen beginnen? Auf Weltreise gehen?
Aber auch all das hat irgendwann ein Ende. Und dann bist du wieder zu Hause, du setzt dich an den Schreibtisch, voller neuer Erlebnisse und Eindrücke, du legst die Finger auf die Tastatur ... und erstarrst. Es läuft einfach nicht, „es schreibt sich nicht”.
Vermutlich hat jeder Schriftsteller sein eigenes Rezept im Kampf gegen die Schreibblockade. Ich zum Beispiel spiele mit meinem Schachcomputer. Das kann man dann auch beschreiben.
Zum Beispiel so: An einem schwülen Tokioter Maiabend, als die Zikaden völlig durchdrehten und die untergehende Sonne einen Abschiedsstrahl zum Isetan-Gebäude schickte, bewahrte mich mein Schachcomputer Mephisto vor einer schweren Verstümmelung.
Und das ist die Wahrheit. Vor etwa zehn Jahren war ich auf Einladung der Gaigo-Universität in Tokio und wohnte dort auf dem Mini-Campus der Universität in Kichijoji, einer grünen, einstöckigen Vorstadt. Die Fenster meines kleinen zweistöckigen Häuschens gingen auf einen winzigen Garten, in dem der Schneemann, den ich später, im Winter, aus dem schnell und stetig fallenden und nicht weniger schnell und stetig schmelzenden Schnee formte, so gerade eben Platz fand.
Es war mein erster Abend im Land der aufgehenden Sonne. Meinen letzten Roman hatte ich ein halbes Jahr zuvor beendet, der Anfang für einen neuen Roman wollte mir einfach nicht gelingen. Blieb nur das Schachspiel mit dem „eisernen Partner“. Ich glaube, wir spielten Königsgambit, als plötzlich alles zu zittern anfing, drinnen genauso wie draußen.
Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich ein Erdbeben: Die Ziegeldächer der kleinen Nachbarhäuser fingen an zu schwanken wie abfahrende Boote zu Zeiten von Bushido, Ninjutsu und Basho. In den ersten Sekunden: Panik. Wahrscheinlich ist das die „Geworfenheit ins Nichts“, von der Kierkegaard spricht. Die verehrten Professoren der Gaigo-Universität waren noch nicht dazu gekommen, den Gast aus dem unbeweglichen Russland zu warnen, dass in Japan regelmäßig die Erde bebt, dreimal im Monat bestimmt.
Mein Kopf begann fieberhaft zu arbeiten: versuchen, die schmale Wendeltreppe hinunterzusteigen, oder vom ersten Stock aus dem Fenster springen? Das Beben dauerte an. Unten klirrte das Geschirr. Ich beschloss: Kopf voran aus dem Fenster! In dem Moment piepste der Computer, und ich schielte instinktiv auf den Bildschirm: Die Dame von d8 nach f6.
Dieser Moment war ausreichend, damit ich zu mir kam. Beim Anblick des Schachbretts musste ich an Ausdauer denken. Ich hielt inne: Ich werde einen Moment warten. Und das Beben hörte auf. Wenn der Computer nicht gepiepst hätte, wäre ich aus dem Fenster gesprungen. Dass es ein Schachcomputer war, ist nicht von Belang. Der Vorfall aber ist symbolisch: Dem Menschen hat sich ein Freund und Helfer für das nächste Jahrhundert angekündigt.
Notebooks in Japan können heute nicht nur vor Erdstößen warnen. Sie können vor vielem warnen, vor vielem bewahren. Bei vielem helfen. Dir ihre eiserne Hand reichen. Oder eine faserige Gehirnwindung. Die „globale Informationswolke“ hüllt dich nicht nur ein, sie will du werden. Es ist gar nicht mehr nötig, Newtons Binomisches Theorem im Kopf zu behalten, wenn man es jederzeit auf der Oberfläche des Augapfels, die früher oder später zu einem Monitor werden wird, abrufen kann. Genau so wie man Informationen über den Trojanischen Krieg abrufen kann, das Gebet „Herr, ich suche Zuflucht bei dir“, die Wechselkurse asiatischer Währungen, den Trailer einer Neuverfilmung von „Doktor Schiwago“, das Kursangebot im Fitnesszentrum Vita Nova, die Immobilienpreise in Albanien oder den vierteljährlichen Kontoauszug.
