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Im Sog des Schauens

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Einmal steht der Vollmond, riesig und unwirklich schön, über dem Lichtermeer von Los Angeles. Doch der Moloch schläft natürlich nicht, unablässig pumpen Sehnsucht und Gier und Geschäftigkeit durch seine Lebensadern, die Freeways. Und am Straßenrand lauert Louis in seinem alten Auto, hellwach, bereit für eine neue, wahnsinnige Nacht.

Immer wieder quäkt sein Amateurfunkgerät: Frauenstimmen nennen Straßenkreuzungen und Hausnummern und kryptische Codes. 390 bringt gar nichts, das ist nur ein Betrunkener; 415 genauso wenig, das bedeutet Ruhestörung. Louis wartet auf die 211, bewaffneten Raubüberfall, auf die 245, Angriff mit einer tödlichen Waffe, oder auf 246, Schüsse in einem Anwesen. Sein Hauptgewinn aber wäre die Codenummer 187: Mord.

Der Mann ist ein „Nightcrawler“. Einer der Jäger des Grauens, die Nacht für Nacht den Polizeifunk abhören, um möglichst blutige Videobilder für die Lokalnachrichten am nächsten Morgen einzufangen. Und obwohl es dieses Geschäft im Flackern der Warnleuchten schon lange gibt und der Wettbewerb hart ist, scheint es doch auf einen wie Louis gewartet zu haben – einen Mann aus dem Nichts, scheinbar ohne Eltern und Freunde und überhaupt ohne menschlichen Kontakt, einen Gelegenheitsdieb und Überlebenskünstler, direkt von der Straße und bereit, wirklich alles für den Erfolg zu tun.



Wie eine Hyäne der Großstadt: Jake Gyllenhaal (re.) in "Nightcrawler"

Jake Gyllenhaal spielt diesen jungen Mann als bizarre Variation des Selfmade-Unternehmers. Eine unvergessliche Performance: Der Körper abgemagert, das Gesicht schmal, die Haare zurückgegelt. Er wirkt beinah wie ein Geist aus Stummfilmzeiten, bis hinein in die Körpersprache, man denkt an einen Wolf. Oder an eine Hyäne, was noch passender wäre. Denn er reißt das Wild ja nicht selbst, er ist ein Aasfresser, vor stärkeren Kräften duckt er sich weg. Und über Leichen geht er nur, wenn die Gelegenheit günstig ist.

Mit diesem Typen, den man doch mit etwas Grausen betrachtet, inszeniert der Regisseur Dan Gilroy nun eine klassische Aufstiegsgeschichte. Gilroy kommt vom Drehbuchschreiben, mit seinem Bruder Tony hat er zum Beispiel an der „Bourne“-Serie gearbeitet. Dies ist sein Regiedebüt, aber das merkt man nicht. Das Spiel mit den dunkelsten Impulsen des Erfolgswillens und mit dem Sog des Voyeurismus, auf das er sich da einlässt, hat er vollkommen unter Kontrolle.

Und das Erstaunliche ist: Die klassische amerikanische Aufstiegsgeschichte funktioniert selbst mit diesem gespenstischen Helden. Louis tauscht ein gestohlenes Fahrrad gegen eine Videokamera und studiert die Polizeicodes der LAPD. Okay, der tut wenigstens was, denkt man. Er geht näher ran als alle anderen, während ein Angeschossener in seinem Blut zuckt. Klar, er zeigt Initiative. Ein Sender nimmt seine Bilder und nicht die der Konkurrenz – na also, der Einstieg ist geschafft.

Bald heuert Louis einen Beifahrer an, der für ihn navigiert, bald hat er eine bessere Kamera und ein viel schnelleres Auto, und beim Verhandeln mit der Fernsehproduzentin Nina, die seine Bilder kauft und doppelt so alt ist wie er (Rene Russo, in einem tollen und mutigen Wiedereinstieg ins Filmgeschäft), wird er erst beruflich und dann auch privat immer härter. „Ich lerne schnell“, sagt er zu ihr. Was ausnahmsweise die reine Wahrheit ist.

In der Art, wie „Nightcrawler“ die Sensationsgier und Doppelmoral des amerikanischen Lokalfernsehens überspitzt, ist der Film eine moralisch angehauchte Mediensatire. „Stell dir den Aufmacher als eine schreiende Frau vor, die mit durchschnittener Kehle die Straße herunterläuft“, sagt Nina einmal zu Louis, völlig im Ernst. Solche Medienkritik gibt es allerdings im Dutzend billiger, das ist hier noch nicht der Kern der Sache.

In der Art, wie Louis ständig Erfolgsformeln aufsagt, die er auf Webseiten zur perfekten Unternehmensführung oder in Selbsthilfe-Ratgebern studiert hat, distanziert sich der Film auch geschickt vom Pathos einer Erfolgsgeschichte. Dieser gelehrige Schüler des amerikanischen Traums, der sich als völliger Soziopath entpuppt, nimmt all das Gerede vom Bessersein, vom Gasgeben, vom Dranbleiben nämlich tödlich ernst. Und einem Konkurrenten, der dem eigenen Geschäft zu sehr schadet, schneidet er dann kurzerhand die Bremsschläuche durch.

Auch das ist wichtig, aber es ist noch nicht der entscheidende Moment. Der kommt in jener Nacht, als ein Hilferuf aus dem Funkgerät quäkt und Louis sogar vor den Polizeistreifen am Tatort ist. Drinnen in der Villa wird noch geschossen, doch der Bilderjäger hockt schon im Gebüsch. Er filmt, wie die Täter herauskommen und davonfahren. Dann geht er, die Kamera auf der Schulter, selbst da rein – ohne eine Sekunde des Zögerns.

Das ist der Augenblick der Wahrheit, auch für uns Zuschauer. Wir sind dabei, mit seinen Augen. Aber wollen wir ihn, innerlich, aufhalten? Rufen wir ihm zu, die Kamera abzuschalten und den verschiedenen Opfern zu helfen, die gerade ihr Leben ausröcheln? Diese Bilder werden Louis’ Durchbruch sein, sie werden ihn in eine völlig andere Liga katapultieren – das spüren wir hier so unmittelbar wie das Pochen seines Herzschlags.
Und die Wette gilt: Welcher Zuschauer wird, wenn er sich überhaupt in diesen Film wagt, hier innerlich „Stop“ rufen? Wird nicht mitfiebern, mitjagen, mitglotzen, wird diesem dunklen Sog widerstehen, statt sich ihm lustvoll hinzugeben? Die Macht des Kinos und der Bilder ist groß, und sie zieht den Betrachter hier genau in die andere Richtung.

Eine Richtung allerdings, die niemandem ganz fremd sein dürfte. Was ist es denn, das uns langsamer fahren und angestrengt spähen lässt, wenn am Rand der Autobahn Blaulicht leuchtet und Blut geflossen ist? Es ist dieselbe Macht, viel älter als das Kino, die das Publikum früher zu den Richtplätzen und Scheiterhaufen trieb.

Alles Reden über Mediengewalt und Paparazzi-Wahnsinn hat diesen blinden Fleck der Selbsttäuschung. Denn wo wären diese Bilder, wenn niemand sie will? Und wer will sie überhaupt? Natürlich immer die anderen. Das Tolle an dem Film „Nightcrawler“ ist, dass er solche einfachen Ausflüchte nicht zulässt.

Nightcrawler, USA 2014 – Regie und Buch: Dan Gilroy. Kamera: Robert Elswit. Mit Jake Gyllenhaal, Rene Russo, Riz Ahmed. Concorde, 119 Min.

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