Nun frage ich mich: War es gut, dass der Computer mir geholfen hat? Bist du nicht froh, dass wir dich damals gerettet haben? fragt das Elektronische Weltgehirn im Gegenzug. Doch. Aber ich bin nicht froh über die ständig zunehmende Abhängigkeit von dir. Was würdet du ohne mich tun? Du weißt so wenig. Und was du weißt, vergisst du. Du hilfst mir dabei. Ich mache dein Leben bequemer. Indem du mich träger und unbeweglicher machst. Ich spare dir Zeit. Damit ich sie für dich ausgeben kann. Versteh doch, heutzutage geht ohne mich gar nichts mehr. Es wird Zeit, sich daran zu gewöhnen.
Das will ich nicht. Dann zwingen wir dich. Wie Stalin mit der Kollektivierung? Du musst Schritt halten mit der Zeit. Und ich helfe dir dabei. Wie Kraftwerk, die auf Russisch gesungen haben: Ich bin dein Diener, ich bin dein Knecht. Ein Diener, der immer aktiver und immer unverschämter in meinen Körper eindringt. Und was ist daran schlecht? Du wirst zum Übermenschen! Indem ich aufhöre, ein Mensch zu sein. Die Symbiose ist unvermeidlich. Finde dich damit ab, stolzer Mensch! Finsternis.
Ein Blitz durchzuckt die globale Informationswolke. Es donnert. Die Zikaden sind verstummt. Mephisto hat mich in sechs Zügen mattgesetzt. Ich lege meinen König in die Mitte des Schachbretts. Schlendere nach unten, Kaffee kochen. Vielleicht wäre es tatsächlich besser gewesen, aus dem Fenster zu springen? Und schon ist eine Erzählung dabei herausgekommen. Die Pause ist zu Ende.
Was hat geholfen: der Computer, das Schachspiel oder das Erdbeben? Kurz und gut, wenn Sie schreiben können, dann schreiben Sie!
Wenn ein Schriftsteller das Schreiben freiwillig lassen kann – dann ist er kein Schriftsteller. Dann hat er die Literatur gewählt, und nicht sie ihn. Er hat abgewogen, sich entschieden und eine rationale Wahl getroffen. Aber das ist eine Täuschung. Die „durchdachte, wohlüberlegte Wahl des Berufs Schriftsteller“ gibt es nicht. Wer sich bewusst dafür entscheidet, wird das Heer der Graphomanen vergrößern.
Der Philosoph José Ortega y Gasset bezeichnete das Leben als einen Schuss aus nächster Nähe. Im Grunde scheint auch der physiologische Akt der menschlichen Geburt wie ein Schuss zu sein. Der Vater schießt sein Sperma in die Mutter. Nach neun Monaten schießt die Mutter das Kind in die Welt. Aus nächster Nähe.
Auch die Literatur ist ein Schuss aus nächster Nähe. Allerdings ist es hier die Welt, die auf dich schießt. Du erwartest diesen Schuss überhaupt nicht, du hörst nicht einmal den Knall. Doch du spürst die Kugel in dir. Eine schwere Kugel. Ein Explosivgeschoss, das schon viele getroffen hat. Du bist verwundet. Du empfindest Schmerz und Unbehagen. Du beginnst zu bluten. Kein rotes Blut, sondern schwarzes, schnörkeliges Blut, das aus Buchstaben besteht.
Die ersten Tropfen finden das Papier von allein. Und du beobachtest erstaunt, wie diese ersten Tropfen fallen und sich in wundervolle Kleckse verwandeln. Wie schön ihre Konturen sind! Sie sind nicht schwarz, sie glänzen in allen Farben des Regenbogens, sie schillern, sie füllen die Fläche aus. Du bist verzaubert von dieser Metamorphose. Du hast nie zuvor etwas Ähnliches gesehen oder erlebt. Noch mehr Tropfen, immer mehr.
Sie verschmelzen zu ganzen Welten, lassen dich erstarren vor Begeisterung. Mehr und mehr Tropfen fließen aus deiner Wunde. Und endlich sprudelt dieses magische literarische Blut wie ein Strom aus dir hervor. Du vergisst die Wunde und blickst auf die phantastischen Welten, in die sich jeder dieser Tropfen verwandelt. Sie erheben sich auf deinem Schreibtisch. In der Wohnung ist es still. Du schaust dir an, was du hervorgebracht hast und was nun parallel zu der Welt existiert, in der du lebst. Es türmt sich ringsum, es wächst und formiert sich. Es ist sich selbst genug.
Und erst jetzt, wenn das erste Blut vergossen ist, musst du eine Wahl treffen. Das ist keineswegs die Wahl des Berufs. Du musst wählen, wie du damit weiterleben sollst. Diese Wahl umfasst tausend Kleinigkeiten. In deinem Leben wird sich vieles ändern. Unumkehrbar. Für immer und ewig. So richtig wirst du dich nie an dieses neue Gefühl gewöhnen. Und wenn du dich daran gewöhnst, heißt das, deine Wunde vernarbt allmählich und du wirst zu einem gewöhnlichen Literaturarbeiter.
Kein gewöhnlicher Literarbeiter? Der russische Romanautor Vladimir Sorokin
Der Philosoph Lew Schestow sagte einmal: „Ein Schriftsteller stirbt, wenn er seinen eigenen Stil entwickelt hat.“ Nein, er stirbt nicht. Er ist einfach nur zum Profi geworden. Ein ausgeprägter Stil ist der Versuch, den Strom des literarischen Bluts in die „richtigen“ Bahnen zu lenken. Darüber sind Tausende Schriftsteller gestolpert. Sie haben gelernt, mit ihrer Wunde so zurechtzukommen, dass sie rechtzeitig und in die richtige Richtung blutet.
Kaufen Sie literarische Wundauflagen der Marke „Erfolg“! Garantiert absolut trockener Stil und bequeme Lektüre! Tausende Schriftsteller schreiben in aller Ruhe ihr Leben lang ein und dasselbe Buch. Sie haben sich dafür entschieden. Sie sind berühmt, sie haben Tausende Leser, die auf ihre neuen Bücher warten. Die Leser wissen, was sie von diesen Schriftstellern zu erwarten haben. Die Schriftsteller wissen längst, was sie von sich zu erwarten haben. Der Verleger weiß erst recht, was er von einem solchen Schriftsteller zu erwarten hat. Und wartet, wie niemand sonst!
Er gibt ihm den weisen Ratschlag: Lieber Freund, mindestens alle zwei Jahre einen Roman. Dann ist alles gut – für dich, für mich und für den Leser. Sehr weise! Die meisten Profi-Schriftsteller beherzigen die Ratschläge ihrer Verleger. Sie bekommen gute Honorare, sie bekommen Preise, sie werden in Akademien aufgenommen. Sie sind wirkliche Profis. Kein einziger Tropfen literarischen Bluts spritzt ihnen zufällig aus den Wunden. Sie haben zu Hause saubere Fußböden. Die Wundauflagen der Marke „Erfolg“ sind bei jedem Wetter absolut zuverlässig. Depression oder Suff haben keinen Einfluss auf ihre Qualität. Die Profis haben sich mit Wundauflagen eingedeckt und bewahren ihren Vorrat an einem trockenen Ort auf.
Ich denke, man sollte diese superzuverlässigen Wundauflagen besser nicht benutzen. Man sollte sie nehmen und in den Mülleimer werfen. Und die Wunde nicht verheilen lassen. Im Gegenteil – man sollte täglich mit den Fingernägeln daran kratzen. Euer literarisches Blut soll in alle Richtungen spritzen. Frau, Kinder und Katze sollen schaudernd zurückweichen. Der Verleger soll schaudernd zurückweichen. Auf den Blutstropfen sollen die Regenbogen der Unvorhersehbarkeit schillern.
Das ist der Sieg über den „ausgeprägten Stil“. Es wird einen neuen Stil geben. Und einen neuen Verleger. Und überhaupt, ist es nicht besser, den nächsten Roman zu beginnen, als sei es der erste? Dieses Gefühl ist mit nichts zu vergleichen. Zuvor aber muss man reinen Tisch machen mit dem, was man zuvor erreicht hat.
Entzündet ein loderndes Feuer im Kamin. Nehmt den Roman, der schon erschienen ist, den die Kritiker schon gewürdigt haben, und werft ihn ins Feuer. Zusammen mit den lobenden Rezensionen. Bücher brennen bekanntlich langsam. Während der Roman in Flammen aufgeht, umringen euch seine Helden, mit denen ihr das ganze vergangene Jahr verbracht, an die ihr euch so gewöhnt habt! Deren Schwächen, deren Tugenden und deren Laster euch so wohlbekannt sind! Sie sind euch nah und vertraut, sie strecken ihre durchsichtigen Arme nach euch aus. Weicht ihrer Umarmung mit einem höflichen Lächeln aus und setzt eure Helden mit einem kräftigen Tritt vor die Tür! Vergesst sie ein für allemal! Ihr solltet euch nicht auf die „gesammelte Erfahrung des Literaten“ stützen. Kein „blutiger Mond, der sich in einer von Schrapnell zerfetzten Lärche verfangen hat“, keine „Alice, die als Hexe störrisch auf dem Scheiterhaufen verbrennt und Davids tätowierter Schulter fieberhaft zuflüstert: Geliebter, wie zerstörerisch du mich willst, wie zerstörerisch!“ Und kein barfüßiger kleiner Junge, „der dem Untergang geweiht beharrlich über die Sandbank rennt“.
Vergesst Alice, vergesst David, vergesst den kleinen Jungen! Der Schleier des Vergessens soll sich über sie legen, über ihre kleine Stadt, über die Lavendelfelder, die dem Auge wehtun, über die schwatzhafte Mademoiselle Blanche, den lahmen Hirten und den alten Mercedes der idiotischen Nachbarn. Der Zauberspiegel der langbeinigen Beatrice, in dem sie sich nach der intimen Begegnung mit dem mürrischen Postboten so gerne betrachtete, soll zustauben. Der Glockenturm der alten Kirche auf dem Hügel soll mit Moos überwuchern. Und der felsige Weg, auf dem die zitternde Marie in ihrem zerrissenen Kleid an jenem denkwürdigen Morgen stand, soll sich auf ewig im Nichts verlieren ... Vergesst die vergangenen literarischen Siege.
Das Wichtigste ist, sich selbst zum Staunen zu bringen. Jener erste Leser, der in euch sitzt, muss den Mund aufsperren und stammeln: „Also so etwas hätte ich von dir nicht erwartet, Alter.“ Dabei geht es gar nicht um diesen Leser ... Es ist einfach ausgesprochen angenehm, Entdeckungen zu machen.
Aber nur zu schreiben, weil du es kannst, weil man ein neues Buch von dir erwartet, weil du Geld verdienen musst, verdammt, schließlich will deine Frau schon lange ein neues Auto haben, das alte ist nur noch Schrott, schon seit damals, als du deinen zweiten Roman geschrieben hast, und ihr wolltet doch nach Brasilien fahren, da warst du noch nie, und es ist doch so interessant! Dabei hast du gerade ein tolles Thema, der Verlag begreift das, muss das begreifen, verdammt, ein tolles Thema, ein Familiendrama, er ist Manager, mittlerer Kader, sie ist Staatsangestellte, sie sitzen am Morgen mit ihren iPads im Bett, abends liegt auch jeder mit seinem Tablet im Bett, sie haben nur einmal die Woche Sex, sie ist erschöpft von der Routine des Lebens, ihr Mann hat sich in einen Roboter verwandelt, jedes Mal, wenn sie zur Arbeit geht, kommt sie an einem jungen Obdachlosen vorbei, der unter der Brücke auf einer schmutzigen Decke hockt, jeden Morgen, jeden Morgen sieht sie das blasse, teilnahmslose Gesicht dieses Obdachlosen, ein junges Gesicht, ein interessantes Gesicht, ein rätselhaftes Gesicht, und eines Tages, als ihr Mann auf einer Dienstreise ist, lädt sie den Obdachlosen ein, und es entspinnt sich eine Affäre, der Obdachlose kommt aus Nordafrika, seine Familie wurde ermordet, ihm fehlt ein Bein, nein, das ist zu viel, ihm fehlen drei Finger an der rechten Hand, der Sex mit ihm ist überwältigend, wilder Sex mit einem schmutzigen Menschen aus einem anderen Jahrtausend, es ist etwas Überwältigendes, Ungeheures, aber sie braucht es, sie entdeckt den Mann für sich, sie entdeckt die Liebe, entdeckt endlich die Frau in sich, ein ganz neues Gefühl, ein erstaunliches Gefühl, ein überwältigendes Gefühl, sie wirft alles hin und fährt mit ihm nach Afrika, hilft den hungernden, kranken afrikanischen Kindern, er wiederum hilft ihr, den Kindern zu helfen, wofür die lokale Mafia ihn verprügelt, dann wird sie krank, eine schreckliche Krankheit, sie muss zur Behandlung nach Europa, er bekommt keine Einreisegenehmigung, eine herzzerreißende Szene im Krankenhaus, die Glaswand der Infektionsabteilung, sein Gesicht, gegen die Scheibe gepresst, die Tränen in seinen Augen, die sonst nie weinen, er folgt ihr mit seinen Blicken und schenkt ihr zum Abschied ein Amulett seiner Familie: die kleine Figur eines fünfbeinigen Leoparden ...
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[seitenumbruch]
Alter, das ist ein gutes Thema, das muss einfach etwas werden. Das wird schon, das wird schon, keine Bedenken! Alles wird gut, und alle sind zufrieden: der Verleger, der Leser, die Ehefrau. Zum Teufel damit! Zum Teufel mit dem neuen Auto für die Frau. Zum Teufel mit Brasilien. Man darf die Literatur nicht zu einem weichen Sessel machen. Oder zu einer kastrierten Katze.
Besser einen echten weichen Sessel kaufen, sich mit einer Flasche Bier hineinsetzen, die kastrierte Katze auf den Schoß nehmen und in die Glotze starren. Schreiben muss man dabei gar nicht unbedingt. Wenn du es lassen kannst, schlecht zu schreiben, dann lass es. Schreib nicht schlecht! Das hört sich absurd an, nicht wahr? Aber ich habe Schriftsteller erlebt, die mir sagten: Es ist ein neuer Roman von mir erschienen. Alter, du brauchst ihn nicht zu lesen, der Roman ist schlecht.
Das klingt furchtbar. Und der Mann verstellt sich offenbar nicht, das ist keine Pose. Er weiß, dass er einen schlechten Roman geschrieben hat. Er wusste schon beim Schreiben, dass er einen Scheißroman schreibt.
Warum? Na ja, irgendwie muss man die Hände beschäftigen. Es ist eine Qual, nicht zu schreiben. Das stimmt. Nicht zu schreiben ist eine Qual. Wenn dich erst einmal diese Kugel aus nächster Nähe getroffen hat, ist es leichter zu schreiben, als nicht zu schreiben. Nicht zu schreiben ist eine Qual, eine echte Qual ...
Vor allem, wenn einem das Schreiben tatsächlich nicht gelingen will – wenn, wie man auf Russisch sagt, „es sich nicht schreibt“.
Eines Tages, während einer längeren Schaffenspause, fuhr ich nach einem geselligen Abend stark angetrunken nach Hause. Unterwegs im Taxi kam mir eine großartige Idee für einen neuen Roman, die mein benebeltes Gehirn wie ein Blitz erhellte. Die quälenden Monate des Wartens hatten eine Ende! Ich stürzte in die Wohnung, setzte mich noch im Mantel an die Schreibmaschine (es war noch im Vor-Computer-Zeitalter) und tippte drei Seiten von meinem künftigen Roman. Hurra! Es war vollbracht!
Zufrieden ließ ich mich ins Bett fallen. Beim Aufwachen fiel es mir wieder ein, ich las mir durch, was ich geschrieben hatte – und zerriss es, warf es in den Papierkorb. Seither schreibe ich nicht mehr in betrunkenem Zustand, weder, wenn das Schreiben gut läuft, noch, wenn es nicht läuft.
Was hilft einem, nicht zu schreiben? Drogen? Zum Glück ist die Literatur viel stärker als Heroin, Kokain und LSD. Unsere Droge – die Literatur – kennt nichts Vergleichbares, sie ist konkurrenzlos. Und trotzdem: Wie soll man diesen Zustand ertragen, wenn es einfach nicht läuft – wenn „es sich nicht schreibt“? Das Archiv aufräumen? Sport treiben? Eine Affäre mit einem Obdachlosen beginnen? Auf Weltreise gehen?
Aber auch all das hat irgendwann ein Ende. Und dann bist du wieder zu Hause, du setzt dich an den Schreibtisch, voller neuer Erlebnisse und Eindrücke, du legst die Finger auf die Tastatur ... und erstarrst. Es läuft einfach nicht, „es schreibt sich nicht”.
Vermutlich hat jeder Schriftsteller sein eigenes Rezept im Kampf gegen die Schreibblockade. Ich zum Beispiel spiele mit meinem Schachcomputer. Das kann man dann auch beschreiben.
Zum Beispiel so: An einem schwülen Tokioter Maiabend, als die Zikaden völlig durchdrehten und die untergehende Sonne einen Abschiedsstrahl zum Isetan-Gebäude schickte, bewahrte mich mein Schachcomputer Mephisto vor einer schweren Verstümmelung.
Und das ist die Wahrheit. Vor etwa zehn Jahren war ich auf Einladung der Gaigo-Universität in Tokio und wohnte dort auf dem Mini-Campus der Universität in Kichijoji, einer grünen, einstöckigen Vorstadt. Die Fenster meines kleinen zweistöckigen Häuschens gingen auf einen winzigen Garten, in dem der Schneemann, den ich später, im Winter, aus dem schnell und stetig fallenden und nicht weniger schnell und stetig schmelzenden Schnee formte, so gerade eben Platz fand.
Es war mein erster Abend im Land der aufgehenden Sonne. Meinen letzten Roman hatte ich ein halbes Jahr zuvor beendet, der Anfang für einen neuen Roman wollte mir einfach nicht gelingen. Blieb nur das Schachspiel mit dem „eisernen Partner“. Ich glaube, wir spielten Königsgambit, als plötzlich alles zu zittern anfing, drinnen genauso wie draußen.
Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich ein Erdbeben: Die Ziegeldächer der kleinen Nachbarhäuser fingen an zu schwanken wie abfahrende Boote zu Zeiten von Bushido, Ninjutsu und Basho. In den ersten Sekunden: Panik. Wahrscheinlich ist das die „Geworfenheit ins Nichts“, von der Kierkegaard spricht. Die verehrten Professoren der Gaigo-Universität waren noch nicht dazu gekommen, den Gast aus dem unbeweglichen Russland zu warnen, dass in Japan regelmäßig die Erde bebt, dreimal im Monat bestimmt.
Mein Kopf begann fieberhaft zu arbeiten: versuchen, die schmale Wendeltreppe hinunterzusteigen, oder vom ersten Stock aus dem Fenster springen? Das Beben dauerte an. Unten klirrte das Geschirr. Ich beschloss: Kopf voran aus dem Fenster! In dem Moment piepste der Computer, und ich schielte instinktiv auf den Bildschirm: Die Dame von d8 nach f6.
Dieser Moment war ausreichend, damit ich zu mir kam. Beim Anblick des Schachbretts musste ich an Ausdauer denken. Ich hielt inne: Ich werde einen Moment warten. Und das Beben hörte auf. Wenn der Computer nicht gepiepst hätte, wäre ich aus dem Fenster gesprungen. Dass es ein Schachcomputer war, ist nicht von Belang. Der Vorfall aber ist symbolisch: Dem Menschen hat sich ein Freund und Helfer für das nächste Jahrhundert angekündigt.
Notebooks in Japan können heute nicht nur vor Erdstößen warnen. Sie können vor vielem warnen, vor vielem bewahren. Bei vielem helfen. Dir ihre eiserne Hand reichen. Oder eine faserige Gehirnwindung. Die „globale Informationswolke“ hüllt dich nicht nur ein, sie will du werden. Es ist gar nicht mehr nötig, Newtons Binomisches Theorem im Kopf zu behalten, wenn man es jederzeit auf der Oberfläche des Augapfels, die früher oder später zu einem Monitor werden wird, abrufen kann. Genau so wie man Informationen über den Trojanischen Krieg abrufen kann, das Gebet „Herr, ich suche Zuflucht bei dir“, die Wechselkurse asiatischer Währungen, den Trailer einer Neuverfilmung von „Doktor Schiwago“, das Kursangebot im Fitnesszentrum Vita Nova, die Immobilienpreise in Albanien oder den vierteljährlichen Kontoauszug.
Nun frage ich mich: War es gut, dass der Computer mir geholfen hat? Bist du nicht froh, dass wir dich damals gerettet haben? fragt das Elektronische Weltgehirn im Gegenzug. Doch. Aber ich bin nicht froh über die ständig zunehmende Abhängigkeit von dir. Was würdet du ohne mich tun? Du weißt so wenig. Und was du weißt, vergisst du. Du hilfst mir dabei. Ich mache dein Leben bequemer. Indem du mich träger und unbeweglicher machst. Ich spare dir Zeit. Damit ich sie für dich ausgeben kann. Versteh doch, heutzutage geht ohne mich gar nichts mehr. Es wird Zeit, sich daran zu gewöhnen.
Das will ich nicht. Dann zwingen wir dich. Wie Stalin mit der Kollektivierung? Du musst Schritt halten mit der Zeit. Und ich helfe dir dabei. Wie Kraftwerk, die auf Russisch gesungen haben: Ich bin dein Diener, ich bin dein Knecht. Ein Diener, der immer aktiver und immer unverschämter in meinen Körper eindringt. Und was ist daran schlecht? Du wirst zum Übermenschen! Indem ich aufhöre, ein Mensch zu sein. Die Symbiose ist unvermeidlich. Finde dich damit ab, stolzer Mensch! Finsternis.
Ein Blitz durchzuckt die globale Informationswolke. Es donnert. Die Zikaden sind verstummt. Mephisto hat mich in sechs Zügen mattgesetzt. Ich lege meinen König in die Mitte des Schachbretts. Schlendere nach unten, Kaffee kochen. Vielleicht wäre es tatsächlich besser gewesen, aus dem Fenster zu springen? Und schon ist eine Erzählung dabei herausgekommen. Die Pause ist zu Ende.
Was hat geholfen: der Computer, das Schachspiel oder das Erdbeben? Kurz und gut, wenn Sie schreiben können, dann schreiben Sie!